023 ** der nächste Dämpfer ** Fr. 16.8.2019
Diese Woche ist ja irgendwie noch Warming Up. Wir bereiten zwar die Lerngruppen vor, aber noch nur für uns, ohne Treffen. Allerdings geht es in den meisten Fächern schon richtig zur Sache, und die Menge an Hausaufgaben zieht auch tüchtig an. Ich bekomme also langsam eine Ahnung davon, wie die nächsten Monate aussehen werden. Gestern hatte ich zwar keine Lerngruppe, aber dafür hab ich die normalen Hausaufgaben gemacht, Vokabeln gebüffelt und den ersten Akt vom Faust gelesen, nur um mich dann ins Internet zu stürzen, damit ich ein bisschen mehr drumrum kapiere. Danach fiel mir das Lesen deutlich leichter. Dann hab ich noch was recherchiert. Und der Tag war rum.
Jetzt ist schon wieder Freitag. Und weil sich ungewöhnlicherweise der komplette Jahrgang schon für ein Projekt angemeldet hat, werden heute die Projektgruppen ausgehängt. Wir sind uns sicher, dass wir alle drei drin sind, haben alle schon die schriftliche Erlaubnis unserer Eltern eingereicht und waren zum Teil sogar schon beim Arzt. Aber wir sind einfach auch total neugierig, wer mit uns im Kurs sein wird.
Ich habe die Idee von der Süß für meine Facharbeit am Mittwoch erstmal sacken lassen. Gestern hab ich ganz viel gegoogelt und dabei gefühlte hundert verschiedene therapeutische, christliche, esotherische, sportliche, Selbstfindungs- und andere Seiten in Bezug auf Tanz gefunden.
Ich glaube, ich werde das tatsächlich machen, will aber heute Abend noch mit Luis reden, wie er das findet.
Ich fange an, mich daran zu gewöhnen, dass ich mich nur noch schleichend durch die Schulflure bewege, dass ich dabei nie ganz alleine bin, um Zeugen zu haben, und dass wir systematisch ausspionieren, wann die Hartmann wo Aufsicht hat. Außerdem haben wir inzwischen festgestellt, dass die Eiche auf dem alten Hof, von der aus wir die Kerne gespuckt haben, tatsächlich so steht, dass man sie vom neuen Hof aus sehen kann, wenn man am Schulgebäude entlang kuckt. Daraufhin haben wir unseren langjährigen Lieblingspausenplatz freiwillig für einen Haufen Frischpubertierender geräumt, die sich jetzt wie die Kings fühlen und entsprechend laute Töne spucken.
Wer's braucht ...
Es ist sowieso jedes Jahr wieder ein Phänomen. Die niedlichen, netten Sechstklässler verschwinden im Sommer mit ihren fröhlich-bunten Schulranzen in die Ferien. Und sechs Wochen später kommen sie als nutz-, spaß-, lust- und hirnlose Rotzlöffel mit fest installierter Antihaltung auf der internen Festplatte wieder zurück und tun den ganzen Vormittag lang nichts anderes mehr, als sich danebenzubenehmen, sich totzukichern, sich abzuschlecken oder in den Seilen zu hängen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie unsere Lehrer das jedes Jahr wieder aushalten.
Wir haben uns an die alte Mauer gelehnt und lassen unsere Blicke über den Hof schweifen auf der Suche nach einem geeigneten neuen Lieblingsplatz. Die frisch gekrönten „Herren der Eiche" dagegen hocken auf dem untersten Ast, rupfen Blätter vom Baum und pöbeln die Kleinen an, die unter dem Baum Fangen spielen. Aufsicht haben heute morgen Dr. Fahrendorf und seine Referendarin Fr. Tucher, die mit der Süß zusammen wohnt. Die beiden konzentrieren sich aber grade auf die Raucherecke, wo sie ein paar Minderjährige rauspflücken und zusammenstauchen.
Und dann geht es auch schon los. Der eine Kleine fällt beim Fangenspielen mit heftigem Schwung auf die Schnauze und heult. Kein Wunder. Ich kann von hier sehen, dass er mit dem Kopf aufgedotzt ist. Daraufhin fangen die Idioten auf dem Baum an, ihn nachzumachen und auszulachen.
„Jungs, lasst uns näher rangehen, das kocht da gleich hoch."
Wir setzen uns in Richtung Eiche in Bewegung. Der Freund von dem Gestürzten kommt angehechtet, hilft ihm auf und brüllt höchst couragiert und höchst unklug die Affen auf dem Baum an. Und die kommen runter geklettert.
„Los!"
