053 ** und jetzt? ** Do. 26.9.2019

Am liebsten würde ich schreien vor lauter Frustration. Ich will Max nicht verstecken. Ich will ihn offen und ehrlich und einfühlsam lieben – aber auch in Sicherheit wissen. Und das geht einfach nicht zusammen.
„Soll ich mal sortieren?"
„Hm-mm."
„Ich bin demnächst 24 Jahre alt, habe einen festen Job, bin entweder zu Hause oder in der Schule oder im Verein. Mir geht's gut. Und jetzt habe ich auch noch den tollsten Freund der Welt. Aber: ich bin deine Lehrerin, ich muss deine Klausuren benoten, deine Leistungen beurteilen, dir Prüfungen abnehmen. In Sport muss ich dich siezen, in Mathe darf ich dich duzen. Bei mir zu Hause können wir entspannter sein, aber Jenny sollte es nicht zuuuuu früh mitkriegen – zu deinem eigenen Schutz. Und verboten ist das ganze auf jeden Fall."
Er muss ja nicht wissen, dass ich morgen Geburtstag habe ...

„O.K. - ich bin 17 Jahre alt, werde im Februar 18, bestehe hoffentlich im Mai mindestens eine Aufnahmeprüfung und schaffe dann bis Juni das Abitur. Ich tanze viel, habe viel Rückhalt von Freunden, von Jana, Tanja und dem Rest meiner Familie, von einigen Lehrern und komme mit dem Lernen gut klar. Aber: es ist wahnsinnig viel, ich komme kaum zum Luftholen, habe Angst vor meinem Vater und Frau Hartmann und stehe eigentlich jeden Tag mit einem Bein schon vor der Tür, weil ich rausgeschmissen werde.
Ich habe mich in die tollste Frau der Welt verliebt und schwebe im siebten Himmel vor Glück. Ich suchte gradezu das Thema meiner Facharbeit, ich bin eine große Hilfe für Antoine, ich weiß, was ich mir für mein Leben wünsche. Aber: in der Schule muss ich dich siezen, darf dich nicht beobachten, muss meine Zunge hüten. Ich darf mich niemals mit den Namen verplappern, und ich möchte auch weiterhin sehr selbständig lernen und handeln und reflektieren und weiter wachsen. Sowohl in der Schule als auch zu Hause darf das NIEMAND kapieren. Nur meine Freunde und Frau Tucher werden uns sicher bald auf die Schliche kommen. Dann wird das Gehampel noch größer, denn dann sind es noch vier Leute mehr, die ihre Blicke und ihre Zunge im Zaume halten müssen."

Betretenes Schweigen.

„Und wenn ich dich immer sieze? Dann ..."
„... fällt es allen so sehr auf, dass erst recht alle misstrauisch werden. Denn du kannst nicht den ganzen Mathekurs duzen und nur mich siezen - das funktioniert nicht."
„Es sei denn, ich verquatsche mich, dann ist es offiziell zu Ende."
„Und du glaubst, dass sie dir DAS abkaufen?"
Wir müssen beide grinsen.
Und uns küssen.
Und wieder ernst werden.

Plötzlich fängt Max an zu lächeln und schaut mich so warm an, dass mir ganz anders wird.
„Fällt dir eigentlich was auf?"
„Was denn?"
„Wir haben vollkommen selbstverständlich vorausgesetzt, dass wir beide uns wirklich lieben, dass wir eine Beziehung wollen und dass wir uns nicht so schnell unterkriegen lassen wollen."
Spontan schießen mir Glückstränen in die Augen. Max küsst sie sanft weg.
„Außerdem sind wir uns völlig einig, dass wir in keinerlei Hinsicht küngeln, Vorteile verschaffen oder sonstwie mauscheln wollen. Denn du willst weder deinen Job noch mich verlieren. Und ich will weder meine Selbständigkeit noch mein Abi noch dich verlieren,"

„Ach, Max. Du bist wunderbar."
„Hä? Wieso das denn jetzt?"
Er legt den Kopf schief und schaut mich verwirrt an, was mich fast in den Wahnsinn treibt.
„Du verbiegst dich nicht. Du watest seit Monaten rund um die Uhr in der Scheiße. Aber du bleibst aufrecht dabei. Und ganz nebenbei hast du sogar noch die anderen neben dir im Blick, setzt dich für Schwächere ein und schonst dich dabei nicht."
„Gestatten? Mein Name ist 'heiliger Maximilian'. Bitte, Anni, lass mich sofort wieder runter vom Sockel!"
„Was für'n Sockel? Im Moment kannst du nicht mal alleine aufstehen. Da ist auf Sockeln rumklettern ganz bestimmt nicht drin."

