061 ** Auszeit ** Mo. 14.10.2019
Jenny hat mich einigermaßen für bekloppt erklärt, aber ich musste einfach nur weg. Wenn ich mal kurz abtauchen will, setze ich mich immer in den Bus und fahre zu meinen Eltern nach Heisingen. Dann sitze ich Sonntag Nachmittag mit ihnen am Kaffeetisch und bin wieder Kind. Die „böse" Welt kann mir dort nichts anhaben. Wir plaudern und lachen. Und meine Eltern wissen ganz genau, wie ich drauf bin, ich weiß aber auch, dass sie nie fragen werden. Ich muss von mir aus erzählen, und das respektieren sie.
Wann immer in meinem Leben ich mit etwas nicht klar kam oder Hilfe brauchte, meine Gedanken zu sortieren, bin ich alleine oder mit Mama oder Papa am Baldeneysee entlang spaziert. Wir haben geschwiegen und geredet, geweint und gelacht. Und ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, wo ich hinterher nicht schlauer war als vorher. Oder wenigstens sehr gründlich abgelenkt und mit frei gepustetem Kopf. Und genau dafür ist es heute mal wieder Zeit. Mama und Papa sind zur Arbeit gefahren. Ich habe mir meine Wanderschuhe und regentaugliche Klamotten gegriffen, in meinem kleinen Rucksack Proviant und eine Thermoskanne mit Tee, um den Hals meine Kamera mit Tele, in der Jackentasche das gut geladene Handy, und so marschiere ich einfach los. Ich will mal wieder einmal rum um den See laufen. Das sind schlappe 30+ Kilometer, auf denen ich mir den Frust, die Verunsicherung und die Trauer von der Seele rennen will.
Ich werfe einen Blick zum Himmel und entscheide mich für Regenjacke ohne Regenhose, ziehe die Tür hinter mir zu und stapfe die Lelei runter. Unten wende ich mich nach rechts zum Ufer des Sees und steuere direkt auf die alte Eisenbahnbrücke zu. Laufen. Einfach laufen. Nur die Füße laufen lassen. Die Augen rechts und links am Wegrand, mittlerweile schon manche kahle Bäume, trockenes Laub, watschelnde Enten, leise schwappendes Wasser, Ruhe. Ich gehe auf die Mitte der Brücke und schaue runter.
Die Ruhr ist der sauberste Industriefluss Europas. Was heißt eigentlich „Industriefluss"???
Blablabla ... Selbstablenken hat auch schon mal besser funktioniert ...
Auf der Kupferdreher Seite des Sees wende ich mich wieder nach rechts und greife kräftig aus. Aber der Teufel wandert scheinbar mit. Kribbelig warm und schön spüre ich Max Hand in meiner, sehe ihn vor meinem geistigen Auge neben mir her laufen, ertrinke in dem Braun seiner Augen. Schnell stecke ich die Hände in die Jackentaschen –
als ob das was helfen würde –
und zähle Enten auf dem See.
Für wie blöd hältst du mich eigentlich?
Klappe, Stimme!
Nö. Ich bin nunmal da. Und solange du nur auf den Boden oder die Wellen starrst, geh ich auch nicht wieder. Wenn du dich schon ablenken willst, dann heb gefälligst deine Augen und lass neue Eindrücke an dich ran.
Gehorsam wider Willen hebe ich meine Augen, mustere das gegenüber liegende Ufer des Sees und die steilen, bewaldeten Hänge dahinter. Trotz des trüben Wetters lacht mir der bunt gemischte Herbstwald zu und erzählt mir was von den kleinen schönen Momenten im Leben. Erst will ich die gar nicht hören. Aber bis ich mich um die große Kurve bis zum Haus Scheppen vorgearbeitet habe, haben die Herbstfarben doch den Weg in mein Herz gefunden.
Hei, Stimme. Bist ja doch zu was nutze.
Siehste?
Das hättst'e dir jetzt sparen können.
Hmmmmm – nö. Is mein Job.