Wir fallen in Trab und bahnen uns zügig einen Weg zur Eiche. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Dr. Fahrendorf jetzt auch aufmerksam geworden ist, aber der ist noch zu weit weg. Es bildet sich schon ein Kreis um die fünf Großen und die beiden Kleinen. Das letzte, was ich durch die Schaulustigen sehen kann, ist, dass der unkluge tapfere Ritter geschubst wird. Jetzt sprinten wir, fegen den Ring von Schaulustigen auseinander und ich greife mir einfach den Hauptangreifer am Kragen. Ich schwöre. Mehr nicht.
Uuuuuuund schwups! Zeitgleich kommen die Hartmann und Dr. Fahrendorf bei uns an. Und die Hartmann ist schneller. Dr. Fahrendorf will grade die Siebtklässler zusammenfalten, da bölkt sie los. In meine Richtung.
„Aha. Eine Prügelei. Und dann auch noch mit einem viel Jüngeren. Gersten, Sie lernen es nie. Nachsitzen!"
Ich bin fassungslos. Da liegen zwei Fünftklässler auf dem Boden, der eine blutet aus der Nase, der andere hat ein Riesenei auf der Stirn, und ich kriege Nachsitzen, weil ich die Idioten dran gehindert habe, weiter zuzutreten??? Und wieder dieses triumphale Grinsen.
Dr. Fahrendorf schnappt nach Luft und starrt seine Kollegin an. Die beordert den armen, gequälten Siebtklässler, der grade höchst theatralisch vor sich hin leidet, und mich zum Direx. Dr. Fahrendorf greift sich sofort alle andern beteiligten Prügler, die beiden Kleinen und meine drei Kumpel und schiebt sie uns hinterher.
„Max, Luft anhalten, lass mich reden. Ich habe nicht alles aber viel gesehen. Und alle anderen sind deine Zeugen."
Ich seufze nur noch und glaube kein Stück dran, dass ich diesmal mit heiler Haut davonkomme.
Der Schutzengel von Frau Hartmann hat Hörner und riecht nach Schwefel ...
Als wir beim Direx ankommen, steckt der grade in einem offensichtlich ziemlich nervigen Telefonat und kriegt zu allem Überfluss auch noch sein Gegenüber nicht aus der Leitung.
Schlechte Voraussetzungen. Wenn der miese Laune hat, wird's nicht besser für mich.
Kaum liegt der Hörer auf der Gabel, legt die Zicke los, schiebt den „armen Gebeutelten" nach vorne und beschreibt meine „Untaten". Ich traue meinen Ohren nicht. Aber diesmal bin ich nicht alleine. Moritz packt den Typ jetzt auch am Kragen und kackt sie direkt an.
„Uuuups. Ich habe seinen Kragen berührt. Muss ich jetzt auch nachsitzen? Mehr hat Max vorhin nämlich nicht getan. Er hat ihn schlicht und ergreifend nach hinten gezogen, damit er aufhört, den Kleinen da in den Bauch zu treten!"
Dr. Fahrendorf versucht, auch zu Wort zu kommen, und schiebt nach Moritz Worten die beiden Fünftklässler nach vorne. Beide heulen, beide sehen offensichtlich lädiert aus. Aber die Hartmann kennt keine Gnade. Bevor ihr Kollege was sagen kann, plustert sie sich auf und legt wieder los.
„Was für eine Unverschämtheit. Ja, sind denn jetzt alle übergeschnappt? Der arme Junge ist doch ganz verängstigt wegen Maximilian. Das kann so nicht weitergehen, Herr Dr. Miegel. Das ist jetzt das zweite Mal in dieser Woche, und das Schuljahr hat kaum angefangen."
Ich schrumpfe in meinen Klamotten auf Hobbitgröße und lasse jede Hoffnung fahren.
Sie spielt nicht mit fairen Regeln, da kommen wir einfach nicht gegenan.
Es wird sehr still im Raum, und der Direx schaut mit hochrotem Kopf von einem zum anderen. Da stehen ziemlich viele Menschen vor seinem Schreibtisch. Zwei Lehrer und elf Schüler. Davon zwei heulend (korrigiere – drei. Ich heule jetzt auch. Mal wieder ...), vier stinkwütend und fünf feixend vor Vergnügen und Siegesgewissheit. Aber bevor er nun auch das Wort ergreifen kann, kommt von links neben mir eine tiefe, fast grollende Stimme. Leise, ruhig, eiskalt, schneidend wie ein Messer.
„Wenn Sie jetzt nachgeben, Dr. Miegel, dann erstatte ich gegen Frau Hartmann Anzeige wegen Verleumdung eines Schülers. Und gegen Sie wegen Beihilfe. Diese Verdrehung der Tatsachen geht einfach zu weit. Ich war nämlich auch dabei, und hier stehen jede Menge Zeugen für die Wahrheit."
Als erstes schiebt Dr. Fahrendorf die beiden Kleinen vor den Tisch.
