069 ** Hilflosigkeit ** So. 24.11.2019

Wie ein geprügelter Hund stolpere ich durchs Freitags-Tanztraining, bin mit dem Kopf in den Wolken bei der samstäglichen Lerngruppe, kriege meine Hausaufgaben nicht unter die Füße, schleiche durchs Wochenende – bin nicht ich selbst. Irgendwann hab ich aufgehört, mich abzulenken, weil mich das nicht weitergebracht hat. Also grübele ich die ganze Zeit, was ich jetzt tun könnte, um Anni zu helfen, was sie aufheitern oder stabilisieren oder ihr einfach gut tun würde. Ich habe weder das Geld, sie mit Geschenken zu überhäufen noch ... eigentlich kann ich gar nichts tun. Denn wie soll ich ihr was Gutes tun, wenn ich sie gleichzeitig in Ruhe lassen soll??
Es ist zum Auswachsen! Wo bleibt deine Phantasie, Max???
Der einzige Lichtblick ist die Antwort von Onkel Uwe, der sich gleich am Sonntag Morgen Zeit nimmt für mich. Wir verabreden, dass ich ihm so viel wie möglich Andeutungen und Wissensschnipsel über Anni erzähle, damit er sich vielleicht einen Reim darauf machen kann. Er wird mir dann nicht sagen, zu welchen Schlüssen er gekommen ist, sondern mir nur Tipps geben, was ich jetzt am besten tun kann. Und eben mit mir MEIN Verhalten reflektieren. Es tut saugut, so einen Coach zu haben. Mein schlechtes Gewissen ist zwar nur unwesentlich kleiner geworden, aber irgendwie fühle ich mich jetzt wieder klarer und sortierter und habe eine kleine Ahnung, was ich machen will.
Das Spannende ist: allmählich erkennen wir ein Muster in meinen Reaktionen auf Überforderung – blind um mich schlagen und dann wegrennen. Es ist ÜÜÜÜÜberhaupt nicht lustig zu erkennen, wie sehr ich darin meinem Vater ähnele. Also nehmen wir uns vor, in der nächsten Zeit genau daran zu arbeiten. Ich muss zulassen, dass ich auch Papas Sohn bin, damit ich zulassen kann, dass ich oft genauso bin wie er. Und damit ich verstehen kann, wie ich es anders hinkriegen kann.
Nach dem Sonntagstraining kommen Moritz und Paul noch mit zu Lasse und mir. Wir hocken zusammen auf Lasses Bett, hören Musik und gammeln. Moritz hat schon seit zwei Tagen rumgedruckst, und jetzt rückt er endlich mit der Sprache raus.
„Jungs, ich brauch mal eure Hilfe. Ich ... - wehe, ihr lacht! - ich will ... für Milly einen Adventskalender basteln. Ich hab auch schon einige Ideen, was ich da reintue. Aber die reichen nicht für 24 Tage, und ich hab noch überhaupt keine Ahnung, wie ich das adventskalendermäßig verpacken soll."
Ich weiß ja nicht, wie es Paul und Lasse bei dieser gestammelten Frage geht. Aber ich muss mich echt gewaltig zusammenreißen, nicht vor Lachen vom Bett zu rollen.
„Tja, Moritz. Wo die Liebe hinfällt ... Bist du schonmal auf die Idee gekommen, danach zu googeln? Ich wette, dass es im Netz tausend und fünf Ideen und Bastelanleitungen gibt."
Moritz schaut verblüfft aus der Wäsche, zückt sein Handy und fängt an zu googeln. Paul ist sogar noch schneller und landet zügig bei Pinterest. Uns fallen bald die Augen aus den Köpfen bei all den tollen und noch tolleren Ideen. Vieles davon ist von uns nicht umsetzbar oder passt einfach nicht zu Milly. Aber bald schon sprudeln unsere Vorschläge nur so. Und mitten drin patsche ich mir vor die Stirn.
DAS ist die Antwort!
In einer Woche fängt der Advent an, und ich könnte Anni auch einen Kalender basteln. Den gebe ich dann Jenny, die Anni nicht verrät, von wem der ist. Aber vielleicht tut es ihr gut zu spüren, dass jemand an sie denkt.
