072 ** erster Advent ** So. 1.12.2019
Uff.
Ich könnte vor lauter Aufregung aus dem Fenster springen. Ich war total früh wach, habe seitdem gefühlte 27x die paar Holzsterne an dem Korb umdrapiert und den Brief nochmal so oft gelesen. Im Grunde – es ist egal, wie, Hauptsache, DASS ich mich entschuldige. Den Rest muss ich ihr überlassen und darauf hoffen, dass das Vertrauen neu wachsen kann. Aber ich möchte einfach nicht, dass es ihr wegen mir schlecht geht. Ich möchte, dass Anni den Takt und den Tonfall angibt, dass sie steuern kann, was sie braucht.
Lasse schaut irgendwann bei mir rein, grinsend.
„Ich komme."
Wir gehen zum Frühstück, wo der nachts auf den Tisch geschmuggelte verzierte Schuhkarton mittendrin steht. Lotta und Ole streifen um den Tisch und den Karton herum und können kaum ihre Neugierde befriedigen. Es ist süß, auf was für Ideen sie kommen, was das wohl sein soll. Auch Tante Jana und Onkel Thorsten fallen aus allen Wolken. Tante Jana hat natürlich für uns alle vier jeweils einen Adventskalender an das Treppengeländer gehängt. Aber mit diesem Karton haben sie nicht gerechnet.
Energisch verkündet Tante Jana, dass der Karton erst untersucht werden darf, wenn der Sonntags-Frühstückstisch gemeinsam gedeckt wurde. Sogar Ole flitzt nun los, um zu helfen, damit er endlich seine Antwort bekommt. Das Staunen ist dann groß, als das Buch zum Vorschein kommt. Die Kleinen essen vor Aufregung kaum. Tante Jana muss wieder energisch werden.
„Wir lesen das nicht vor, bevor nicht alle wirklich satt sind. Ein halbes Brötchen oder eine Schüssel Müsli sind das Minimum, vorher fangen wir nicht an!"
Ich glaube, so schnell habe ich die Kleinen noch nie essen sehen.
Manierlich geht anders.
Aber immerhin bummeln und spielen sie nicht mit dem Essen. Dann wird noch gemeinsam der Tisch abgedeckt, und endlich knäulen sich alle aufs Sofa. Lotta und Ole kriechen auf die Beine von Lasse und mir, Onkel Thorsten greift sich das Buch. Er ist hier der Star-Vorleser. Wenn man die Augen zumacht und ihm einfach nur zuhört, hat man immer das Gefühl, mittendrin zu sein in der Geschichte. Aber heute sprechen Thorsten und Jana mit verteilten Rollen. Thorsten ist der Pettersson, Jana spricht Findus.
Lasse und ich schauen uns an und strahlen. Wir freuen uns genau so wie die beiden Kleinen. Und ganz besonders ich genieße es, so richtig Familie zu erleben, eine Familie zu haben, hier zu Hause zu sein.
Was für ein Geschenk! Und Moritz und Milly sitzen jetzt auch beisammen, und Paul knäult sich mit seiner Familie auf deren Sofa. Und Anni ...
Rums – schon ist die Aufregung wieder da.
Anni weiß noch nichts von ihrem (hoffentlich) Glück.
Lotta liebt es, in den Büchern immer die Mugglas zu finden. Niemand darf umblättern, bevor sie nicht alle gefunden hat. Und Ole springt auf und macht die kleine Katze nach. Das ist immer zum Schieflachen. Natürlich wollen alle die Bilder ansehen, die voller liebenswerter Details sind, und so dauert schon das erste Kapitel eine ganze Weile. Doch schließlich klappt Onkel Thorsten das Buch zu.
„Und wem verdanken wir diese herrliche gemeinsame Zeit?"
„Lasse."
Ich zeige auf ihn.
„Die Idee war von Max, denn Tanja kriegt auch so einen. Aber da hab ich gleich gedacht, dass das schön wäre für uns. Ich hab allerdings jetzt mal auf die Uhr gesehen. Wir haben für dieses Kapitel fast eine Dreiviertelstunde gebraucht. Und für so viel Zeit kriegen wir niemals die ganze Familie jeden Tag unter einen Hut. Da müssen wir uns was einfallen lassen."
