078 ** die letzte Schulwoche ** Mi. 18.12.2019
Noch am Samstag Abend hat mich Sebastian angebimmelt.
„Antoine hat mir getextet, dass er der Projektgruppe geschrieben hat, und dass in dem Brief was für mich ist ..."
„Ist es auch. Das ist ein zweiter Brief an uns beide. Ich lese dir den einfach vor."
Ich grabe in meiner Tasche nach dem Brief und schüttele den Umschlag aus. Ich falte das zweite Blatt auseinander. Dann lese ich laut vor.
Lieber Sebi, lieber Max!
Ich wollte das nicht an die große Glocke hängen, aber ich habe eine tolle Nachricht: ich darf an Weihnachten mittags für 24 Stunden raus und soll jetzt organisieren und plausibel begründen, wo ich Weihnachten feiern werde. Ich will NICHT zu meinen Eltern (das wäre auch zu weit). Und ich darf nicht alleine sein. Bleibt also übrig, dass ich bei einem Freund feiere und begründen kann, warum bei dem und keinem anderen. Da frage ich natürlich als erstes euch beide. Ich muss die Begründung spätestens nächsten Donnerstag abliefern und ein schriftliches Einverständnis von jemand Erwachsenem dazu.
Schafft Ihr das? Das wäre ganz klasse. Ich weiß, dass es bei Euch beiden auch nicht einfach ist, dass es vielleicht einfach nicht geht. Aber möglicherweise fällt Euch ja was ein. Danke, dass Ihr so treu für mich da seid.
Antoine
Sebastian schweigt einen Moment. Dann höre ich ihn erleichtert seufzen.
„Cool! Ich würde sofort hier schreien. Aber ich habe mit meinen Eltern verabredet, dass wir Weihnachten miteinander verbringen wollen. Das wird sowieso kitzlig, aber ob sie sich dann auch noch auf Antoine einlassen können ... keine Ahnung. Es soll für ihn ja auch schön sein und nicht krampfig."
Ich muss heimlich grinsen.
„Soso. Sebi. Klingt lustig ... Bei mir wäre es mit Sicherheit kein Problem. Aber ich bin bei Lasse ja selbst Gast. Irgendwie reinquetschen könnten wir ihn sicher, aber ob das dann schön wird? Und da sind die beiden Kleinen ..."
„Lass uns darüber weiter nachdenken. Ein paar Tage haben wir ja Zeit."
Und schon war das Wochenende wieder halb rum.
Wir haben alle gleich am Sonntag mit unseren Familien konferiert, um für Antoine eine Lösung zu finden, damit er nicht an Heilig Abend in der Klinik sein muss. Moritz und Sebastians Eltern waren nicht wirklich begeistert von der Idee, einen Fremden aufzunehmen.
„Ausgerechnet an Weihnachten???"
blablabla ...
Bei Paul passt er einfach nicht rein, das sind eh schon so viele Leute in der Etagenwohnung. Also blieben Lasse und ich übrig. Wir haben mit Tante Jana und Onkel Thorsten hin und her überlegt, bis endlich der Groschen fiel.
„Jungs, wir sind blind. Wir haben doch hier ein riesiges Doppelhaus. Jana und ich unterschreiben, dass wir Antoine offiziell hier aufnehmen. Und dann schlaft ihr gemeinsam drüben. An unseren Weihnachtsbaum passt problemlos noch einer dran, mit Geschenken sind wir eh immer ziemlich sparsam, so wird er sich nicht als Fremdkörper fühlen. Und alleine sein wird er drüben auch nicht. Vielleicht können die anderen ja am 24. mittags oder am 25. zum gemeinsamen Frühstück kommen. Dann seht ihr ihn alle und er euch. Wie wäre das?"
„Toll!"
Ich bin Onkel Thorsten spontan um den Hals gefallen.
„Na dann, lauft und sagt den anderen Bescheid!"
