027 ** bloß keine Routine ** Mo. 19.8.2019

Was für ein seltsamer Start in den Tag.
Da lernt man vom ersten Unitag an fürs Lehramt, dass man so viel wie möglich Routinen bilden soll, damit man in dem Job nicht kaputt geht. Dass man sich nicht mit dem Leben seiner Schüler beschäftigen soll, damit das eigene Privatleben nicht darunter leidet. Dass man sein Unterrichtsmaterial immer so gestalten soll, dass man möglichst viel davon immer wieder benutzen kann, um Zeit zu sparen in Stresszeiten. Dass man ...
Ja, haben die alle'n Knall?

Das heute morgen war das absolute Gegenteil von Routine und das beste, was allen vierzehn Jugendlichen hat passieren können. Nicht, weil ich so toll bin. Sondern weil diese jungen Leute und ich jenseits aller Routine auf einer Wellenlänge getickt und gespürt haben, was der und die andere/n grade brauchen. Für mich heute war es dran, zuzuhören, ihnen in die Gesichter zu sehen und sie selbst machen zu lassen. Sie haben sich hochkonzentriert und sehr sensibel gegenseitig zugehört, haben interessante Fragen und Antworten ausgetauscht, haben sich wohl gefühlt dabei. Und ich musste nicht nur nicht steuern – ich musste nichtmal irgendwas sagen!

Jaja, ich weiß. Das kann ich nicht mit allen bringen bei ungefähr 200 bis 250 verschiedenen Schülern jede Woche, die ich zum Teil nur einmal zwei Stunden lang sehe. Da kann ich froh sein, wenn ich zur Halbzeit alle Namen kann. Aber – genau. Für meinen eigenen Kurs finde ich das wichtig und richtig. Und für alle anderen Klassen und Kurse kann ich wachsam sein und regelmäßig meine Beobachtungen an den Tutor oder die Klassenlehrerin weitergeben. Dann habe ich für alle gesorgt, und stecke meine volle Kraft nur in meinen eigenen Kurs.

Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf, während ich nahtlos zur nächsten Klasse eile, weil die Pause tatsächlich schon fast rum ist. Ich arbeite mich mit einem seltsam neben mir schwebenden Gefühl durch den Vormittag. In jeder Klasse wieder ertappe ich mich dabei, dass mein Kopf ununterbrochen Beziehungen analysiert, individuelle Herangehensweisen registriert und geistige Notizen macht, die ich beim nächsten Luftloch sofort aufschreibe. Wenn ich das durchziehe, muss ich das irgendwo festhalten, sonst platzt mein Kopf nach einer Woche. Aber dann habe ich die Möglichkeit, im Unterricht viel individueller zugeschnittene Lernmethoden anzubieten, weil ich die Schüler wirklich kenne. Spannend!

Nach der sechsten Stunde schwinge ich mich gleich auf mein Rad und sause nach Hause. Jenny erwartet mich bereits mit leckerer Pasta. Und kaum sitzen wir am Tisch, da lege ich schon los. Jenny isst, hört mir aufmerksam zu, stellt ab und zu eine Frage. Nach einer Viertelstunde grinst sie mit Blick auf meinen Teller.
„Tolle Erkenntnis, Pettersson. Aber ... wolltest du heute eigentlich auch noch was essen? Oder wirst du vom Tüfteln satt?"
Ich lache verlegen und fange an zu essen.
„Nein, im Ernst, Toni. Das klingt total spannend. Ich bin nur noch nicht soweit. Ich glaube, um die Routine verlassen zu können, muss man erstmal eine entwickelt haben. Aber du wirkst richtig glücklich dabei. Also werde ich mir das merken, und du darfst mich bei Gelegenheit daran erinnern."

„Es rattert die ganze Zeit in meinem Kopf. Denn wenn ich das durchhalten will, muss ich ein System finden, wie ich Beobachtungen festhalte, ohne mir meinen Lehrerkalender zu verstopfen. Es muss so funktionieren, dass ich damit nicht Stunden verbringe, sondern ganz nebenbei festhalten kann, was mir auffällt. Wen ich ansprechen will. Wo ich vielleicht einzeln helfen kann."
„Puh, das ist mir zu hoch. Ich verstehe dein Problem, aber ich komm schon ohne das kaum klar, weil so viel auf mich einprasselt. Was wär dir denn lieber – elektronisch oder auf Papier?"
„Hm. Ich glaube, auf Papier ist mir lieber. Außerdem – wenn ich dauernd mal eben schnell was ins Handy tipsele, dann denken die Schüler, ich daddel oder chatte. Das geht gar nicht."

