048 ** ohne Mütze ** Mi. 25.9.2019

Lore darf jetzt endlich aufwachen. Sie ist zwar körperlich glimpflich davongekommen. Dafür redet sie verwirrt und weiß nicht mehr, wer sie ist. Entsprechend versucht sie abzuhauen. Darum bekommt sie Annika als Wachhund an die Seite gestellt. Bernd fühlt sich wieder fitter. Aber wir alle drei bekommen kein Gepäck auf den Rücken, damit wir möglichst lange durchhalten. Da die Sonne inzwischen ziemlich hoch steht und heute ziemlich stechend vom Himmel strahlt, improvisieren noch alle eine Kopfbedeckung, die keine Mütze haben. An meinem Arm werden die Socken durch einen richtigen Verband ersetzt. Das ganze Paket wird mir mit einem Tuch um die Schulter gehängt. Und dann sind wir bereit, aufzubrechen ins Ungewisse.

Es fühlt sich irgendwie komisch und falsch an, wegen einem simulierten Armbruch zuzusehen, wie zum Beispiel Alex die gesamte Kletterausrüstung trägt. Das Seil ist heftig schwer. Andere tragen mehrere Liter Getränke oder für uns Drei die Lebensmittel und unser ursprüngliches Gepäck mit. Der Weg, den wir nun einschlagen, führt am Hang entlang, hat immer wieder trockene Rinnen oder Felsen, die wir überwinden müssen, und glüht in der Hitze. Wir alle müssen uns zusammenreißen, nicht sofort alles auszutrinken, was wir dabei haben.

Mir läuft der Schweiß den Nacken runter, und der Verband ist bei den Temperaturen auch nicht grade gemütlich. Ich nehme mir die Mütze ab und fahre mir einmal mit der gesunden Hand durch die verschwitzten Haare. Genau in dem Moment stolpert Bernd, fällt gegen mich und meine Mütze segelt mehrere Meter abwärts in ein stacheliges Gestrüpp.
Mist! Ich kann doch Sonne nicht ab.
Ich habe keine Lust auf Trara, also sage ich nichts und laufe einfach weiter. Offensichtlich habe ich aber die Herausforderung unterschätzt. Oder die Auswirkungen meines Schlafmangels. Der Durst wird immer größer, die Schritte immer schwerer, aber erst eine Stunde später, nach der Überwindung diverser Hindernisse, dämmert mir, dass ich vielleicht aufhören sollte, den Helden zu spielen.

Mir ist auf einmal furchtbar schwindelig. Ich greife mit der gesunden Hand ins Leere, um einen Halt zu finden. Zum Glück erwische ich gleich Paul, der mich sofort hält.
„Max? Alles in Ordnung? Dein Gesicht ist ganz rot!"
Ich schüttele nur mit dem Kopf und stolpere neben ihm weiter. Bald schon muss ich mich auf jeden Schritt konzentrieren, damit ich nicht falle.

Ich bin ganz stolz auf unsere Mädels und Jungs. Egal, welches Hindernis wir bisher zu überwinden hatten – alle haben sich konzentriert und wirklich kooperiert. Niemand hat mit seinem Wissen oder Können hinterm Berg gehalten, niemand hat versucht, mit seinen Fähigkeiten anzugeben. Hand in Hand, ohne Murren, ohne Drängeln, bringen wir alle gemeinsam unsere Gruppe vorwärts. Und dabei haben alle trotz der schwülen Hitze gute Laune. Es wird geblödelt, gelacht und an Ende des Zuges sogar gesungen. Ich muss grinsen.
Wenn ich denen am ersten Samstag gesagt hätte, dass sie hier zu „das Wandern ist des Müllers Lust" durchs Gebüsch kriechen würden – die hätten mich für bekloppt erklärt.

Antoine, von dem ich gestern Abend noch dachte, wir könnten ihn nicht mitnehmen, scheint wie ausgewechselt. Max hat mir ja den Hintergrund nicht erzählt, aber ich weiß, dass er unverarbeitete Traumata hat, die sich unter anderem in Berührungsängsten äußern. Und dass morsche Brücken und reißende Bäche eher kontraproduktiv sind. Also hab ich Freddy heute Morgen noch gebeten, dass er unseren Weg nicht über die morsche sondern über die neue Brücke führen soll. Eine Bachdurchquerung haben wir nur morgen im Tal. Und der Wasserfall, zu dem wir gleich kommen, ist relativ harmlos eingestellt.