Stimmt. Schade. Denn ich bin hier die Bremse mit meinem Nachmittagsunterricht und meinem irrsinnigen Pensum.
Tante Jana schaut mir kurz ins Gesicht.
„Jungs, holt doch mal eure Stundenpläne vom Kühlschrank."
Wir sind schnell wieder da, und Jana studiert sie aufmerksam. Dann lächelt sie.
„An vier Mittagen sind entweder Max oder Lasse mittags nicht da. Aber trotzdem gibt es fast jeden Tag einen Moment, wo wir alle beisammen sind. Ich schlage vor, dass ich den beiden Kleinen mittags die Gelegenheit gebe, alles ganz genau anzuschauen. Und dann finden wir die Lücke, wo wir einfach nur lesen. Das geht nämlich wesentlich schneller. Papa will ja auch dabei sein."
„Ich kann aber nicht versprechen, dass ich immer rechtzeitig aus der Kanzlei nach Hause komme. Ich denke, wir müssen das flexibel handhaben und im Zweifelsfalle am Wochenende wieder aufholen. Beim Adventskeksteller-Schlachten zum Beispiel. Und ich denke auch, dass es am besten ist, wenn die Kleinen die tägliche Ration schon mittags kriegen."
Er macht einmal Daumenkino in dem Buch.
„Ach. Das hat sowieso nur siebzehn Kapitel. Na dann. Das kriegen wir bestimmt hin."
In dem Moment brummt mein Handy in der Hosentasche. Ich stehe auf.
„Ich mach mich wieder an die Bücher."
Und wie einprogrammiert lenkt Lasse die anderen ab.
„Ich will das eine Bild nochmal genauer anschauen. Da habt ihr vorhin so schnell drüber geblättert."
Sofort beugen sich alle Köpfe über das Buch. Ich gehe aus dem Wohnzimmer, schließe die Tür hinter mir und rase die Treppe rauf. Korb greifen, wieder runterrasen.
Ich komm mir schon vor wie Speedy Gonzales ...
Ich schlupfe in meine Croques und eine Jacke und öffne die Haustür. Da fährt grade Frau Tucher in ihrem Mini vor und kurbelt das Beifahrerfenster runter. Ich mache den Klicker runter, damit ich mich nicht aussperre und gehe die paar Schritte zum Auto. Frau Tucher macht große Augen.
„Mensch, Max. Du bist ja verrückt. DAS sieht ja toll aus!"
Sie zupft an den Tee-Keks-Tütchen und betrachtet die Holzsterne.
„Hoffentlich hast du dich nicht in Unkosten gestürzt dafür."
„Was ich angerichtet habe, lässt sich mit Geld nicht wieder gut machen. Ich möchte einfach nur, dass es Anni wieder besser geht, dass sie jeden Tag einen Moment mit ihrer besten Freundin zum Abschalten und Träumen hat."
„Ach, Max. Zweifle nicht so. Du bist schon der Richtige. Ihr müsst nur wieder Vertrauen aufbauen."
Ich ziehe den Brief aus dem Korb, den ich auf den Beifahrersitz gestellt habe.
„Das ... das ist ein Brief. An Anni. Ich habe keine Ahnung, ob ich den richtigen Ton getroffen habe. Ich hab einfach versucht, mich zu entschuldigen. Ich ... hab gedacht, der kommt am Nikolaus noch dazu. Aber inzwischen ... ich mein ... vielleicht ist das auch doof. Sie soll nicht immer Nikolaus mit mir verbinden, falls das gar nicht passt, also ..."
Frau Tucher greift nach meiner Hand.
„Max, zweifle nicht so viel. Du HAST verstanden, was schief gelaufen ist. Du bereust es ehrlich. Ich lasse Toni im Ungewissen, wo der Korb herkommt. Und ich gebe ihr den Brief am 6. in einem Moment, wo es passt. Versprochen. Ich bleibe bei ihr, wenn sie liest, und ich erkläre ihr dann alles. Aber du darfst auf keinen Fall am 5. oder 6. irgendwie durchdrehen in der Schule. Ihr seht euch ja an dem Tag zur Nachhilfe, und dann wird sie sicher darauf reagieren, falls ich ihn ihr schon morgens geben konnte. Ich muss weiter, und du musst rein, bevor du hier festfrierst. Machs gut!"