Ich ignoriere diesen lästigen Begleiter in schweren Tagen und greife zu der Kamera an meinem Hals. Entspannt lasse ich das Tele über den gegenüberliegenden Wald schweifen und freue mich an dem Bunt. Ab und zu schaut ein Restaurant zwischen den Bäumen hervor.
Schwarze Lene, Heimliche Liebe. Verrückte Namen.
Aber dann zieht eine andere Lücke meine Konzentration auf sich. Ich stelle das Tele ganz weit und suche die Lücke ab.
Warum sollte da mitten im Wald eine Lücke sein?
Weil da was anderes als Wald ist?
Du nervst!
Bei der Arbeit.
Keine Ahnung, warum. Seit damals habe ich ein ganz normales Leben geführt, studiert, gelebt. Aber immer, wenn rauhe See kommt, höre ich plötzlich diese Stimme in meinem Kopf, die mich nervt und anstachelt. Mir wär ja lieber, die käme in guten Zeiten und verriete mir die nächsten Lottozahlen.
Aber nein, mein persönlicher Mann im Ohr spielt meistens Orakel im Sturm und hilft kein Stück weiter.
Pfff ... Das könnte dir so passen. Lottozahlen! Ich bin viel wichtiger. Ich bin gekommen, damit dir nie wieder sowas passiert. Schon vergessen? Ich warne dich. Ich sage dir: jetzt haushalte mal etwas besser mit deinen körperlichen und seelischen Kräften, sonst schmierst du wieder ab. Aber bitte – wenn du nicht auf mich hören willst, halt ich halt meine Klappe und lass dich ins Unglück rennen.
Ich hasse diese Stimme, weil sie eigentlich immer recht hat. Ich will nicht, dass sie da sein und mich warnen muss. Ich will nicht an das Schreckliche erinnert werden. Ich möchte erleben, dass ich mein Leben selbst im Griff habe und die Labertasche nicht brauche. Also konzentriere ich mich wieder auf die Lücke da drüben und laufe dabei immer weiter um die Kurve des Sees.
Da sind doch Mauern zwischen den Baumkronen. Was ist das???
Ich bin schon am Haus Scheppen vorbei, als ich schließlich mein Handy zücke und nach einer Wanderkarte google.
Ach neee! Das kenn ich ja gar nicht. Das da oben ist eine Ruine. „Neue Isenburg".
Schnell schaue ich nach. Die „alte" Isenburg stand in Hattingen und brannte ab oder so. Die nächste Generation baute dann 1240 die „neue" Isenburg da oben auf einen Felssporn.
Da war mal 'ne Burg??? Cool!
Ich bin in Heisingen groß geworden. Aber dass wir da unsere Hausburg hatten, wusste ich echt nicht.
Eigentlich? Ob ich jetzt um den See drumrum renne oder da raufkraxele, ist ja auch egal. Hauptsache, ich lüfte meinen Kopf.
Fährt die weiße Flotte noch?
Wieder googeln.
Ja, noch ein paar Tage.
Ich mache auf dem Absatz kehrt und laufe zurück zum Anleger am Haus Scheppen. Viele Schiffe fahren jetzt nicht mehr, aber eines kommt demnächst doch noch.
Das nehm ich rüber zur Regattastrecke und versuche mal, ob ich direkt den Berg hochkomme.
Während ich auf die Fähre warte, google ich mehr über diese Burg. Dann studiere ich die Wanderkarte. Der Anleger drüben ist gleich beim Kletterwald.
Und da ... ja, da führt auch ein Weg den Hang hoch. Da muss ich zwar große Schleifen laufen, aber immerhin lande ich tatsächlich in der Nähe der Ruine.
Ich besteige das Schiff, bezahle meine Fahrkarte und starre schon wieder verträumt diesen Hang rauf. Je näher wir dem nördlichen Ufer kommen, desto mehr werden die Ruinen von den Bäumen verdeckt. Drüben steige ich aus, mache einen Moment Stärkungspause am Ufer und schultere dann wieder meinen Rucksack.
Ab nach oben!
