054 ** Rettermodus ** Do. 26.9.2019

Erwähnte ich bereits, dass ich Insekten hasse? Nicht? Gut, dann habe ich das jetzt nachgeholt. Dieser Penner von Can! Nur, weil er zu faul war, über einen morschen Baum drüberzusteigen, hat er den ruckartig zur Seite gerissen – und damit ein Wespennest zerrissen. Max ist in Sicherheit, Antoine kommt gut mit uns beiden klar, die Nacht ist überstanden, der Hunger ist erträglich, es ist nicht mehr so schwül wie gestern. Alles prima. Aber dafür hat jetzt unsere halbe Mannschaft Wespenstiche.

Bernd hat es am schlimmsten erwischt. Sein rechter Arm hat sieben Stiche abgekriegt und ist angeschwollen wie ein aufblasbarer Baseballschläger. Der Arm ist komplett unbrauchbar, die Schmerzen höllisch und sein Mut im Keller. Wir machen häufig Pausen und kühlen seinen Arm ausgiebig. Aber es ist eine ziemliche Tortur für ihn. Wir sind ganz unten in dem kleinen Tal, haben einen Bach durchquert und bewegen uns nun den Hang hinauf. Nach einer ganzen Weile scheint der Weg ebener zu werden, und Frau Tucher kündigt uns an, dass es nun nicht mehr weit ist.
„Schaffst du noch einen halben Kilometer? Es gibt nur noch ein Hindernis."
„Muss ja wohl, oder? Meine Füße laufen ja noch."
Immerhin grinst er noch, und genau wie Max hat er darauf bestanden, dass er nicht zum Arzt will.
Wir sind echt ein störrischer Haufen.

Aber vorher müssen wir noch durch eine tiefe ausgetrocknete Rinne. Bernd macht eine Vollbremsung und wird weiß um die Nase. Klettern war das, was ihm am Schwersten fiel – und mit nur einem Arm? Antoines Augen huschen sofort den Berg hinauf. Er spannt sich wieder an.
„Kann da was kommen?"
Frau Tucher dreht sich zu ihm um.
„Nein, keine Sorge, der ist immer trocken."

Der ausgetrocknete Bach hat sehr steile Ufer, und ich sehe sofort, dass Bernd da mit dem verbundenen Arm nicht durchkommt. Antoine schluckt, holt tief Luft, schließt die Augen, denkt angestrengt nach und geht zu Bernd. Es entstehen noch andere Gruppen, und alle beratschlagen, wie wir am besten rüberkommen. Das Ufer ist nicht so senkrecht, dass wir mit einem Dülfersitz runterkämen, zumal man dazu beide Arme braucht.

Schließlich einigen wir uns darauf, dass Milly, Can und Kolja sich gesichert einen Weg nach unten suchen, um eine flachere Stelle am „Ufer" zu suchen oder uns anderen dort Räuberleiter zu machen. Mit der Räuberleiter kommen alles Gepäck und alle Leute gut runter. Am Schluss stehen Antoine, Bernd, Moritz und ich noch da oben. Und Antoine übernimmt das Kommando.
„Könnten sich unten vier zur Räuberleiter aufstellen und alle anderen bereit sein, mich zu sichern? Ich habe allerdings die Bitte, dass ihr mich nur anfasst, wenn es unbedingt nötig ist. Versucht dann lieber, mir Bernd abzunehmen. Moritz und Paul, könntet ihr mich um diesen Felsen drumrum langsam abseilen?"
Alle nicken.
Aber Bernd kam noch nicht vor ...

„So, Bernd, komm her."
Meine Augen weiten sich, als er in die Knie geht und ihm seine Hand hinhält.
„Antoine. Du bist verrückt!"
„Nein, bin ich nicht. Er klettert jetzt auf meinen Rücken, ihr beiden seilt mich ab, und unten wird Bernd mir abgenommen."
Ernst schaut er mir in die Augen.
„Ich bin im Rettermodus, da geht das. Aber nicht lange, also los!"
„Na gut."
Bernd tritt von rechts an ihn heran, damit er seine „gesunde" Hand auf Antoines linker Schulter abstützen kann, stellt einen Fuß auf sein rechtes, gebeugtes Bein und schwingt das andere um seinen Rücken. Er hält sich sofort fest.

„So. Jetzt bringe bitte deine Beine vorne zusammen, solange ich nicht sage, dass es mich beim Klettern stört. Lege deinen kaputten Arm zwischen unsere Körper, deinen Kopf auf meine rechte Schulter und deinen linken Arm nach vorne. Hab gute Spannung in dem Arm, daran hängst du. Und drehe ihn nach unten, damit du mir nicht die Luft abschnürst. Wenn es dir zu wackelig wird, dann schließe die Augen, dann spürst du meine Bewegungen besser."
Damit dreht er sich um, rückwärts zur Kante, greift in das Seil, das Moritz und ich doppelt um den Felsen gelegt haben, und seilt sich langsam über die Kante ab.