Einen Moment sehe ich noch dem Auto hinterher, bevor ich wieder ins Warme flüchte. Das war der „point of no return". Jetzt muss ich abwarten, geduldig sein
... und aushalten, was da als Echo zu mir zurückkommt.
Ich schaffe es tatsächlich unbemerkt bis in mein Zimmer, wo ich sofort Deutsch und Geschichte auspacke. Ich muss die Lerngruppe für Dienstag noch vorbereiten. Die Hausis für Englisch und Geschichte habe ich gestern schon gemacht. Aber für Spanisch und Mathe liegen die da noch geduldig neben mir.
Das Blöde ist: da läuft in meinem Hirn die ganze Zeit eine weitere Tonspur nebenher – Frau Tucher, die den Korb in die Wohnung trägt. Anni, die sich darüber wundert. Frau Tucher, die irgendeine Ausrede labert, damit Anni nicht nachfragt. Dann kocht Anni den Tee, und die beiden machen es sich auf dem Sofa gemütlich. Sie untersuchen den Korb genauer und ...
Ahhhhhhhhh!!!
Um 3.00 Uhr lasse ich erleichtert den Stift fallen und mache mich startklar fürs Training. Denn ich will ja vorher noch zu Tanja. Irgendwie kriege ich ihren Korb auf mein Fahrrad und den Stern in meinen Rucksack und fahre zu ihrer Wohnung rüber. Als Tanja mir die Tür aufmacht, halte ich ihr gleich den Korb entgegen.
„Hab eine schöne Adventszeit, Tanja."
Freudestrahlend nimmt sie mir den Korb ab und lässt mich in die Wohnung. Ich hänge meine Jacke weg und rutsche neben sie aufs Sofa. Sie hat Tränen in den Augen beim Anblick der Fröbelsterne und bewundert dann die neuen Papiersterne.
„Wo hast du DIE denn her? Die sind ja ganz zauberhaft. Ich freu mich. Jetzt kann ich hier doch ein bisschen Advent machen."
Tanja kocht uns einen Tee und stellt einige selbstgebackene Kekse dazu. Dann packt sie das Buch aus und freut sich nochmal.
„Danke, Max. So sehr. Dass du mir immer wieder mit Worten und Gesten zeigst, dass ich weiter zu dir gehöre. Ich vermisse euch beide ganz schrecklich. Und ich weiß gar nicht, wie es weiter gehen soll, wenn Axel selbst jetzt nicht nachgibt."
Auwei, da kommen immer mehr Tränen.
Ich nehme Tanja einfach in den Arm und wiege sie hin und her.
Da wächst das lang ersehnte Kind in ihr heran, und sie sitzt hier alleine in dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Wie bitter.
So. 1.12.2019
Ich bin zwar wieder stabiler als noch vor zwei Wochen. Aber ich habe auch kaum Zeit zum Nachdenken. Die Klausuren und Klassenarbeiten wollen alle zeitnah korrigiert werden. Der normale Unterricht muss vorbereitet werden. Und außerdem will ich heute, bevor Jenny von Lennart zurückkommt, noch ein bissssschen Adventsstimmung in die Wohnung bringen. Ich glaube, damit fange ich an, damit ich endlich meinen Hintern aus dem Bett kriege.
Zwei Stunden später bin ich geduscht, es hängen unzählige Strohsterne an allen Fenstern und sogar in unserem Gummibaum im Wohnzimmer. Und von der Gardinenstange am Wohnzimmerfenster hängt ein waagerechter, langer Stab, um den ich eine Lichterkette gewickelt habe. Wir werden uns zwar wieder nur einen kleinen Baum holen, denn an Heilig Abend sind wir ja beide nach dem gemeinsamen Weihnachtsfrühstück bei unseren Eltern. Dafür bleibt unser Baum aber immer bis zum Dreikönigstag stehen, denn ich habe mir irgendwann in den Kopf gesetzt, dass die Weihnachtskrippe während der gesamten Adventszeit jeden Tag ein Stück wächst und wandert. Und die Könige kommen nun mal erst am 6. Januar an.