„Diese beiden haben Fangen gespielt, Felix ist direkt unter der Eiche gestolpert und so hingefallen, dass dabei diese beachtliche Beule entstanden ist. Sein Freund hat ihm aufgeholfen. Diese fünf viel zu fröhlich dreinschauenden Jungs saßen in der Eiche und haben Felix nachgeäfft und ausgelacht. Darum hat Lars seinen Freund in Schutz genommen. Daraufhin sind die Fünf runter vom Baum und haben die beiden Kleinen angegriffen. Wie unschwer zu erkennen ist, hat Lars darum nun eine blutende Nase. Und ..."
Mit einem Ruck zieht er den beiden Kleinen die T-shirts hoch.
„... mehrere Hämathome, weil sie nämlich bereits auf dem Boden lagen und mehrere Tritte abbekommen hatten, als Max und seine Freunde dort eingetroffen sind und eingegriffen haben. Ich war gleichzeitig auch da und schwöre: Maximilian Gersten hat nur diesen einen Jungen nur am Kragen nach hinten gezogen, damit die beiden Kleinen keine weiteren Tritte abbekommen. Max hat das einzig Richtige getan. Er verdient dafür kein Nachsitzen. Sondern einen Orden für Zivilcourage."
Mit einem resignierenden Aufseufzen schließt der Direx die Augen. Wir anderen warten ab.
„Raus. Alle raus. Die Fünf kriegen einen Verweis nach Hause, die Vier werden nicht nachsitzen. Aber vielleicht könntet ihr Felix und Lars ins Krankenzimmer bringen. Frau Zimmermann wird euch dann helfen. Diese Beule muss behandelt werden, vielleicht wird auch ein Arzt den Kopf röntgen wollen. Frau Hartmann und Dr. Fahrendorf bleiben hier."
Damit klappt er zu wie eine Auster und wartet, dass sich die Massen verlaufen haben. Alles weitere kriegen wir also nicht mehr mit, denn wir schnappen uns natürlich sofort die beiden Kleinen und ziehen ab zur Sekretärin. Was hinter der nun wieder geschlossenen Tür abgeht, können wir nur raten.
Frau Zimmermann reagiert schnell. Felix wird hingelegt und bekommt einen Kühlpack auf die Stirn, Lars wird hingesetzt und bekommt ein Kühlpack in den Nacken. Lasse wird in seinen Unterricht geschickt, Paul wird zur Klasse der Kleinen geschickt, um die beiden für den Rest des Tages abzumelden, und soll dann auch in seinen Unterricht. Moritz bleibt bei den Kleinen und mir, während Frau Zimmermann mit den Eltern von Felix und Lars telefoniert. Und der Ärmste weiß gar nicht, wen er zuerst in den Arm nehmen soll. Die Kleinen – oder mich. Zeitgleich mit Frau Zimmermann kommt jetzt auch Frau Süß um die Ecke.
„Hallo, Steinchen, haben Sie zuf... Oh. Max, hier bist du ja. ... Was ist denn hier los???"
„Gleich, Süße. Felix und Lars, jeweils ein Elternteil von euch kommt sofort. Die werden dann wohl mit euch ins Krankenhaus fahren. Moritz, du kannst jetzt auch in den Unterricht, ich bin ja wieder hier."
Und – mit einem Seufzen.
„Was hier los ist? Frau Hartmann ist schon wieder los."
„Sch... Max, warst du alleine mit ihr?"
„Nö. Dr. Fahrendorf reitet da drinnen grade für mich in die Schlacht."
„Gott sei Dank! Na, dann komm. Ich glaube, du brauchst jetzt auch etwas Ruhe zum Runterkommen."
Kaum sind wir in dem Nachhilferaum angekommen und die Tür ist zu, breche ich nun wirklich in Tränen aus. Ich brauche eine Weile, bis ich der Süß erklären kann, was eigentlich passiert ist. Sie knirscht mit den Zähnen. Und dann nimmt sie mich einfach einen Moment lang in die Arme.
„Oh, entschuldige, Max. Die Glucke ist mit mir durchgegangen."
Schnell lässt sie mich wieder los.
„Schon o.k. Ich glaub, das hab ich grade gebraucht."
„Weißt du, was ich jetzt hoffe? Dass die Eltern von Felix und Lars Anzeige gegen die fünf Idioten erstatten. Es ist einfach nicht zu fassen, dass diese Frau um ihrer unverständlichen Privatfehde willen solchen hirnlosen Pubertieren sozusagen eine Einladung erteilt, mit ihrem Verhalten weiter zu machen. Weißt du was? Ich bin stolz auf dich. Du warst aufmerksam und hast das einzig Richtige getan."
Einen Moment reden wir noch, damit ich wieder runterkommen kann. Dann nutzen wir die restliche Zeit – für Zins und Zinsenszins ...
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7.10.2020 - 9.4.2021
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