031 ** Sebastian ** So. 25.8.2019
Am Sonntag Nachmittag holt Lennart Jenny ab, weil sie gemeinsam zu einem Kletterwald fahren wollen. Ich bin mit Sebastian verabredet. Wir wollen uns einfach am Baldeneysee treffen und uns im Zweifelsfall mit einem Eis auf eine Wiese setzen, damit wir uns unbelauscht fühlen können. Ich halte Sebastian nicht für den Typ, der anfangen wird zu weinen. Eher wird er wieder völlig dicht machen. Aber ich packe vorsichtshalber ein Päckchen Taschentücher ein. Denn der Anfang seiner traurigen Geschichte war vermutlich nur die Spitze des Eisberges.
Da mir der Heisinger Berg einfach zu steil ist, fahre ich heute mal nicht Fahrrad sondern Bus. Sebastian erwartet mich schon an der Haltestelle. Wir spazieren runter zum See und an den ganzen Rudervereinen entlang. Nach einer Weile biegt er ein in so ein Vereinsgelände. Hier ist einiges los.
„Trainieren Sie hier?"
„Ja, das ist jetzt mein Verein. Ich hab hier ziemlich viele Freiheiten, weil ich aus dem Leistungszentrum komme. Eigener Trainer, eigener Schlüssel, ... Hier können wir uns ein Eis kaufen."
Am Wochenende ist die Vereinskneipe geöffnet, und deshalb können wir uns bald Eis schleckend ans Wasser setzen. Der breite Holzsteg liegt warm in der Sonne und schwankt sanft auf dem ruhigen Wasser des Stausees. Wir ziehen Schuhe und Strümpfe aus und lassen unsere Füße ins Wasser baumeln.
„Ich habe Sie am Montag ziemlich rabiat unterbrechen müssen, Sebastian. Das tut mir immer noch leid. Finden wir den Anschluss wieder? Mögen Sie mir einfach weiter Ihre Geschichte erzählen?"
Sebastian nickt und sammelt sich einen Augenblick. Er zieht einen zerknitterten Zettel aus seiner Tasche und schaut kurz darauf.
Dann beginnt ein sehr leises, sehr ehrliches und ziemlich erschütterndes Gespräch.
„Wenn das in Ordnung ist, fasse ich nochmal kurz zusammen."
Ich nicke zur Bestätigung.
„Ich kenne meine Eltern nur von hinten, meine Kindermädchen waren mir näher als meine Mutter. Das einzige, was zählte, war Leistung und Anpassung. Ich hatte nie Zeit für Freunde, bin noch nie gefragt worden, wie ICH mir mein Leben vorstelle oder was mich bewegt, und wurde bisher nur zu Tode gefördert und durch die Lande geschoben."
Ich kriege eine Gänsehaut bei dieser monotonen Aufzählung seines bisherigen Lebens.
„Im Frühjahr ist meinem Vater ein Posten in einem Ministerium in Düsseldorf angeboten worden. Karriere geht vor. Also wurde nach einem guten Ruderverein für mich gesucht – und eben hier gefunden. Darum sind wir in den Sommerferien nach Lintorf gezogen, das liegt auf halber Strecke. Mein Vater fährt Richtung Düsseldorf, ich werde jeden Tag von einem Chauffeur nach Essen hergefahren. Deshalb werde ich auch hier keine Freunde finden. Ich bin ja nie in der Stadt, wenn andere sich treffen. Und überhaupt – 'Was willst du mit Freunden? Die sind eh nur dazu da, dich irgendwann zu verraten.' Ich ..."
„Darf ich ...?"
„Hm?"
„Danke. Ich will Sie so wenig wie möglich unterbrechen, aber da MUSS ich einfach einhaken. Das ist nämlich ausgemachter Blödsinn. Bleibt der Chauffeur den ganzen Tag als Anstandswauwau an Ihrer Seite? Oder sind Sie in Freistunden oder zwischen Schule und Training sich selbst überlassen?"
„Ne, der fährt wieder. Wir haben zwei Chauffeure, die immerzu Mama, Papa und mich rumkutschieren. Ich mach demnächst Führerschein, dann wird es leichter."
„Aber – dann ist es doch überhaupt kein Problem, sich mal mit anderen zu verabreden. Donnerstags in der Mensa. In einer Freistunde, die auch einer von den anderen hat. Zwischen Schule und Training. Sie haben mit Ihrer Reaktion auf Max am Mittwoch eine Tür ganz weit aufgestoßen. Sie müssen jetzt nur noch mutig hindurchgehen."
Sebastian schaut mich mit großen Augen an.
„Was hab ich denn gemacht?"
Ich muss lächeln.
„Hingeschaut. Zugehört. Vorurteile über Bord geworfen. Uneingeschränkte Hochachtung ausgedrückt. Dieser kurze Moment war das absolute Gegenteil zu der ersten Stunde mit dem Brennball-Spielen."