Ich bringe alle Blumen vom Wohnzimmer in die anderen Räume, dann putze ich das Fenster und das Fensterbrett und lege ein sandfarbenes Tuch aus. Als letztes stelle ich das noch leere Krippenhäuschen ans eine Ende, und ein kleineres Haus mit Maria davor ans andere Ende der Fensterbank. Neben Maria kommt noch der Engel der Verkündigung, der bei meiner Krippe mit geschnitzten Holzfiguren übrigens keine Flügel hat.
In dem Moment, wo ich den Krippenkarton in die Ecke schiebe, klappert Jennys Schlüssel im Schloss, und sie kommt gleich ins Wohnzimmer.
„Hallo, Süße. Sag, mal – hast du den Korb ins Treppenhaus gestellt, oder war das jemand anderes?"
In der linken Hand hat sie ihre kleine Übernachtungstasche, in der rechten einen ziemlich großen, flachen Henkelkorb, der mit kleinen Zweigen und Holzsternen geschmückt ist. In dem Korb kann ich ein Geschenk und lauter kleine Tütchen erkennen.
„Na, was hast du jetzt wieder ausgekaspert, Findus? Das ist doch von dir!"
„Ich schwöre bei unserer Freundschaft und siebenundzwanzig Pfannkuchentorten, dass dieser Korb NICHT von mir ist."
Ich schüttele den Kopf, nehme ihr den Korb ab und stecke meine neugierige Nase hinein.
„Du, in den Tütchen sind Teebeutel und Kekse. SOLLTE das NICHT von dir sein, dann darf ich dich informieren, dass wir wohl in diesem Advent jeden Tag eine Kanne Tee zusammen wegschlabbern sollen."
Ich überlege einen Moment.
„Oder ist das Ding von Lennart?"
Jenny kuckt empört.
„Toni! Du glaubst mir nicht. Nein, der Korb ist auch NICHT von Lennart."
„Egal. Er kommt grade recht, um mich ein bisschen in Stimmung zu bringen."
Ich gehe in die Küche, öffne ein Tütchen, lege die beiden Kekse feierlich auf einen kleinen Teller und brühe für uns Tee auf, während Jenny sich aus dem Mantel und in sofagemütliche Kuschelklamotten wirft.
Ach, eigentlich können wir den Keksteller mit den eigenen aufstocken!
Dann sitzen wir mit unseren Tassen in der Hand auf dem Sofa und starren den Korb an.
„Hm. Der Tee hat 'ne Zimtnote. Lecker!"
Ich starre immer noch den Korb an.
„Wer?"
„Du?"
„Warum ich?"
„Weil, alter Mann. Mach schon."
Ich lehne mich vor und greife das Geschenk aus dem Korb. Die Tüten rutschen zusammen und rascheln dabei leise.
„Hm. Kantig, fest, schwer. Ein Buch. Und das würde auch zu dem Tee passen - Pause machen."
Ich zupfe die Schleife auf und wickele das Buch aus. Sofort entfährt mir ein Freudenschrei.
„Jenny. Wo hast du denn DAS aufgetrieben? Wieso kennen wir das noch nicht???"
„Toni, nochmal: ich wars nicht. Aber die Idee ist klasse. 'Morgen, Findus, wird's was geben' – wie genial ist DAS denn??? Komm. Lass uns gleich das erste Kapitel lesen."
Wir kuscheln uns in eine warme Decke und schlagen das Buch auf. Ich hab ja keine Ahnung, warum Jenny unbedingt darauf besteht, dass sie das nicht war. Immerhin hat sie das Ding mitgebracht. Aber ich freue mich jetzt schon wie Bolle, dass wir nun jeden Tag irgendwann, wenns passt, eine Kanne Tee „köpfen" und gemeinsam das Buch lesen werden.
Urlaub vom Alltag, einfach nur Spaß. Das ist genau das, was ich jetzt brauche, nachdem ich den grauen und beängstigenden November endlich überstanden habe. Mal wieder.
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26.11.2020
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