Bernd wird unten gleich von seinem Rücken gehoben, während Antoine sich alleine weiter abseilt. Auf der anderen Seite des Baches geht die ganze Prozedur umgekehrt, wobei hier vier Leute oben ziehen. Und schließlich sind wir alle auf der anderen Seite. Alex geht sofort beiseite, setzt sich und schließt die Augen. Ich schaue Frau Tucher an und bitte um eine Pause. Sie versteht sofort. Moritz lässt sich schweißgebadet neben mich fallen.
„Oh Mann! Ich hatte sooo Schiss, dass ich die fallen lasse. Wie ging es dir damit?"
Ich lächele.
„Ich hab mich bombensicher gefühlt, weil Antoine so viel Sicherheit ausgestrahlt hat."
Antoines Augen öffnen sich, und er schaut mich lange dankbar an. Dann steht er auf und schultert wieder seinen Rucksack. „Ich könnte wieder."

Gemeinsam machen wir uns auf zur letzten Ettappe. Ich laufe neben Antoine.
„Möchtest du alleine sein, oder ist das in Ordnung?"
Er schaut mich an.
„Ich habe solche Menschen wie Dich und Max und Moritz noch nie erlebt. Franzosen sind nicht so frei. Bis zum Erbrechen höflich, aber überhaupt nicht aufmerksam. Bernd da rüber zu bringen, hat mich unglaublich viel Energie gekostet. Aber es fühlt sich an wie ein Befreiungsschlag. Ich weiß jetzt zumindest vom Kopf her, dass es geht, dass ich Menschen berühren kann und darf. Bis das normal ist und ich normal leben kann, wird es sicher noch lange dauern, aber es ist ein Anfang."
Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her.
„Ja, es ist in Ordnung. Du tust mir gut. ... Warum hast du das gesagt? Eben. Dass ich Sicherheit ausgestrahlt habe."
"Weil es so war. Ich habe dich beobachtet. Vorher, drüben. Du hast gezögert, dann hast du einen Entschluss gefasst. Von da an warst du anders. Sehr klar. Ich wusste, dass du weißt, was du tust. Und dass du in der Lage bist, die Situation richtig einzuschätzen. Und dass du deine Grenzen richtig einschätzen konntest. Ich wusste, dass du das schaffst, wenn wir da oben unseren Job gut machen. Wenn etwas schief gegangen wäre - dann wegen Moritz und mir."
"Danke. Das bedeutet mir unglaublich viel."

Vor uns entsteht zwischen Kolja, Can und Alex ein Gespräch darüber, was sie jetzt gerne als erstes essen würden. Ich muss schmunzeln.
Spannend, wie unwichtig Essen wird, wenn man sich um seine Freunde sorgt und sich darauf konzentriert, sein Bestes zu geben.
Antoine und Bernd waren in den letzten zwei Stunden so viel wichtiger, dass ich jeden Hunger völlig vergessen habe.

Wir essen noch während einer Schattenpause die Reste unserer Vorräte und kühlen wieder Bernds Arm. Und eine Stunde später wird aus dem Unterholz ein Trampelpfad, dann ein richtiger Weg. Wir haben es geschafft. Irgendjemand vorne fängt an, „we are the Champions" von Queen zu grölen, und bald fällt die ganze Gruppe mit ein. Wir nähern uns unüberhörbar dem Freizeithaus und stürmen dort sofort in die Zimmer und dann in die Gemeinschaftsbäder. Moritz, Antoine und ich gehen direkt zu unserem Zimmer, um nach Max zu sehen. Vor der Tür zu unserem Zimmer steht ein seltsames, grünes Gebilde.
„Was'n das?"
„Keine Ahnung, Moritz. Vielleicht ein Feldbett???"
„Egal."
Wir stürmen unser Zimmer und machen eine Vollbremsung. Max liegt zu einer Kugel zusammengerollt in seinem Bett, klammert sich an seinen Schwan und weint stumm vor sich hin.

„Ach, du Sch... Max, hast du Schmerzen? Ist was passiert? Willst du nicht doch zum Arzt? Wieso bist du überhaupt alleine in dem Zustand? Wir ..."
„Lasst gut sein, Jungs. Mir ist nur noch grauselig schwindelig. Aber ich bin müde, abgekämpft, ferienreif - und traurig, dass ich nicht dabei sein konnte."
Er wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und richtet sich gaaaaanz vorsichtig auf.
„Aber ihr kommt grade recht, denn ich saufe wie ein Fass ohne Boden und muss dauernd für kleine Königstiger. Wer bringt mich hin? Dann muss Freddy das nicht mehr tun."

Hier stimmt doch was nicht! Max heult nie aus solchen Gründen. Entweder ist er viel kränker, als er vorgibt, und hat darum keine Selbstbeherrschung mehr, oder ... Da ist irgendwas anderes, was er uns nicht sagen will. Aber das ist eigentlich auch noch nie vorgekommen – dass er Geheimnisse vor uns hat.
Moritz und ich schauen uns stumm an, Antoine verzieht sich in den Hintergrund. Zu zweit bringen wir Max zu den Toiletten und anschließend zurück ins Bett. Die Duschen sind eh alle belegt, da können wir auch einfach noch weiter quatschen.