Lasse und ich sind in mein Zimmer geflitzt und haben einen Gruppenchat eröffnet für die „Aktion Antoines deutsche Weihnachten". Da haben wir dann berichtet, wie wir uns das gedacht haben, und gefragt, bis wann und in welcher Form Antoine das schriftliche Einverständnis der Eltern braucht.
Bis morgen, ach ja richtig!
Gemeinsam haben wir an einer therapeutischen Begründung für diesen Besuch gefeilt, damit Antoine auch wirklich kommen darf. Sowas á la „ich lebe in Deutschland, ich will hier studieren, also will ich den Anschluss an meine wenigen Bekannten nicht verpassen. Und ich möchte deutsche Weihnachten kennenlernen, damit ich mich besser integrieren kann. Im Kreis einiger Freunde kann ich dann auch üben, mehr Berührung zuzulassen und innere Barrieren abzubauen."
blablabla ...
Und dann haben wir noch Sebastian in unsere Tänzergruppe eingefügt, weil wir ohne Antoine auskaspern wollten, was wir ihm denn zu Weihnachten schenken können. Ein paar Sachen sind uns eingefallen, wobei Sebastian zu ganz großer Form aufgelaufen ist.
Ich habe beschlossen, ihm ein „deutsche Weihnacht-Survival-Kit" zu basteln. Dafür muss ich heute nochmal auf den Weihnachtsmarkt. Aber da muss ich ja sowieso hin, weil ich noch einen Schutzengel für Anni brauche. Unterwegs gehe ich im Geiste meine Einkaufsliste durch. Ein paar Sachen für das Weihnachts-Kit habe ich zu Hause wie Kekse, eine Kerze und Streichhölzer mit Weihnachtsmotiv. Den Zweig werde ich aus dem Garten holen. Auch Sterne habe ich immer noch einige. Ich brauche also noch einen Nikolaus, zwei Engel – und eigentlich eine Krippe. Aber das ist sicher utopisch, denke ich mal.
Ich parke mein Rad diesmal an der Porschekanzel unterm Rathaus und laufe durch Seitenstraßen zum Flachsmarkt. Dabei komme ich von der anderen Seite und entdecke einen neuen Stand, der mir beim letzten Besuch noch gar nicht aufgefallen war - ein Papierkünstler hat seine empfindlichen Kreationen ausgebreitet. Und bei dem finde ich doch tatsächlich eine winzige Krippenszene in einer Streichholzschachtel. Meine Laune steigt, und ich komme auf immer lustigere Ideen.
Ich werde das Lied „Oh, du Fröhliche" kopieren und dazu legen. Deutschere Weihnachten gibt's nicht!
Auch mit den Figuren habe ich Glück. Ich finde den Stand mit den Holzsachen wieder. Für Antoine wähle ich einen altertümlichen Engel und einen kitschig angemalten Nikolaus. Und dann sehe ich IHN. Annis Schutzengel. Beschützend, fast zärtlich legt er seine Arme um ein kleines Mädchen.
Hoffentlich freut sie sich.
Ich habe noch keine Ahnung, wann und wie ich ihr den Engel geben werde.
Am Freitag in der Schule? Per Post? Am Wochenende persönlich? An Heilig Abend vor die Tür gewichtelt?
Naja, die Entscheidung hat ja noch Zeit. Hauptsache, ich habe den Engel.
Während ich mich zurück durch den Markt wurschtele, komme ich wieder bei dem Glasbläser vorbei. Es sind einige Lücken in der Auslage entstanden, die davon zeugen, dass der Mann in den letzten Wochen viel verkauft hat. Aber ein paar neue Figuren fallen mir ins Auge. Eine gedrehte Doppelfigur ist besonders auffällig. Ich trete an den Stand heran und schaue mir die Figur genauer an.
WOW! Das sind zwei Tänzer!
Sie halten sich an den Händen und schwingen sich umeinander.
Sie sehen so leicht dabei aus – und so tief miteinander verbunden!
Ein kurzer Blick auf das Preisschild am Boden der Figur holt mich allerdings schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Unerschwinglich ...
