056 ** Tobsuchtsanfall ** Do. 26.9.2019

Achtung Zeitsprung rückwärts ...

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Fassungslos und hilflos stehen Tanja und ich in Max Zimmertür und sehen zu, wie Axel völlig von Sinnen das Zimmer verwüstet. Ich war in der Küche und habe durch die Doppeltür ein mörderisches Gebrüll gehört. Ich bin sofort rüber und habe grade noch gesehen, wie Axel seine eigene, nebenbei schwangere Frau gegen die Wand gestoßen hat, um sich den Weg frei zu machen. Jetzt stopft er fluchend und tobend alle Habe von Max wahllos und ziemlich grob in irgendwelche Taschen und Kartons. Thorsten ist noch nicht zu Hause, Lasse will ich da raushalten und wir beiden Frauen sind einfach zu schwach, um Axel von diesem Wahnsinn abzuhalten. Zumal Tanja mit ihrer Schwangerschaft sowieso gut aufpassen muss, dass ihr nichts passiert.

Auf einmal hält er inne, zückt sein Handy und fängt an zu telefonieren.
„Uwe! Gut, dass du gleich rangehst. Ich brauche sofort deine Hilfe. Hast du heute Abend was vor, oder kannst du vorbeikommen? ... Sag ich dir nachher. ... Danke, bis gleich."
Dann stürzt er sich wieder auf Max Bücher. Tanja und ich sehen uns an. Eigentlich hat Axel nicht viel Kontakt zu seinem Bruder, weil der nämlich Psychologe ist und ihm in den letzten Jahren ein paarmal zu oft was ins Stammbuch geschrieben hat. Unbequeme Wahrheiten ... Wenn er Uwe als Verstärkung bekommt, haben wir es gleich mit zwei Gegnern zu tun – oder die richtige Hilfe, um Axel zu stoppen. Der schmeißt derweil Max CD's achtlos in eine Kiste und schüttet den Inhalt seiner Schreibtischschubladen hinterher. Ich kann mich echt nur schwer beherrschen.

Da taucht Uwe auf, der zum Glück grade beim Kieser-Training um die Ecke war.
„Axel, was um Himmels Willen machst du da? Hör sofort auf!"
„Hilf mir. Das muss alles hier raus. Alles raus! Max wohnt ab heute nicht mehr hier. Wir müssen das alles an die Straße tragen."
„Einen Teufel werde ich tun. Solange Max nicht dabei ist, rühr ich keinen Finger. Was ist denn bloß mit dir los???"
„Dieser Versager macht mir das Leben zur Hölle. Ich setze den jetzt vor die Tür. Wir brauchen sowieso das Zimmer für das Baby."

Uwe schaut mit großen Augen zu Tanja.
„Du bist schwanger? Hei, wie schön! Obwohl ... grade nicht so schön. Tut mir so leid, Tanja."
Dann dreht er sich um, nimmt seinen Bruder kurzerhand in den Rettungsgriff und zerrt ihn raus. Axel wehrt sich heftig, Aber Uwe war schon immer der Größere und Stärkere, und so kriegt er seinen tobenden Bruder tatsächlich irgendwie die Treppe runter und aus dem Haus.

Als er Axel auf die Rückbank seines Autos geschoben hat und der immernoch nicht aufhört, um sich zu schlagen, macht er schließlich eine Ansage.
„Pass auf, Bruderherz. Du hast jetzt die Wahl. Polizei oder Klapse oder augenblicklich Ruhe im Karton. Entscheide schnell, sonst entscheide ich. Das muss ein Ende haben, dass du deinen eigenen Sohn so quälst."
Erst nach einer ganzen Weile gibt Axel Ruhe, weil er nämlich den neugierigen Blicken der Nachbarn hinter ihren Vorhängen entgehen will. Er lässt es zu, dass Uwe die hintere Tür schließt und dann auch einsteigt.
„Tut mir leid, Mädels. Aber das ist im Moment das Beste, was ich für euch und Max tun kann.
Jana, kann Max zu dir?
Meld dich bitte bei mir, Tanja. Bleib bitte mit dem allen nicht alleine!"
Dann ist er weg.