Ich werde mit Max hinterher noch sprechen müssen, damit er sich nicht daran übernimmt, für Antoine da zu sein, denn das ist eigentlich nicht seine Aufgabe. Aber Antoine scheint Vertrauen zu ihm gefasst zu haben. Und das macht es möglich, dass er heute zwar angespannt, aber ganz aktiv dabei ist. Max imponiert mir immer mehr. Er kann ja genauso albern und verrückt sein wie alle anderen auch. Und schmollen kann er wie ein Fünfjähriger.
Wenn ich ehrlich bin: jeder Erwachsene tut das noch ab und zu.
Aber er übersieht niemals, wenn es Zeit ist, ernst zu sein und hinzuhören oder mit anzupacken. Ich muss kichern, höre aber schnell wieder auf, als mich Jenny irritiert anschaut.
Eigentlich ist Max ein Traummann, nur ein bisschen jung ... Und ich hab dem ja sowieso abgeschworen. Pragmatisch, praktisch, Toni.

Wir nähern uns dem Wasserfall, und inzwischen können wir ihn auch rauschen hören. Da ruft Paul nach mir.
„Frau Süß, Max geht's nicht gut. Und diesmal ist es echt."
Als ich mich umdrehe, sehe ich sofort den Grund. Er hat wohl seine Mütze verloren, denn inzwischen hängt er nur noch schwer an Paul mit feuerrotem Gesicht und unkoordinierten Bewegungen.
„Jenny? Du bist dran. Die Gruppe gehört dir. Wir müssen Pause machen, Max braucht einen Platz im Schatten, zu trinken – und keine Neugierigen."
Jenny reagiert sofort und übernimmt die Gruppe.

Moritz, Paul und Antoine bleiben bei mir und helfen Max in den Schatten. Antoine holt ein T-shirt aus seinem Rucksack und rennt zum Wasserfall. Er macht das Shirt klitschnass und legt es Max in den Nacken, während ich versuche, aus Max vernünftige Antworten heraus zu bekommen.
Grad hab ich noch gedacht, er wär so vernünftig ...
„Max, trink erstmal so viel, wie du aufnehmen kannst. Und dann sag mir, ob du mich noch richtig hörst und verstehst."
Paul hält ihm eine Wasserflasche an den Hals, und Max säuft sie ziemlich schnell leer. Ich piepse Freddy an und benachrichtige ihn, wo er Max und mich einsammeln soll.

„Danke. Ja, ich verstehe alles. Auch, dass ich ein Idiot bin."
Wider Willen müssen wir alle lachen.
„Ich hab meine Mütze verloren, als jemand gegen mich gestolpert ist. Ich hab versucht, zu trinken, im Schatten zu laufen, alles Mögliche. Aber jetzt hats mich doch erwischt. Sorry, dass ich jetzt alles aufhalte."
„Jemand. Soso. Egal. Du hättest sofort ... Ach, wirklich egal. Hauptsache, du bist noch ansprechbar. Wenn ich dich so ansehe, hast du einen tüchtigen Sonnenstich, und damit ist die Tour für uns beide beendet."
„Was? Nein!"

Zu meinem Erstaunen ruft auch Antoine flehend: „Nein!" Und selbst in diesem Zustand scheint Max noch zu wissen, warum. Er schaut Antoine an.
„Hei, Kumpel. Kannst du mir einen Gefallen tun?"
Antoine nickt.
„Jeden!"
„Gut. Bilde dir bloß nicht ein, dass das jetzt an dir liegt, hast du verstanden? Das kann ich ganz schön alleine, solchen Mist zu bauen."
Dann wendet er sich an seine Freunde.
„Ich könnte kotzen, aber ich habs wohl wirklich verbockt. Tut mir den Gefallen und vergesst bitte, was ich grade gesagt habe. Ich vertraue euch Antoine an. Eigentlich müsst ihr nur mithelfen, dass er nicht berührt und nicht gedrängelt wird. Den Rest steuert er ganz gut alleine."
Junge, Junge – wie kannst du in der Lage noch so konstruktiv an andere denken!?!

Kurz darauf beißt er die Zähne zusammen.
„Sch... - mir wird übel."
„O.K. - das ist das Signal zum Aufbruch. Wickelt ihr Max bitte den Verband ab und tragt ihn hinter mir her? Dann erfahrt ihr jetzt ein Geheimnis, das ihr den anderen bitte nachher nicht verratet."
Während Jenny und Lennart mit der Gruppe beraten, wie sie alle einigermaßen trocken an dem Wasserfall vorbeikommen, gebe ich Jenny ein paar Ausrüstungsgegenstände und die heimliche Geländekarte. Dann unterbreche ich sie kurz.
„Max hat einen Sonnenstich. Da das dein Projekt ist und Lennart bei dir sein sollte, bin ich jetzt mit Max raus. Schaffst du das?"
Jenny nickt.
„Wie schade für ihn. Sieh zu, dass du ihn zur Herberge bringst, bevor es schlimmer wird. Weiß Freddy Bescheid? Ich halte dich auf dem Laufenden."