„Und wenn du dir ein Adressbuch zulegst und die nach Vornamen da reinschreibst. Das hast du immer sehr schnell aufgeschlagen. ... Allerdings erst, wenn du die Namen sicher drauf hast."
„Vielleicht. Aber Adressbücher haben immer festgelegte Seiten pro Buchstabe. Da komme ich ganz schnell ins Schleudern. Und zu manchen werde ich nie was aufschreiben, zu anderen dauernd."
„Also brauchst du eine Loseblatt-Sammlung, die du ergänzen kannst, die aber nicht zerfleddern darf. Dann kannst du umheften, wenn es nötig ist. So ... ja, im Grunde ein Ringbuch – google doch mal nach den Planer-Nerds. Da gibt's bei Pinterest bestimmt tausend Ideen für Lehrer."

Eine Stunde später raucht mein Kopf vor Ideen. Ich bin jetzt Expertin für Filofax, diverse einzig wahre Planersysteme, das Bullet Journal und gefühlt hundert andere Möglichkeiten. Meine Augen tun weh vom Farbrausch bei Pinterest. Aaaaaaber – Ich weiß jetzt, wie ichs mache. Ich sollte sowieso nicht die Notizen über alle Schüler immer in alle Klassen schleppen. Also gibt es für jede Klasse ein A5-Ringbuch mit einem alphabetischen Register, auf das ich aber – in der Reihenfolge – Kürzel für die einzelnen Schüler schreibe. Das hab ich dann auf dem Tisch liegen, kann sehr schnell einzelne Schüler aufschlagen und was notieren und hab das Ding, wenn jemand neben mir steht, genauso schnell wieder zugeklappt. Wenn ich dann in einer Klassenkonferenz gefragt werde, ob XY in Mathe auch so hinterher hinkt, dann kann ich die Seite aufschlagen und antworten.
XY hat in letzter Zeit oft geweint und ist dafür ausgelacht worden. Finden Sie doch mal raus, ob XY in der Klasse oder zu Hause Schwierigkeiten hat, die das Lernen behindern."

„Jenny, brauchst du grade was von Staples? Ich kanns dir mitbringen."
„Nö, danke!"
„O.K., bin weg."
Wie der Bllitz radele ich die paar Straßen weiter und decke mich mit A5-Ringbüchern, Registerseiten und jede Menge Karopapier ein. Ein Farbsystem für die verschiedenen Klassen hab ich schon. Aber vielleicht ... ich nehme noch einige Stifte mit, die es mir ermöglichen werden, meine Notizen schnell zu unterscheiden. Ein Blick zur Uhr.
Mist, Max kommt gleich! Ab nach Hause ...

Schwein gehabt!
Wir treffen gleichzeitig bei mir zu Hause ein, schließen unsere Räder ab und gehen hoch.
„Bist du gut durch den Vormittag gekommen?"
Max fängt an zu kichern.
„Ich war ja erst geschockt, als Lore davon anfing. Aber Murat ..."
Jetzt wird das Lachen breiter.
„Der ist so eine Knalltüte! Der hat zusammen mit Kolja, Fatih und Torben „CSI Essen" gespielt. Die sind mit Sonnenbrillen geduckt durch die Flure geschlichen, haben die Pausenaufsichten für die ganze Woche bei der Sekretärin erfragt und haben dann die Hartmann auf Schritt und Tritt beschattet. Und wir Tänzer haben ganznormalsei-Befehl. Wir sollen uns genauso verhalten wie all die Jahre und irgendwo zusammen rumhängen."

Ich schließe die Wohnung auf und muss nun auch kichern.
„Wir sollten Fotos davon machen. Damit du in einem Jahr befreit darüber lachen kannst."
„Vor allem von unseren vier Hardcore-Spionen. ... Was ist eigentlich aus den fünf Schlägern und den beiden Kleinen vom Freitag geworden?"
Wir gehen mit Gläsern und Wasser ins Wohnzimmer und breiten unsere Unterlagen aus.

„Weißt du, was ich bewundere, Max?"
„Hm?"
„Dass du mich nicht fragst, was bei dem Gespräch zwischen Frau Hartmann, Dr. Fahrendorf und Dr. Miegel rausgekommen ist."
„Was dabei rausgekommen ist, kann ich nicht ändern. Aber wie es den Kleinen geht, das ist mir wichtig. Ich mag nochmal mit denen reden."
„Ich darf dir nicht alles sagen. Aber Felix liegt mit Gehirnerschütterung im Krankenhaus, und Lars liegt daneben, weil die Hämathome von den Tritten echt heftig waren und er sich beim Sturz den Arm angebrochen hat. Beide Eltern haben sofort Anzeige erstattet."
Max Gesicht wird ernst.
„Das ist eine Chance. Und ein Risiko."