Uuups – das war wohl zu viel.
Blitzschnell hat Max mich gepackt und kitzelt mich so richtig durch. Normalerweise kann ich mich ja beherrschen. Aber er findet wirklich jede Stelle, und so winde ich mich bald kichernd in seinen Armen.
Sch... - ist der stark! Fühlt sich aber gut an. Erstaunlicherweise – denn Ausgeliefertsein kann ich ja gar nicht ab.
Erst, als ich es schaffe, ihn zu küssen, ist er so abgelenkt, dass er mich einfach in die Arme nimmt und an sich zieht. Warm und weich und unglaublich zufrieden kuschele ich mich an ihn und genieße den Moment. Und schon wieder schmelze ich dahin – denn Max schläft ganz schnell ein.
Mein wunderbares Riesenbaby ...

Ich löse mich wieder von ihm und klettere einfach aus dem Fenster, weil ich weiß, dass da eine Bank steht. Ich schließe die Augen und genieße die Sonne. Lange schläft Max diesmal nicht. Ich höre seine Stimme von drinnen – erst leise, dann immer lauter.
„Anni?"
„Ich bin draußen, Max."
Ich stehe auf und grinse ihn durchs offene Fenster an.
„Hei, bist du gewachsen? Wieso kannst du da reinkucken???"
Irritiert kratzt er sich am Kopf. Ich muss kichern.
„Weil hier'ne Bank steht."
Ich klettere wieder rein.

„Komm, es ist Zeit für den nächsten Spaziergang. Mal sehen, was es zum Mittag gibt."
Ich helfe ihm hoch und bringe ihn ins Bad. Anschließend spazieren wir wieder den Gang entlang zur Küche.
„Danke, Frau Süß. Ich fühle mich schon wieder ein bisschen stabiler. Aber ich glaub, wenn die anderen nachher da sind, sollen die mir mal helfen, mich zu duschen und was Frisches anzuziehen. Ich fühle mich langsam ziemlich klebrig."
Freddy schaut uns durch die offene Küchentür entgegen.
„Das ist eine seeeeeehr gute Idee. Und ansonsten: ANNI ist nur mit dir den Flur auf und ab gegangen. ALLES andere habe ich gemacht. Ist das klar?"

Kollektiv schlagen Max und ich die Hände vor den Mund.
Wie hat der DAS denn mitgekriegt? Sind wir soooo auffällig???
Freddy lächelt.
„Keine Sorge, ich bin ganz bei euch. Und wenn ich heute Vormittag nicht zufällig an eurem Fenster vorbeigelaufen wäre, hätte ich es auch nicht kapiert. Aber lasst euch das bitte eine Lehre sein, dass Nichtgesehenwerden keine Garantie für Nichtverstandenwerden ist. Ihr werdet euch echt zusammenreißen müssen. Ich weiß, dass keiner von euch jemals einen Betrug begehen könnte. So seid ihr nicht. Aber es könnte euch unterstellt werden. Und darum wirst du, Max auch direkt nach dem Mittagessen zurück in dein Zimmer ziehen, damit ihr das in Ruhe machen könnt und auch wirklich nichts überseht. Ich stelle noch ein Feldbett vor deine Tür, damit es so aussieht, als hätte ich bei dir übernachtet."

Ich atme tief durch.
„Danke, Freddy. Du bist eine Perle!"
Max sagt erstmal gar nichts mehr. Er ist ein bisschen rot geworden und setzt sich mit hängenden Schultern an den Küchentisch. Mellanie stellt uns eine leckere Buchstabennudelsuppe auf den Tisch und nickt uns zu. Wir fangen alle an zu essen – außer Max.
„Freddy?"
„Ja?"
„Ich ... Findest du das komisch? Ich mein'... Du kennst Antonia schon ganz lange. Und ich bin ... doch noch ein Baby."
Och, nööö. Das ist wirklich ein Problem für ihn. Ich werde Geduld haben müssen.