Ich bringe die tränenblinde, schwankende Tanja zurück in ihr Haus, koche ihr einen Tee und schaue mir erstmal den desaströsen Brief an. Offizielles Briefpapier der Schule, eine sorgfältige Aufzählung der fünf Vorfälle mit Frau Hartmann seit den Sommerferien, keine Unterschrift, aber der Schulstempel. Ich reiche Tanja wieder den Brief und bedauere zutiefst, dass Thorsten ausgerechnet heute erst spät nachts von einem dienstlichen Event nach Hause kommen wird.

„Ich hole jetzt Lasse rüber, und dann könnt ihr zusammen Max Sachen etwas sorgfältiger und geordneter packen, damit wir das bei uns in sein kleines Zimmer reinkriegen. Das Bett nehmen wir auch mit, was sonst noch richtig wichtig ist, weiß wahrscheinlich Lasse am besten. Ich halte euch die Kinder aus den Füßen und mache für uns alle Abendbrot."

Zurück drüben bei uns scheuche ich Lasse auf, gebe ihm einige große Taschen und Kisten und hoffe einfach, dass die beiden das schaffen. Ich selbst gehe in Max altes Kinderzimmer. Das kleine Bett haben wir ja irgendwann für Lotta gebraucht, und jetzt liegt Ole drin, deshalb liegt hier nur eine alte Matratze, auf der mehr getobt als geschlafen wird. Ansonsten ist es noch immer das Kinderzimmer des Achtjährigen, weil Max selbst das so wollte. Für Lotta und Ole war es immer etwas ganz besonderes, wenn sie mal mit Max dort spielen durften.
Wo fang ich bloß an? Was davon wird er selbst machen wollen?

Im Kleiderschrank sind die Klamotten, aus denen meine eigenen Kinder immerzu raus- oder reinwachsen. Die müssen hier wirklich nicht bleiben. Ich fülle ein paar Müllsäcke und trage die auf den Dachboden. Kurz darauf kommt Lasse mit ein paar Taschen voller Wäsche von Max, die sortiere ich dann gleich wieder da rein.
„Vergesst nicht, im Wäschekorb nach seinen Sachen zu schauen, er soll da nicht nochmal rüber müssen."
Lasse zieht wieder ab. Max Urkunden, Pokale und Medaillen von irgendwelchen Kindertanzturnieren lasse ich im Regal, seine Bücher und Schulsachen muss er sowieso selbst sortieren. Aber die Ritterburg und die Matratze räume ich raus.
Wo stellen wir bloß einen Schreibtisch hin?

Lasse kommt mit einem großen Korb Schmutzwäsche.
„Ich bring das gleich in unsere Waschküche, oder?"
„Klar, gute Idee. Ach, Lasse?"
Ich rufe hinter ihm her.
„Wir brauchen seinen Schreibtisch. Hier hat er ja keinen."
Nach und nach lichtet sich drüben und hier das Chaos, sein Bett steht wieder, seinen Schreibtisch haben wir in unseren Flur geschafft, damit er auch noch was selbst entscheiden kann. Zu dritt stehen wir in Max altem, nun ziemlich leer geräumten Zimmer und schweigen uns eine Weile an. Tanja schlägt die Hände vors Gesicht und fängt leise an zu schluchzen.
„Dabei wird mein Baby wahrscheinlich sowieso niemals hier wohnen!"

Ich nehme sie in den Arm.
„Tanja, das ist alles ganz furchtbar. Aber wenigstens kannst du dir keinen einzigen Vorwurf machen. Du warst, nein bist für Max eine tolle Mutter und hast ihm fest zur Seite gestanden. Ab wann kannst du in deine Ausweich-Wohnung?"
„Ab dem 1.10. Ich hab nicht so schnell damit gerechnet."
„Gut. Wollt ihr mit deinen Sachen gleich weitermachen? Ich vermute, dass Uwe Axel nicht länger als bis morgen Vormittag fernhalten kann. Dann sollte alles raus sein, was du mitnehmen willst. Ich fahre auch das zweite Auto aus unserer Garage, dann können wir alles reinstellen für die fünf Tage. Und schlafen solltest du heute bei uns. Der Gedanke, dass du hier ganz alleine bist, behagt mir nicht."

schnief ...
is gut. Danke.
... schnief ...
Ich ... musste mich vorhin so zusammenreißen, nicht zu schreien, als Uwe ihn rausgezerrt hat. Es ist alles soooo falsch!"
„Das ist es. Aber dein Leben geht weiter. Und Axel wird zunächst mal nicht erfahren, wo du bist. Deine Kollegin ist informiert, du gehst morgen früh zum Arzt und lässt dich krankschreiben, und wir halten engen Kontakt. Max wird dich vielleicht sehen wollen, das regeln wir dann."