Die anderen kucken mich irritiert an, als ich aus der allgemeinen Runde ausschere. Ich flitze nach nebenan, hole mir Block und Stift und fange an, Ideen aufzuschreiben. Gesehen habe ich ja jetzt genug. Irgendwann stoße ich beim Googeln auf Adventskalender-Bücher. Und dann kommt DIE Entdeckung. Ich hab ja schon oft erlebt, dass sich Anni und Frau Tucher gegenseitig Pettersson und Findus nennen. Und es gibt tatsächlich eine Geschichte über die beiden, die in siebzehn langen Kapiteln gestaltet ist. Pettersson baut irgendwas für Findus zu Weihnachten. Wenn ich ein paar Kapitel teile ...
Schnell zücke ich mein Handy.
„Liebe Frau Tucher! Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich mir am Freitag Ihre Nummer eingespeichert habe. Ich würde Anni gerne anonym einen Adventskalender schenken und bin dabei auf ein Pettersson-und-Findus-Advents-Buch gestoßen. Haben Sie oder Anni das schon? Wenn nicht, würde ich das kaufen, etwas aufhübschen, und Sie schmuggeln das dann bei Ihnen rein?"
Ich muss zum Glück nicht lange auf die Antwort warten.
„Sowas gibt's? Cool! Kein Problem mit der Nummer. Nein, das haben wir nicht, kennen es auch nicht. Und, Max? Das ist eine TOLLE Idee! Meld Dich, wenn du noch Fragen hast."
„Hab ich. Welche Teesorten mögen Sie beide besonders gerne? Und was für Süßigkeiten/Kekse?"
„DUUU stellst Fragen. Ich sehe, Du hast schon eine Idee. Also – Tee. Wir lieben beide eine Mischung aus allem, wir mögen es stimmungsvoll, Du kannst also nix falsch machen. Toni mag kein Anis, ich keine scharfen Lebkuchen. Ansonsten: tob Dich aus! Du bist ein Goldstück!"
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war.
Ich kann Anni was Gutes tun!
Ich springe auf, werde aber von Paul sofort wieder zurück aufs Bett gezogen. Die Drei haben weiter beraten, sind aber immernoch zu keinem für Moritz annehmbaren Ergebnis gekommen.
„So, lieber Max. Und jetzt nochmal für uns alle zum Mitschreiben ..."
Ich drehe die Augen zur Decke.
„Anni und Frau Tucher nennen sich schon seit dem Kindergarten gegenseitig Pettersson und Findus. Und es gibt ein Advents-Buch davon. Frau Tucher hat mir grad geschrieben, dass sie das noch nicht kennen. Also kaufe ich das. Dazu mache ich 24 kleine Päckchen mit zwei Teebeuteln und zwei Keksen. Dann können die beiden sich jeden Tag einen Moment zusammen aufs Sofa kuscheln, Tee trinken und miteinander das nächste Kapitel lesen."
Moritz patscht sich vor den Kopf.
„Ich bin ein Trottel! Milly liebt Kinderbücher. Lass uns gleich zwei Bücher kaufen, und dann klaue ich einfach deine Idee."
„Drei."
„Nö, vier."
„Hä???"
Paul und Lasse grinsen sich an.
„Naja. Wir haben beide jüngere Geschwister ..."
Nachdem wir uns eine Runde schlappgelacht haben, füttern wir meinen Amazon-Account und bestellen das Buch gleich fünfmal, denn ich beschließe, auch Tanja einen Kalender zu bauen. Ich habe das Gefühl, dass sie furchtbar traurig und einsam ist in ihrer Wohnung.
„Wer besorgt den Tee?"
„Du, Max. Ich finde raus, welche Süßigkeiten Milly besonders mag, und dann ..."
Paul hakt ein.
„Warum backen wir die Kekse nicht selbst? Jeder eine typische Familiensorte, und dann verteilen wir um. Max und Moritz brauchen pro Tag zwei Kekse. Lasse braucht pro Tag fünf, und ich sechs. Macht fünfzehn Kekse pro Tag, macht ..."