Ich nicke nur. Dann winke ich den drei Jungs, die Max halb tragen, halb stützen, und verschwinde im Dickicht. Wenige Meter weiter, hinter dem Wasserfall, ist zum Glück einer der „Notausgänge" vom Gelände. Dort erwartet uns bereits Freddy mit seinem großen Auto. Und weit ist es von hier zum Haus nicht.
Max hängt wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf der Rückbank, nachdem die Jungs ihn hingelegt haben. Antoine schaut ihn an.
„Danke für alles, Max. Ich geb mein Bestes. Und wenn du dich auf Moritz und Paul verlässt, dann schaff ich das auch."
„Hab ich nicht gesagt, du bist stark? Ich denk an dich."
Dann muss er würgen und hält jetzt lieber die Klappe. Antoine hat ihm das nasse T-shirt gelassen. Da wickele ich jetzt die Kühlakkus von Freddy ein und lege ihm dieses Päckchen wieder in den Nacken.

„Antonia, sollen wir gleich ins Krankenhaus fahren? Oder ..."
„Nein! Auf keinen Fall! Mein Vater bringt mich um!!!"
Da hock ich nun zwischen Baum und Borke und muss eine Entscheidung fällen.
Ach, Max. Was ist jetzt bloß das Richtige?
„Bitte! Sie wissen, wie dünn das Eis ist, auf dem ich balanciere. Bitte nicht ins Krankenhaus. Ich hab hinterher die Hölle!"
Ich gebe mir einen Ruck.
„Na gut. Aber unter der Bedingung, dass du absolut genau das tust, was ich sage, und kleinbei gibst, wenn es doch nicht anders geht."
Auwei, jetzt laufen auch noch Tränen. Der ist echt durch.
Und muss schon wieder würgen.

Zum Glück sind wir aber schon da. Freddy hebt Max aus dem Wagen, der sich daraufhin erstmal ins Beet übergibt.
„Bring ihn bitte in mein Zimmer. Das wird vielleicht eine lange Nacht, und dann kann ich wenigstens zwischendurch mal dämmern. In seinem eigenen Zimmer müsste ich auf einem Stuhl daneben hocken, und das Klo ist zu weit weg."
„Jennys Bett?"
„Jennys Bett."
Während Freddy sich um Max kümmert, flitze ich schonmal rein und hole Max Bettzeug aus seinem Zimmer. Damit baue ich schnell Jennys Bett um. Freddys Frau kommt mit einem Eimer an, und den braucht Max leider auch sofort.

Ich hole schnell noch bequeme, luftige Klamotten für Max und bitte Freddy, ihn umzuziehen, während ich mich im Bad bequemer anziehe. Freddy hat seine liebe Mühe, denn inzwischen kotzt Max sich die Seele aus dem Leib. So zügig wie möglich übernehme ich Max, setze mich neben ihn und halte seinen Kopf, während er immer weiter würgt, auch dann noch, als schon lange nichts mehr drin ist. Ich mache ihm Wadenwickel, flöße ihm zu trinken ein, leider vergeblich, weil das alles sofort wieder rauskommt. Aber mit Wasser tut das Würgen wenigstens nicht so weh als ohne, und es schmeckt auch nicht ganz so widerlich nach Galle.

Irgendwann fängt er dann auch noch an zu weinen, weil er sich so hundeelend fühlt und doch so gerne dabei gewesen wäre. Ich setze mich neben seinen Kopf, lege mir den so auf den Schoß, dass er noch schnell über den Eimer kommen kann, und streiche ihm beruhigend über den verkrampften Rücken. Zum Glück werden die Pausen zwischen den Würgeanfällen allmählich länger. Irgendwann dämmert er dann ganz erschöpft weg, und ich kontrolliere seinen Puls und seine Atmung, um sicher zu gehen, dass er nicht bewusstlos ist. Aber er atmet normal und entspannt sich endlich.

Armer Kerl! Hoffentlich hat er nachher kein schlechtes Gewissen, dass er Antoine allein gelassen hat. Und hoffentlich kommt der auch mit Paul und Moritz gut klar.
Ich bleibe einfach sitzen und versuche, auch für mich eine entspannte Sitzposition zu finden, damit ich es so eine Weile aushalten kann. Ab und zu wacht Max halb auf, weil er doch nochmal würgen muss. Ich halte ihn dann, spreche ruhig mit ihm, erneuere die Wadenwickel und das Kühlpack im Nacken. Aber die ganz heftigen Symptome klingen doch langsam ab.

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1.11.2020

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