Mellanie hört auf zu essen und schaut Max freundlich an.
„Du bist jünger als Toni. Aber das heißt gar nichts. Ich bin auch vier Jahre älter als Freddy. Na und? Wir waren jung, wir waren verliebt. Wir hatten denselben Traum. Und hier sind wir. Total zufrieden und glücklich. Wir leben im 21. Jahrhundert. Da sollte es doch wirklich egal sein, wer älter ist. Die statistische Wahrscheinlichkeit, das beide genau gleich alt sind, ist doch relativ gering."
Jetzt muss ich grinsen.
„Ich glaube, das Thema Statistik ist grade nicht erwünscht."
Max verzieht angewidert das Gesicht, und Freddy und Mell schauen irritiert aus der Wäsche. Ich erkläre das aber nicht weiter.
„Und woran hast du es gemerkt, Mell?"
„Wir kennen dich seit über vier Jahren. Und du bist auf einmal von gestern auf heute ein anderer, glücklicherer Mensch als damals, wo ..."
„Bitte nicht!"
Kurz schaut sie mich irritiert an, dann sehe ich Verstehen über ihr Gesicht huschen.
Und wie komm ich da wieder raus???

Es ist egal. Denn Max nimmt sachte meine Hand.
„Ich weiß, dass dir irgendwann was Schlimmes passiert sein muss. Und ich weiß, dass du noch nicht darüber reden willst. Also frage ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Du sollst den Moment finden, wo du mir das anvertraust."
Mellanies Augen weiten sich.
„Autsch! Sorry, Toni. Ich bin ein Paddel. Gut, dass du mich gebremst hast."
„Sch...schon gut. Ist ja nichts passiert. Aber wieso bin ich wie ausgewechselt?"
„Ich weiß nicht, ich habe es gespürt. Und als Freddy vorhin reinkam und mir seine Vermutung berichtet hat, war es mir klar. Du bist aufrechter, nicht mehr so auf der Hut. Deine Stimme ist leichter. Und heller."
Ich nicke bloß.
Alles klar, Jenny werde ich keine Sekunde lang täuschen können ...

Freddy zwinkert Max zu.
„Gewöhn dich gleich dran. DAS ist weibliche Intuition, genetisch irgendwie ans X-Chromosom gekoppelt. Wir Ypsilone können uns Beine ausreißen, da kommen wir niemals ran."
Max grinst zurück.
„Na, dann hat ihr X gestern aber gründlich versagt. Sie ist nämlich genauso aus allen Wolken gefallen wie ich. Und wenn das X sich selbst nicht versteht, kann es damit ja nicht sehr weit her sein."

Nach dem Essen scheucht uns Freddy zurück.
„So, ihr Turteltauben. Zimmer zurücktauschen. Und dann plant mal schön weiter eure nähere Zukunft!"
Max hat grade ganz normal gegessen, und auf dem Rückweg läuft er auch alleine. Aber meine Hand lässt er nicht los. Wir sammeln seine Sachen zusammen und tragen alles zurück nach nebenan. Ich richte ihm wieder das Bett und hole dann auch den Eimer und das diverse Geschirr rüber. Ich mache bei uns Jennys Bett wieder frisch, schaue in unserem Bad nach, gehe ins Jungszimmer und packe seine Schmutzwäsche in seine Reisetasche.
„So. Haben wir was vergessen?"
Max hockt auf seinem Bett und schaut mich traurig an.
„Ja, haben wir."
„Was denn?"
Da deutet der Schlingel auf seine Lippen.
„Der Letzte ist schon viiieeeeeeeel zu lange her. Und wir brauchen einen Vorrat!"
Na, das lasse ich mir doch nicht zweimal sagen ...

Den Rest des Nachmittags verbringen wir in seinem Bett, kuschelnd, redend. Wir denken uns Spielregeln für die nächsten Wochen und hoffentlich Monate aus und spielen durch, in welcher Situation welche Strategie am ehesten praktikabel ist. Irgendwann schweigen wir einfach, spüren die Wärme des anderen und warten. Jenny piept mich an.
„Halbe Stunde noch!"
„Max? Wir haben noch eine halbe Stunde. Sein Blick fällt auf mein Handy, und er seufzt. Dann ist es wieder still.

Bis es draußen auf dem Flur rumpelt. Es klopft, und Freddy steckt seinen Kopf rein.
„Ich hab was singen gehört. Sie sind gleich da. Machts euch nicht zu schwer. Und sorry für den Lärm, das Feldbett ist umgefallen."
Dann ist er wieder weg. Unsere Augen versinken ineinander. Ich fahre ihm durchs Haar und küsse ihn sanft.
„Ich passe weiter auf dich auf, Max. Ich lasse die Schreckschraube nicht mehr an dich ran. Versprochen."
Dann stehe ich auf und gehe schnell raus. Bevor ich noch anfange zu heulen. Denn ich fühle mich gleichzeitig wie im siebten Himmel und erfüllt mit einer düsteren Vorahnung, als stünde ich im Vorhof zur Hölle.

...........................................

6.11.2020

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top