Ich habe in diesem November und Dezember mein komplettes Taschengeld für lauter Geschenke für andere rausgehauen – jedes einzele richtig und wichtig und willkommen. Aber deshalb muss ich diese Figur jetzt zurückstellen und mir einfach das Bild im Kopf bewahren. Ich nehme mir eine Visitenkarte des Künstlers und mache mich auf den Heimweg.
In den letzten Jahren habe ich eigentlich die meisten Weihnachtsgeschenke für die Familie auf dem Flachsmarkt bei den Künstlern gefunden. Deshalb lassen wir uns von der Menge einfach die Kettwiger entlang schieben, trinken nur einmal einen heißen Früchtepunsch und tauchen dann ein in die völlig andere Atmosphäre des Mittelalters. Wir stocken unsere eigenen Keksvorräte mit einigen tollen Sorten auf, die es wirklich nur hier gibt. Wir bleiben eine Weile bei dem Spielmann stehen und summen die alten Adventslieder mit, die er auf der Leier spielt. Wir wärmen unsere Hände kurz an dem großen Lagerfeuer und wenden uns dann den Ständen zu.
„Du schau mal. Ich glaube, da ist einer neu, mit Sachen aus Papier! Das sieht ja spannend aus!"
Wir gehen also als erstes zu diesem Stand, den wir hier tatsächlich noch nie gesehen haben. Die Auswahl ist riesig und wunderschön. Da gibt es Christbaumschmuck aus Papier, selbst bedrucktes Geschenkpapier, zarte Scherenschnitte, geölte Papierlampen, die sanft schimmern. Und viele verschiedene kleine Schachteln.
Neugierig fangen wir an, diese Schachteln zu öffnen.
„Boah, Jenny! Schau mal, in dieser Zigarrenschachtel ist eine ganze verschneite Winterlandschaft!"
„Und hier, ich hab grade ein festliches Weihnachtszimmer gefunden."
Aber der Knaller ist die winzige Krippe in einer Streichholzschachtel.
„Wie haben Sie DAS denn gemacht?"
Der ältere Mann hinter dem langen Tisch lächelt, lässt seine Fummelarbeit sinken und steht auf. „Ganz einfach. Mit Geduld und Spucke."
„Aber das kann man ja kaum sehen, so klein ist das."
Er zeigt nur auf den zweiten, kleineren Tisch, an dem er eben gesessen hat. Dort entdecke ich eine starke Lampe, die durch eine fest montierte, große Lupe auf den Tisch scheint.
„Ahhh, das ist der Trick! Diese Schachteln sind wirklich wunder-, wunderschön!"
„Danke! Die Krippen sind zwar das Kleinste am Stand, aber tatsächlich sind sie mir auch das Wichtigste hier."
Sofort beginnt mein Kopf zu rattern. Wem könnte so eine Schachtel alles gefallen? Mama und Papa auf jeden Fall. Jenny schiebt grade zum dritten Mal das Weihnachtszimmer auf und wieder zu. Tante Anni ...
Anni! Äh ... Lustig. Papas Schwester kenne ich mein Leben lang nur unter dem Namen Anni. Sie ist meine Patentante und eine ganz tolle Frau. Warte! Patentante. Ob sie etwa ... Ich werd verrückt. Da muss ich Papa nachher unbedingt fragen. Vielleicht heißt Tante Anni ja in Wirklichkeit auch Antonia. Wär witzig, wenn Max intuitiv den Nagel auf den Kopf getroffen hätte.
Ich kaufe zweimal die Winterlandschaft, einmal das Weihnachtszimmer, eine kleine Krippe für mich und eine etwas größer gearbeitete Krippe für meine Oma.
„Hast du eigentlich schon ein Geschenk für Lennart?"
Jenny wird ein bisschen rot.
„Ich hab gedacht, ich kaufe ihm einen Schlips und zwei Paar Socken."
„Jenny! Willst du ihn gleich wieder vertreiben???"
Jenny lacht.
„Nö. In einer Socke stecken dann Theaterkarten für Januar. Für ein Varieté in Köln, damit uns keiner sieht."