Tanja richtet sich ein bisschen auf und geht zögernden Schrittes auf ihr Schlafzimmer zu. Lasse folgt ihr leise, holt ihr die Koffer vom Schrank und hilft ihr beim Packen. Koffer, Kisten, die Kommode von ihrer Großmutter, ein paar Bilder, einige ihrer Pflanzen, die sie gerne mitnehmen möchte, weil sie empfindlich sind – alles wandert in unsere Garage. Andere Pflanzen finden ihren Weg auf meine Fensterbretter. Lange starrt Tanja das Familienstammbuch an, bevor sie sich einen Ruck gibt, ihre Geburtsturkunde herausholt und zu ihren anderen Dokumenten in einen Ordner steckt, der schon seit einer Weile bei mir ist.

Dann schließe ich die Tür nach nebenan ab und führe Tanja zu unserem Esstisch. Dort sitzen bereits die drei Kinder. Tanja versucht einigermaßen, sich zusammenzureißen wegen Lotta und Ole, und Lasse beschäftigt die beiden mit Witzen, um sie abzulenken. Er bringt die Kleinen auch ins Bett, damit ich einfach ganz für Tanja da sein kann. Auch wenn sich alles in mir sträubt, dass wir meinen Großen da mit reinziehen muss.
An Morgen darf ich überhaupt nicht denken. Dann muss ich nämlich Max vom Bus abholen und ihm das alles beipulen. Keine Ahnung, wie ich das schaffen, und wie der Junge das überleben soll.

Wie bei einem kleinen Mädchen, dem seine Puppe kaputt gegangen ist, sitze ich in unserem Gästezimmer bei Tanja auf der Bettkante und streichele sie und singe ihr Schlaflieder, bis sie sich erschöpft in den Schlaf geweint hat.

Lasse empfängt mich im Flur.
„Tanja ist schwanger? Wie furchtbar. Sie hat sich das sooo lange gewünscht, und jetzt ..."
Müde reibe ich mir die Augen.
„Ich weiß es schon seit ein paar Wochen. Es läuft auch eigentlich ganz gut. Aber in Axel scheint es das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Er weiß es erst seit Montag."

„Wann kommt Papa nach Hause?"
"Irgendwann heute Nacht. Ich mach noch die Garage zu und stell mein Auto davor, damit er nicht reinfahren kann."
„Is schon zu. Ach, und wir haben erstmal Fotos vom Chaos gemacht, auch von Tanjas blauem Fleck von dem Stoß gegen die Wand. ... Du kannst dir nicht vorstellen, Mama, WIE glücklich ich mit euch als meinen Eltern bin!"
Uuuuuund zack! Meine ganze, mühsam stundenlang aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung ist dahin. Mir schießen die Tränen aus den Augen, und ich nehme meinen wundervollen großen Sohn einfach fest in die Arme.

Jana Fr. 27.9.2019

Als ich morgens aufstehe, um meine drei Kinder zum letzten Schul- und Kindergartentag vor den Herbstferien loszuschicken, liegt Thorsten schlafend neben mir im Bett. Der muss echt spät gekommen sein, denn normalerweise wird er von meinem Wecker immer mit wach. Ich schlüpfe in meinen Jogginganzug, wecke die Kinder und gehe nach unten. Als ich aus dem Esszimmerfenster schaue, sehe ich Tanja mitten in ihrem Garten stehen. Starr, frierend und furchtbar allein. Während ich fürs Frühstück aufdecke, schaue ich immermal wieder hin. Bis sie plötzlich verschwunden ist. Kurz darauf kommt sie durch die Zwischentür zur Küche, schließt wieder ab und trägt wortlos die Brettchen und das Besteck nach nebenan. Dann drückt sie mir ein gefaltetes Blatt Papier in die Hand.
„Hier. Das sollte Thorsten haben, damit er dagegen vorgehen kann. Dieses furchtbare Weibsstück darf einfach nicht durchkommen damit."
Ah, alles klar. Der Brief. Ja, den werden wir brauchen.