Ich schüttele den Kopf.
„Macht, dass wir zumindest zukaufen sollten. Wir haben ja nur noch eine Woche Zeit."
Lasse denkt nach.
„Die Kekse gehen aber ziemlich leicht kaputt. Wie verpacken wir die denn?"
Stimmt. Und ich will den Kalender auch noch über Frau Tucher reinschmuggeln, das heißt, dass der zweimal Fahrrad fährt ... „Kleine Schachteln?"
Ratlos sehen wir uns an. Paul kratzt sich an der Nase.
„Also. Wir haben pro erwachsener Person einen Teebeutel und einen Keks. ... ... Eigentlich ... Der Teebeutel ist stabil, aber nicht hart. Wie wäre es ..."
„... wenn wir jeweils einen Teebeutel und einen Keks in ein ganz kleines Tütchen stecken? Dann ist der Keks gleich stabil gelagert."
Moritz klopft mir auf die Schulter und fängt wieder an zu googeln.
„Kuckt mal hier. Da gibt es so kleine Zelophantütchen im 500er-Pack. Und die sind bei der Stückzahl auch nicht soooo teuer."
„Sind das die richtigen Maße? Dann bestell die gleich auch noch."
„Dann bleibt nur noch die Frage, wie wir die beiden Verschenk-Kalender sozusagen präsentieren. Die Familien können die ja einfach am 1. Dezember auf dem Frühstückstisch vorfinden. Aber wir beide?"
Die Frage ist nicht schwer zu beantworten.
„Ganz einfach, Moritz. Wir nehmen zwei Körbe, legen da die ganzen Tütchen rein und das schön verpackte Buch dazu. Gleich vornedrin gibt es einen Brief. Und ganz unten im Korb noch ein Mini-Präsent für Heilig Abend."
Und bei mir dann ein Brief zum Nikolaus, wo ich Anni um Vergebung bitte und ihr einfach viel Kraft und eine wunderschöne Adventszeit wünsche ...
Montag 25.11.2020
Anni wirkt heute ein bisschen ausgeschlafener und stabiler als letzte Woche. Sie hat die zusätzliche Freizeit genutzt, die LK-Klausuren zu korrigieren, und man merkt, wie stolz sie auf uns ist, dass wir nach den tollen Facharbeiten nun auch noch durch die Bank richtig gute Klausuren hingelegt haben. Außerdem teilt sie uns mit, dass Fatih inzwischen von der Schule abgemeldet wurde.
Nett, dass sie den wahren Grund nicht nennt und damit sein Gesicht wahrt, obwohl er ja gar nicht mehr da ist.
In der Tutorenstunde fragt sie uns Tänzer, ob wir Antoine gut in Langenberg abgeliefert haben und vielleicht schon was von ihm gehört haben.
„Das ist erstmal schwierig, weil dort in den ersten drei Wochen Kontaktsperre gilt, damit die Patienten richtig ankommen und den Alltag loslassen können. Aber er durfte uns am zweiten Tag noch 'ne SMS schreiben, dass es ihm gut geht und er sich in seiner Therapiegruppe bis jetzt sehr wohl fühlt."
Sebastian strahlt, während ich das sage.
„Ich hab eine Idee, wie ich ihm von hier aus was Gutes tun kann. Wir haben ja seine Mini-Wohnung WG-tauglich gemacht. Aber wir haben uns dabei einfach beeilt. Ich will in der Zeit, in der er dort ist, nach und nach die Möbel nochmal abbauen und die Wände streichen. Ich will mir ein paar weitere Lösungen ausdenken, wie wir noch gemütlicher Platz sparen können. Und ... ich dachte ... - könnten wir nicht als Kurs was Schönes für ihn ... ich weiß auch nicht ..."
Moritz, Paul und ich sehen uns an. Das hatten wir doch grade gestern Abend ... Paul prescht vor.
„Sebastian, was glaubst du, würde er sich über einen Adventskalender freuen? Mit einer Geschichte oder selbstgebackenen Keksen oder ... keine Ahnung, wie man in Frankreich den Advent begeht. Aber wir sollten rausfinden, ob wir ihm trotz Kontaktsperre ein Päckchen schicken dürfen."