„Ach so. ... also ... Tja, wie gesagt. Ich weiß nicht, wie Freundsein geht."
„Sie sind gerade dabei, es zu lernen. Aber ich will nicht weiter unterbrechen."
„Jaaa ... Ich bin jetzt hier im Ruderverein, und hier wird auch Handball gespielt als Ausgleich. So komme ich wenigstens ab und zu dazu. Aber bisher habe ich auch hier keinen Anschluss gefunden. Es wissen auch alle, dass das nur für ein Jahr ist. Und ich? Ich ... trau mich inzwischen gar nicht mehr. Dabei mag ich einen der Gruppentrainer total gerne. Er hat eine unglaubliche Art, ganz freundlich und zugewandt das Letzte aus jedem einzelnen Ruderer rauszuholen. So was habe ich noch nie vorher erlebt. Ich kannte nur Trainer, die rumbrüllen und auch ganz überzeugt sagen:'Wenn ihr nicht wütend auf mich seid, bringt ihr keine gute Leistung.'
Dieser Typ ist sooo anders. Ludger bringt uns dazu, dass wir für ihn siegen wollen. Er ... er erinnert mich ein bisschen an Lore. Sie war so anders an dem Tag. So anders, dass ich das Gefühl hatte, wir sind nicht im selben Raum. Es war wie Schattenboxen. Ich konnte sie nicht packen und hab dabei so haushoch verloren."
Ich hole schon Luft, um einzuhaken. Aber er redet schon weiter.
„Das mein ich nicht. Es geht gar nicht mehr um das eigentliche Brennballspiel. Ihnen und auch uns im Streit ging es um was ganz anderes. Ich hatte, schon bevor wir überhaupt angefangen hatten zu spielen, unglaublich viel Kraft zerkämpft und Vorschussvertrauen zerstört. Wie immer eigentlich, egal, wo ich hinkomme. Aber diesmal bin ich zum ersten mal auf Menschen gestoßen, die mir das ehrlich gesagt UND mir noch eine Chance gegeben haben. Ich denke immer noch darüber nach, was Lore da eigentlich mit mir gemacht hat."
„Möchten Sie es wissen?"
„Sowas von!"
„Dann fragen Sie sie."
Schweigen.
„Einfach so???"
„Einfach so. Sprechen Sie sie am Montag nach der ersten Stunde an. Sie sind verhärtet wie ein Fels. Aber Lore ist weich wie Wasser. Ich kann es natürlich nicht beschwören, aber ich bin mir sehr sicher, dass sie auf dieses Gespräch eingehen und Ihnen ganz sanft zeigen wird, welchen Weg sie geht. Sie hat sich in den wenigen Wochen schon so sehr verändert, dass ich jedes mal staune."
„Sie ist so ... leise. Und ich bin so laut. Aber im Gegensatz zu mir weiß sie glaube ich, was sie will. Sie ist ... nett."
Ich knabbere den letzten Rest meiner Eiswaffel und schaue hinaus auf den See. Eine Weile sagen wir gar nichts.
„Werde ich jemals etwas in meinem Leben finden, das mich so in Flammen setzt und mich über mich hinauswachsen lässt wie das Tanzen bei Max? Ich hätte am liebsten laut geheult nur beim Zusehen. Alles in mir schreit danach, mich, irgendwas! so leben zu ... dürfen."
Ich schaue ihn wieder an.
„Was haben denn Ihre Eltern für einen Lebensweg für Sie vorgesehen?"
Sebastian lacht abschätzig. Und bitter.
„Konzernchef? Bundeskanzler? Generalmajor? Bischof? Sie verstehen, was ich damit meine, oder? Meine Eltern haben nie genau hingeschaut, was ich eigentlich für eine Persönlichkeit habe, was für Gaben mich auszeichnen, was für Ideen mir kommen. Also habe ich es früh verlernt, selbst hinzuschauen. Ich weiß es nicht."
Ich bin nicht leicht zu erschüttern, aber jetzt bin ich es. Ich weiß nicht, wohin mit Händen und Füßen, danke Gott ganz kurz im Stillen für meine tollen Eltern und wende mich ihm zu.
„Und woher wissen Sie jetzt auf einmal, dass Sie all das nicht wissen?"
„Na, da sind Sie dran Schuld."
Er grinst. Endlich mal.
„Sie haben am Montag gesagt – und für mich hat es sich angefühlt, als hätten Sie das extra und nur wegen mir gesagt -, dass es um meine Persönlichkeitsentwicklung geht und Sie mir dabei zur Seite stehen wollen. Sie glauben nicht, was seitdem in mir abgegangen ist. Ich habe Stunden, Nächte damit zugebracht, im Internet danach zu suchen, wie sich normalerweise die Persönlichkeit eines Kindes entwickelt. Wann es was lernt, wann es sich wie fühlt, welche Entdeckung zu welchem Entwicklungsschritt führt. Manchmal hab ich gedacht: 'Jupp, kann ich'. Aber viel, viel, viiieeeel zu oft habe ich was gelesen, und es hat nichts, wirklich gar nichts in mir darauf reagiert. Ich bin ... tot da drinnen!"