Ich wandere immer bergauf zwischen hohen, kahlen Baumstämmen. Manchmal geht es felsig rauf oder runter neben mir, das Laub raschelt unter meinen Schuhen, die Luft ist erstaunlich klar heute. Meine Gedanken kreisen um die Burg und ihre ehemaligen Bewohner, meine Stimmung hebt sich und meine Kraft kehrt zurück. Schneller, als ich es erwartet hatte, bin ich oben und biege ein in den Weg, der am steilen Hang entlang führt und dabei die Burgruine streift. Ich muss noch drumrum laufen, dann stehe ich im äußeren Burghof und schaue mir die Schautafel mit Informationen über die Reste hier an.
Der Hattinger hatte den Erzbischof von Köln gemeuchelt und wurde dafür geköpft, seine Besitztümer wurden beschlagnahmt. Sein Sohn wollte die aber wieder haben, vor allem die lukrativen Einkünfte der Abteien in Werden und Essen. Also hat er hier auf dem Gebiet, das ihm zur Zeit ja gar nicht gehörte, seine neue Burg hingestellt, um demonstrativ seine Ansprüche geltend zu machen. Einiges hat er wohl wieder bekommen, aber die Burg hat trotzdem kein halbes Jahrhundert gestanden.
War wohl doch kein sooo guter Platz ...
Ich laufe weiter über die Holzbrücke, die damals wohl eine Ziehbrücke war. Sie mündet in einem schmalen Quergang vor dem Haupttor der Innenburg. Wer hier eindringen wollte, musste also über die Brücke und dann durch diesen Gang seitwärts bis zum Tor.
Wahrscheinlich hats dann von oben hübsch Pfeile, Pech und Steine geregnet.
Leider ist von der ganzen Anlage nicht viel mehr erhalten als die Grundmauern und ab und zu mal halbe Wände. Aber man erkennt doch, dass das Leben in so einer Burg nicht wirklich kompfortabel war. Am Ende des schmalen Hofes, direkt auf der Felsnase, stand der Palas, also das Wohnhaus des Burgherrn. Man kann hineingehen und sich dann mit ein bisschen Phantasie vorstellen, dass dort ein Schwein über einem großen offenen Kamin brät und daneben die festliche Tafel für die Ritter gedeckt ist.
In der Wand, die runter zum See zeigt, also damals zur Ruhr, waren drei etwas größere Fenster, die ganz klassisch mit Sitzbänken in die dicke Wand gemauert waren. Die Wand zwischen den Fenstern ist weg, aber diese gemauerten Bänke sind noch da. Und von dort aus hat man einen traumhaften Blick runter und rüber über den See, umrahmt von Herbstwald.
Wie schön!
Ich setze mich in eine dieser Fensternischen und mache mein zweites Picknick heute. Die Stullen schmecken bei der herrlichen Aussicht nochmal so gut.
Und endlich fühle ich mich wieder wie ich selbst. Die letzten drei Monate waren hart. Viel Neues, viele Herausforderungen, viele Kämpfe, viel Gefühlschaos. Bestimmt eine Stunde sitze ich da, wärme meine Hände an meinem Tee und lasse diese Wochen Revue passieren. Ich bin eine sehr junge, aber fachlich versierte und gute Lehrerin. Ich habe Rückhalt im Kollegium, komme gut mit den Jugendlichen klar und habe ein Leben neben dem Job. Mein Protokollbuch über die Schüler, das regelmäßige Feed Back an die jeweiligen Klassenlehrer – das funktioniert gut. Ich bin nah dran, verausgabe mich aber nicht. Sebastian ist auf einem guten Weg, für Fatih kann niemand mehr was tun, weil er einfach fast nie da ist, alle anderen laufen rund. Max hat hart gekämpft und viel erreicht, steht aber enorm unter Druck. Wenn ich ehrlich bin – kein Wunder, dass er dann manchmal eben doch ausflippt. Viele andere hätten längst aufgegeben. Ich habe mich ja mit dem Anwalt, dem Vater von Lasse Seitz, getroffen und etwas mehr erfahren. Während Max ums emotionale Überleben kämpft, zerfällt seine Familie zu Staub. Wie grausam für so einen jungen Menschen.