Sebastian bekommt glänzende Augen.
„Coole Idee. Ich ruf da gleich heute Nachmittag an und bettele, was das Zeug hält. Denn eigentlich wird Post zurückgehalten, bis die Kontaktsperre rum ist. Und ... was haltet ihr von ... Neee, wir kriegen erstmal raus, wie in Frankreich typischerweise Adventsschmuck aussieht. Und vielleicht können wir sowas improvisieren. Dann kann er jeden Tag ... einen Stern oder so aufhängen. Habt ihr Lust?"
Der Kurs hat längst Feuer gefangen, und so geht die Tutorenstunde mit der Planung drauf.
Ich beobachte nebenbei Anni. Sie ist entspannt, freut sich über unsere Ideen, plant mit und outet sich irgendwann als totale Adventskalender-Liebhaberin.
Bingo! Deshalb war die Tucher so begeistert. Und das mit den Sternen ...
Am Freitag wird der Weihnachtsmarkt eröffnet. Essener Lichterspiele und so. Da werde ich doch gleich noch auf die Pirsch gehen. Vielleicht finde ich noch ein schönes Weihnachtsgeschenk.
Und Sterne. Und ... vielleicht freut sie sich über einen Schutzengel.
Als ich am Nachmittag zur Nachhilfe bei Anni auftauche, ist sie freundlich wie immer und scheint mit der Situation wieder besser klarzukommen. Ich muss mich unglaublich zusammenreißen, nicht sofort wie ein reuiger Sünder vor ihr auf die Knie zu fallen und sie um Vergebung anzubetteln. Aber die Devise ist ja: erstmal in Ruhe lassen. Also bin ich einfach freundlich, aufmerksam und konzentriert und schlucke alle Fragen runter.
Außerdem habe ich nach einer Weile das Gefühl, dass sie diese Gelassenheit nur spielt. Sie hat die äußere Fassade gekittet. Aber innendrin ist wahrscheinlich noch gar nichts in Ordnung. Sie selbst scheint gar nicht anwesend zu sein.
Als ich wieder gehe, hält sie mich noch einen Moment zurück. Unsicher irrt ihr Blick um mich drumrum.
„Max, ich ... wollte Ihnen einfach sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie es so weit geschafft haben. Die Noten sind gut, alle Kollegen schwärmen, wie sehr Sie nochmal an Leistung zugelegt haben. Und ganz besonders freut mich Mathe. Die Abizulassung ist jetzt sicher und damit eine ganz große Last von Ihren Schultern genommen."
Peinliches Schweigen. Ich fresse einen Besen, wenn sie das ursprünglich sagen wollte. Sie hat sich selbst überholt und dann schnell was anderes gesagt.
„Danke! Ich bin auch extrem froh darüber. Und ich weiß, dass ich das zu einem ganz großen Teil Ihnen verdanke. Sonst hätte die Hartmann mich einfach weichgeklopft irgendwann. Danke, dass Sie so für mich gekämpft haben."
Keine Antwort.
„Komm gut nach Hause, Max."
Ui, da ist ihr ein verkapptes Du rausgerutscht ...
„Danke, Ihnen auch einen schönen Abend. Arbeiten Sie nicht mehr so viel heute."
Ich gehe die Treppe runter und nehme aus dem Augenwinkel wahr, dass sie in der Wohnungstür stehen bleibt. Aber ich reagiere nicht darauf.
Nicht drängen! Hat die Tucher gesagt.
Auf der Heimfahrt radele ich noch eben über die Rü und suche nach einem Teeladen oder sowas. Ich werde von Passanten in die Emmastraße geschickt. Leider hat der kleine Kaffee- und Teeladen zu. Aber wenn ich morgen direkt nach der Schule hier vorbeiradele, dann kann ich das mit den anderen noch besprechen, und dann ist der Laden auch offen. Ich drücke mir ein wenig die Nase an der Schaufensterscheibe platt und freue mich an der schon ziemlich weihnachtlichen Auslage. Ich bin gespannt auf Morgen. In solchen Läden riecht es immer wunderbar!
...........................................................
22.11.2020
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top