„Werten wir es als Chance. Und jetzt Mathe. Wieviel ist bei all dem Trubel in der letzten Woche bei dir hängen geblieben?"
„Ich hab mir für Zins und Zinseszins einfach einige Aufgaben aus dem Netz gefischt und durchgerechnet. Ich hab Paul korrigieren lassen. Bei meinem Vater traue ich mich nicht. Ich würde sagen: das Thema sitzt."
„Also sitzt die Prozentrechnung auch. Dann kommen wir zu Brüchen und Dezimalzahlen. Da sah es in deinen Probearbeiten auch ziemlich chaotisch aus."

„Stimmt. Aber ich hab auch dazu ein paar gute Youtube-Videos gefunden. Im Wesentlichen muss man die wichtigsten Brüche in Dezimalwerten einfach auswendig können wie das Große Einmaleins. ½ ist 0,5, ¼ ist 0,25, blablabla. Das ist die halbe Miete, und das hab ich dann auch gepaukt. Und mir ist aufgefallen, dass auch dabei das Einmaleins nicht ganz unwichtig ist. Aber was man dann mit Brüchen macht, und warum es so wichtig ist, das in Dezimalzahlen umrechnen zu können. Das hab ich nicht gerafft."

Ich freu mich schon wieder halb tot.
„Verstehe. Ich soll mal wieder eine Geschichte erzählen."
Max wird etwas rot.
„Stop! Nicht schämen, gleich wieder aufhören. Für mich ist nur relevant, dass das dein Weg ist, Sachverhalte im Kopf zusammenzukriegen. Ich werde gerne zur Märchentante mutieren, wenn dir das schnell weiterhilft. Alles klar?"
„Naja. Schon irgendwie kindisch."
„Quatsch! Es lässt mich drauf schließen, dass du ein optischer Lerntyp bist. Das macht es bei abstrakten Sachverhalten schwierig, denn die kann man oft nicht sehen. Aber wenn ich dir das erzähle und du dabei Bilder im Kopf bekommst. Und du mit diesen Bildern dann aus dem Abstrakten etwas Konkretes machen kannst, dann ist das DEIN Lernweg. Und nicht kindisch."

„Klingt komisch."
„Gar nicht. Pass auf. Wie lernst du Vokabeln? Liest du die im Kopf, schreibst du die ab, oder haust du dir die aufs Ohr?"
„Ich ... ich schreib die einmal ab, und dann schaue ich sie mir immer wieder an. Und hänge mir die Wörter, die einfach nicht sitzen wollen, überall an die Schränke. Früher hab ich dann alle Gegenstände im Haus mit Post Its bepappt, damit ich das Wort mit dem Gegenstand verbinde."

"Siehst du? Du bist ein 'Optiker'. Frag mich mal. Ich bin nämlich ein 'Haptiker'. Das heißt, dass ich am besten über den Tastsinn lernen kann. Jetzt fass doch mal Religion, UV-Licht oder die tektonische Plattenverschiebung mit den Händen an. Hat sich was."
„Wie haben Sie denn dann gelernt?"
„Ich hatte in der Schule die offizielle Erlaubnis, im Unterricht zu stricken, weil meine Lehrer vor mir begriffen haben, dass die Koordination der beiden Hände mein Gehirn anregt. Und weil sie gesehen haben, dass ich dabei nichts verpasse sondern im Gegenteil viel besser in der Lage bin, das Wesentliche zu erfassen und nebenbei zu Papier zu bringen. Ich war einfach immer da, habs kapiert, habs systematisch aufgeschrieben und zu Hause noch zweimal abgeschrieben. Die Bewegungen sind mit der Haptik verbunden und helfen beim Abspeichern. Wir haben ja auch ein motorisches Gedächtnis."
„Spannend! Genau, über das motorische Gedächtnis hab ich im Zusammenhang mit Tanztherapie was gelesen. Ich hab gestern den ganzen Tag im Internet gehangen, weil das alles soooo faszinierend ist. Und dabei hilft Schreiben?"
„Genau. Und ein akustischer Lerntyp würde die Vokabeln laut lesen, damit er sie in seiner eigenen Stimme hört, und sich vielleicht sogar aufsprechen und immer wieder anhören."
„Cool!"

„So. Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte von den zehn kleinen Brüchen, die gemeinsam auf Wanderschaft gingen."
Ganz kurz schauen wir uns direkt in die Augen. Dann brechen wir miteinander in schallendes Gelächter aus.
War mir vorher schon bewusst, dass der Knabe tiefbraune Augen hat? Ungewöhnlich! Ungewöhnlich schön ...

................................................................

11.10.2020

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top