Und Max und ich? Erstaunt stelle ich fest, dass ich ihn wirklich liebe. Er ist ganz anders als Adrian. Es ist nicht seine Unschuld, die mich in Sicherheit wiegt. Es sind keine Muttergefühle gegenüber dem Jüngeren. Max selbst ist wirklich ein ganz besonderer Mensch. Wir waren von Anfang an, schon in meinem Referendariat, auf einer Wellenlänge, er ist ein echter Kämpfer, der immer wieder aufsteht, der fast nie seinen Humor verliert, der loyal und hilfsbereit ist. Ich hab ihn fast zwei Jahre lang erwachsen werden sehen. Nein, es ist nicht nur die Unschuld, der Humor, der durchtrainierte Tänzerkörper, die braunen Augen. Ja, ich bin wirklich in Max verliebt, weil er durch und durch ein wundervoller Mensch ist.
Was nicht heißt, dass sich da nicht was ändern muss.
Um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber du bist auf dem richtigen Weg.
Kann da mal jemand den Stecker ziehen?
Vergiss es, ich bin unkaputtbar.
Hmpf.
Ich sitze noch eine ganze Weile da, finde zu mir selbst und genieße die Aussicht. Dann schlage ich mich mit Hilfe der Karte in meinem Handy durch bis zur Hauptstraße, auf der der Bus nach Heisingen fährt. Im Haus meiner Eltern empfangen mich Wärme und ein von Muttern gekochtes Essen. Sie fragt nicht. Sie sieht an meinen matschigen Wanderschuhen im Eingangsflur, dass ich unterwegs war. Beim Tellerabräumen zeigt sie mir nur mit einer kleinen Nebenbemerkung, dass sie wohl alles verstanden hat.
„Die frische Luft hat dir gut getan. Du bist entspannter und zuversichtlicher als gestern Abend."
Danke Mama, du bist toll!
Gemeinsam mit Papa spielen wir nach der Tagesschau „Mensch, ärgere dich nicht" und gehen alle drei früh ins Bett. Erst am Mittwoch fahre ich wieder nach Rüttenscheid. Ich bin nicht ans Handy gegangen, habe keine Nachrichten beantwortet, habe einfach völlig runtergeschaltet. Und das war richtig gut.
Zum ersten Mal seit Wochen kann ich mich wirklich konzentrieren, als ich am Donnerstag für meine Klassen die Unterrichtspläne bis Weihnachten entwerfe. Max schwirrt nicht mehr ununterbrochen durch meinen Kopf. Ich analysiere nicht mehr zum 3056. Mal die Gespräche in den zwei Tagen, als wir alleine waren. Ich arbeite, ich habe Spaß mit Jenny, ich gehe ins Kino. Und ich fürchte mich nicht mehr vor Freitag Morgen. Es hat sich ja eigentlich nichts verändert. Aber die Verzweiflung, das Gefühl von Verrat, der Schmerz sind weg. Und so kann es vielleicht gehen. Trotzdem hoffe ich auf die Vertretungsstelle. Ich fange an, mich darauf zu freuen und die alten Fachbücher über Sonderpädagogik aus dem Studium zu lesen.
Freitag Vormittag kommt Max zu uns nach Hause, und wieder ist die Stimmung komisch, aber es zieht mich nicht mehr runter. Wir arbeiten konzentriert und verabschieden uns bis Montag. Am Nachmittag fahre ich zur Schule und unterbreite Dr. Miegel meine Pläne. Seine Miene ist undurchdringlich. Ich weiß also nicht, was er wirklich davon hält. Aber er ist einverstanden. Er werde das mit der Direktorin der anderen Schule besprechen, denn dort hätte ich ja nur eine Dreitviertelstelle, falls es klappen sollte. Ich müsse mich nur bewerben und ihm dann sagen, ob ich ein Vorstellungsgespräch hätte.
Der Weg ist frei.
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14.10.2020
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