Mit einem verzweifelten Aufbäumen stößt er die letzten Worte aus und zeigt auf sich selbst. Und nun laufen sie doch. Die Tränen. Ich reiche ihm die Taschentücher.
„Bitte, hier. Aber ... nein, nicht runterschlucken. Tränen sind der ehrlichste Ausdruck einer Persönlichkeit, den es geben kann. Quälen Sie sich nicht länger selbst. Ihre Persönlichkeit lunzt grade um die Ecke, hinter die sie verbannt wurde, und fragt zaghaft: siehst du mich? Wenn du mich siehst, dann hilf mir bitte."
Er kichert. Und schnieft einmal, benutzt ein Taschentuch und strahlt mich plötzlich an.
„Genau das ist es. Das ist, was passiert ist, als ich Max zugesehen habe. Ich habe keine Ahnung, wo das hinführt und ob ich damit über die ersten Schritte hinauskommen werde. Aber – ich fühle etwas. Hier drinnen. Ich fühle ... mich. Und dieses ICH sagt: ich will leben!"
Wieder laufen ein paar Tränen, aber er ist nicht mehr so verzweifelt.
„Ich ... ich will nicht Bundeskanzler sein. Sondern Freund. Zuhörer. Mitgeher. Fürsprecher. Ich kann gar nicht aufzählen, WAS ich alles gelesen habe in den letzten Tagen. Ich habe mich durch Blogs gewühlt, wo Menschen erzählen, was ihre Freunde zu guten Freunden macht, was ihre eigenen Seelen hat gesunden lassen, wonach sie sich sehnen, was ihre Träume sind und wie sie sie erreichen wollen oder erreicht haben, was das Leben lebenswert macht. In mir brennt eine Sehnsucht, mich selbst zu entdecken. Und gleichzeitig schreit die Angst, dass meine Eltern mich dafür zerstören werden. Ich ... ich ... weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll!"
„Sie haben doch schon längst angefangen. Sie sind schon auf dem Weg."
„Hä? Ich mein'... Entschuldigung! Wie bitte?"
Wir sehen uns an – und brechen über diese absurde Selbstkorrektur in Gelächter aus.
„Das klingt schön, wenn Sie lachen. Hören Sie sich selbst? Hören Sie die Befreiung in Ihrer Stimme?"
„Noch nicht. Aber ich arbeite daran. Ich fühle so viel! Und alles auf einmal. Wie Max getanzt hat – da waren sooo viele Gefühle drin. Eine wilde, lebendige Mischung aus Verzweiflung und Glück, aus Schmerz, Sehnsucht und Traum. Da ist in mir drin nur vom Zusehen ein Damm gebrochen. Ich bin richtig überschwemmt von diesen ungewohnten Gefühlen. Und ich will mehr!"
Auf einmal fällt mir etwas auf. Dafür, dass Sebastian sich noch nie mit solchen Themen auseinandergesetzt, noch nie vorher über sowas nachgedacht hat, kann er sich sehr mutig, präzise und feinfühlig äußern. Im Unterricht spricht er oft furchtbar gestelzt. Aber heute? Es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten, weil er sich auszudrücken weiß und etwas zu sagen hat.
Ich muss mal die anderen Lehrer fragen, wie er sich in Deutsch und den Sprachen schlägt. Denn DAS kann er wirklich gut.
Sebastian reißt mich noch einmal aus meinen Gedanken.
„Frau Süß?"
„Ja?"
„Könnten wir in Sport bitte 'du' sagen? Dieses idiotische 'die Form wahren' kotzt mich selbst an. Ich möchte doch einfach nur ganz normal sein!"
Ich muss schmunzeln.
„Da wird Max aber nicht begeistert sein."
„Wieso?"
„Weil sein Mathegrundkurs, den ich auch unterrichte, ziemlich deckungsgleich mit dem Sport-LK ist. Nur ein paar Leute mehr. Und in Mathe wird tatsächlich geduzt. Max und ich haben eine Wette laufen, wie lange es dauern wird, bis ich mich das erste mal in einem der Fächer verquatsche und die falsche Anrede benutzte."
Er grinst.
„O.K., wenn das so ist, sagen Sie ruhig weiter 'Sie'. Da bin ich jetzt auch neugierig."
„Genau. Und sobald ich mich mal verquatscht habe, gehen wir in Sport auch zum 'du' über."
Wir plaudern noch ein bisschen, um dem Nachmittag die Schwere zu nehmen, und dann bringt er mich wieder zum Bus.
„Danke. Danke, dass Sie so aufmerksam für mich da sind. Sie öffnen mir eine neue Welt."
„Gerne."
Dann schließen sich die Türen, und er schaut dem Bus hinterher, bis wir um die erste Kurve fahren.
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15.10.2020 - 22.4.2021
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