„Findus Frechdachs. Pass bloß auf, dass du nicht übertreibst!"
„Gegenfrage. Was machst du mit Max? Ich kenne dich doch, alter Mann!"
„Hm. Hast ja recht. Ich möchte wohl. Aber ich finde es nicht so einfach, weil es nicht groß sein darf, aber zu ihm passen soll."
Wir verstauen unsere Schachteln und schlendern weiter. Doch nach wenigen Metern bleibt Jenny plötzlich stehen und hält mich am Ärmel fest.
„Was denn?"
„Schau mal, da ist Max."
„Wo?"
„Da. Bei dem Glasbläser links."
Einen Moment lang warten wir einfach ab. Max steht ganz still da mit einer gelblichen Glasfigur in den Händen. Ich kann auf die Entfernung sehen, dass ihn das Ding völlig fasziniert. Dann dreht er es um, schaut etwas frustriert und stellt es wieder auf den Tisch zu den anderen Figuren.
Kaum ist er weg, schaut mich Jenny an.
„Los, alter Mann. Egal, was das kostet. Das ist dein Geschenk für ihn! So teuer kanns nicht sein, denn sonst hätte er gar nicht nach dem Preis geschaut."
Wir arbeiten uns durch zu dem Stand und fragen den Künstler direkt.
„Entschuldigen Sie. Haben Sie gesehen, welche Figur der junge Mann hier eben in der Hand hatte? Das war irgendwo da."
Der Mann ist nicht sehr kommunikativ, aber er quetscht immerhin „das Paar" zwischen den Zähnen durch. Ich suche die Auslage am Tischende nach einem Paar ab. Und finde drei Verschiedene. Auch Jenny schaut sich um.
Wir stellen die drei Paare nebeneinander und greifen dann sofort beide nach der selben Figur.
„Die Tänzer! Ich wette, dass er die in der Hand hatte."
„Stimmt. Die anderen Figuren passen nicht zu ihm. Und diese Tänzer sind wirklich wunderschön."
Nun drehe auch ich die Figur um, um nach dem Preis zu schauen.
„Das sind 20,-€ Das ist zwar mehr, als ich mir vorgestellt hatte. Aber es ist nicht übertrieben." - „Dann nimm sie mit. Er wird sich freuen. Und sich fragen, woher du weißt ..."
„Alleine das ist ja schon ein Grund!"
Ich bezahle die Figur und lasse sie mir sicher einpacken.
Es dauert eine ganze Weile, bis wir uns einmal um den Platz gearbeitet und all die herrlichen Dinge bestaunt haben. Noch manche Schönheit wandert in unsere Taschen, um an Weihnachten irgend jemandem eine Freude zu machen. Ich habe wohl einen Sinn für Kunst, kann für mich „Gemütlichkeit" oder „geschmackvoll" definieren. Aber ich habe keine künstlerische Hand, um solche Dinge zu schaffen. Ich lasse lieber schaffen.
„Zimtschnecken?"
„Zimtschnecken!"
Schon seit vielen Jahren gehen wir immer einmal zusammen auf den Weihnachtsmarkt, und bevor wir nach Hause gehen, kaufen wir uns immer einen Berg Zimtschnecken, die ganz frisch und noch warm sind. Die erste wird immer sofort verzehrt, der nicht ganz unbedeutende Rest verschwindet in den nächsten Tagen in unseren Bäuchen. Die Dinger sind einfach zuuuuu lecker.
Zu Hause packe ich die Eroberungen zu den schon vorhandenen Geschenken und freue mich, dass ich tatsächlich auch für Max etwas richtig Schönes gefunden habe. Fragt sich bloß noch, wann und wie ich ihm das gebe ...
Am Freitag in der Schule? Per Post? Am Wochenende persönlich? An Heilig Abend vor die Tür gewichtelt?
Naja, die Entscheidung hatte ja noch Zeit. Hauptsache, ich habe die Tänzer.
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2.12.2020
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