Antoine hat im Zimmer auf uns gewartet und schaut nun Max entgegen.
„Darf ich dir was erzählen?"
„Na klar, schieß los! Wie ging es dir nach meinem Abgang?"
Der junge Franzose holt tief Luft und erzählt uns allen, was in ihm vorgegangen ist, als er Bernd durch den Graben getragen hat.
„Ich war im Rettermodus, wie bei der Übung in dem Bach. Trotzdem habe ich mich gefragt, ob ich es so lange aushalten werde, so umklammert zu werden. Deshalb habe ich mir das Gesicht von Claire vorgestellt. Und das ging dann. Ich habe einfach Claire da rübergetragen, und so konnte ich das aushalten."
Max hat sich bei der Erzählung wieder aufgerichtet und konzentriert zugehört. Dann strahlt er Antoine an.
„Siehst du? WOW! Ich bin echt total stolz auf dich! Jetzt kann dir die Erinnerung an Claire schon eine Hilfe sein. Vielleicht war es sogar gut, dass ich raus musste, weil du auf diese Weise gemerkt hast, dass auch ohne meine Hilfe ganz viel geht."

Wer verarscht hier eigentlich wen? Eben noch hat er angeblich geheult, weil er nicht dabei sein konnte. Jetzt sagt er mit leuchtenden Augen, dass das gut war??? Total fertig und am Ende und dann plötzlich so konzentriert und begeistert?
Wieder schaue ich Moritz an und sehe dieselben Fragezeichen in seinem Gesicht.
Also – entweder will er nicht reden, weil das wasauchimmer Antoine nichts angeht. Oder er ist sich noch nicht sicher wegen wasauchimmer. Oder er will uns keine Sorgen machen. Oder ...
Wir werden es erfahren, das hält der eh nicht lange durch.

Wir drei Wanderer gehen jetzt auch endlich duschen. Klasse – da ist jetzt ganz viel Platz, alle anderen sind schon durch. Und dann bimmelt es auch schon bald zum Abendessen. Wie die ausgehungerten Wölfe stürzen alle aus ihren Zimmern und in den Speisesaal. Moritz und ich kommen mit Max langsam nach. Er läuft diesmal alleine, langsam, aber alleine. Allmählich verstehe ich gar nichts mehr. Unterwegs überholen uns Frau Tucher mit noch nassen Haaren und Frau Süß, die Moritz angrinst.
„Hei, das Trio ist wieder vereint. Ich hoffe, die Pflege unseres Patienten durch Freddy und mich ist zu eurer Zufriedenheit ausgefallen. Wobei ... ich bin ja nur mit ihm spazieren gegangen, habe Gänse gesucht, Eimer ausgespült und eure Matheklausuren korrigiert."

Max schaut zu Boden und setzt mechanisch einen Fuß vor den anderen.
Und ich verstehe endgültig gar nichts mehr.
Im Speisesaal wird Max von allen anderen fröhlich begrüßt und mit Anekdoten überhäuft. Das ist nun unzweideutig viel zu viel für ihn, und so bremsen wir die anderen. Aber das erledigt sich sowieso sehr schnell, denn bald schon dringt nur noch gefrässige Stille an unsere Ohren. Zum Reden hat niemand mehr den Mund frei ...

Nach einer weiteren Pause versammeln wir uns im Gruppenraum. Auch Max kommt mit, wir tragen seine Bettdecke und Kissen und installieren ihn auf dem grünen Ding, das tatsächlich eine Liege ist, vor uns im Kreis. Erst quatschen alle wild durcheinander, aber dann lenkt Frau Süß das Gespräch. Sie hat Plakate mit Überschriften an die Wände gehängt, und wir alle sollen nun unsere Eindrücke zu den zwei Tagen aufschreiben. Es ist spannend und wird schnell ganz still im Raum. Dr. Fahrendorf geht mit Max rum, damit auch er was aufschreiben kann.

Anschließend reden wir nacheinander über die verschiedenen Plakate.
    „Das Tollste war ..."
    „Das Schlimmste war ..."
    „Die Vorbereitung war ..."
    „Meine größte Herausforderung war ..."
    „Meine Gefühle vorher und hinterher"
Ich höre und schaue mir das einfach eine Weile an. Und dann begreife ich, was für mich das Tollste ist, und das platzt dann auch gleich aus mir raus.
„Wir sind 15 Menschen, die alle total unterschiedlich sind. Aber wir haben gelernt, uns ganz aufeinander einzulassen. Dadurch wurden Dinge, Gespräche und Momente möglich, von denen wir niemals zu träumen gewagt hätten vorher. Wir haben unaufgefordert unsere Stärken eingebracht, wir haben ehrlich unsere Schwächen zugegeben. Wir sind einfach unglaublich einfühlsam miteinander umgegangen. Ich würde SOFORT wieder mit euch allen da rausgehen, denn ich habe von jedem von euch das Beste kennengelernt. Und das hätte ich am Anfang echt niemals für möglich gehalten. Danke für diese irre Erfahrung."

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7.11.2020

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