Nach dem Frühstück sausen die beiden Großen zum Zähneputzen und dann zur Schule. Tanja greift sich ihren wichtigsten Koffer, nimmt mich lange in die Arme – und geht. Es reißt mich schier in Stücke, sie gehen zu lassen. Zwei Stunden später ist Ole im Kindergarten, das ganze Haus geputzt, die Wäsche erledigt und tausend andere Dinge dazu vor lauter Nervosität. Da endlich schlurft mein halbwacher Mann in die Küche. Er hatte sich für heute wohlweislich frei genommen. Es dauert eine Weile, bis ich ihm mit Hilfe des Briefes erklären kann, was gestern alles passiert ist.

Dann allerdings ist er sehr wach.
„Jetzt reichts aber! Wer passt in dieser Schule eigentlich auf irgendwas auf!?! Wie kommt die an das offizielle Briefpapier und an den Stempel? Ich knöpfe mir sofort diesen idiotischen Feigling von Direktor vor!"
Er will grade nach seinem Handy greifen, als Uwes Wagen vorbei und nebenan in die Einfahrt fährt.
„O.K. - eins nach dem anderen. Dann knöpfe ich mir eben den zuerst vor."
Thorsten stürmt die Treppe rauf und kommt kurz darauf angezogen wieder. Er geht durch die Küchentüren rüber und macht Uwe und Axel die Haustür von innen auf. Ich husche hinterher und lausche.

„Pass auf, Schwager. Wenn du jemals Max oder irgendjemand aus meiner Familie zu nahe kommst, dann bist du schneller im Knast, als du piep sagen kannst. Ich ..."
„Lass gut sein, Thorsten. Ich habe ihn schon in die Mangel genommen. Er hat bis Jahresende Zeit, um sich selbst in eine Klinik einzuweisen, sonst mache ich das. Inklusive Anzeige wegen häuslicher Gewalt und Co. Ist Tanja noch da?"
Diese Frage kann Thorsten natürlich nicht beantworten, weil er sich eben mal wieder selbst überholt hat.
„Keine Ahnung. Wenn sie schlau ist, dann nicht."
Axel fängt vor Wut an zu knurren. Ich trete den geordneten Rückzug an. Es dauert eine Weile, bis Thorsten und auch Uwe nachkommen.

„Danke nochmal, Jana, dass du das gestern alles so gut geregelt hast. Ich konnte ihn nicht länger bei mir halten, aber zum Glück ist nebenan alles Wichtige passiert. Als Axel Max leeres Zimmer gesehen hat, hat er noch zufrieden dreingeschaut. Aber als er dann im Schlafzimmer kapiert hat, dass Tanja weg ist, hat er uns rausgeworfen und sich dort eingeschlossen. Ich hab mir einen Schlüssel vom Haus mitgenommen und in seiner Firma Bescheid gegeben, dass er heute nicht mehr kommen wird. Ich werde häufig vorbeischauen und ihn im Zweifelsfalle vor sich selbst schützen."

Ich nicke bloß. In einer Stunde muss ich Max vom Bus abholen an Stelle von Tanja.
„Danke, Uwe. Ohne dich hätten wir ihn gestern nicht gebändigt gekriegt."
Uwe lässt sich noch erklären, was es mit dem Brief und dieser Lehrerin auf sich hat, verspricht, sich für alle Beteiligten nach guten Therapeuten umzusehen und verabschiedet sich dann.

Die Kinder kommen alle beide von der Schule nach Hause, pfeffern fröhlich ihre Schulranzen für die nächsten zwei Wochen in die Ecke und verschwinden in ihren Zimmern. Ich organisiere, dass Ole von einer befreundeten Mutter aus dem Kindergarten abgeholt wird, gebe auch dem Kindergarten Bescheid und schleiche gegen meinen eigenen inneren Widerstand an zur Haustür.
„Bis nachher. Ich fahr Max abholen."
Thorsten und ich sehen uns in die Augen. Es tut ihm genauso weh wie mir.

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9.11.2020

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