015 * alle in einem Boot * Fr. 9.8.2019

Als ich nach der Mittagspause von der Mensa zum Raum für den Deutsch-LK gehe, kommt Milly von hinten angeflitzt und schließt zu mir auf. Sie geht auch in den Leistungskurs.
„Du, sag mal, Max, ihr schreibt doch bestimmt alle drei eure Facharbeit übers Tanzen, oder?"
Ich schaue sie verblüfft an.
„Ja, klar. Wir wollen heute Abend mit unserem Trainer absprechen, wie wir das globale Thema 'Tanzen' ein bisschen griffiger kriegen und sinnvoll einteilen können, damit wir uns nicht überschneiden."
„Dann habe ich vielleicht ein Problem. Ich will natürlich über den Zirkus und Akrobatik schreiben. Und über Zirkuspädagogik. Wenn sich das mit einem von euch beißt, sehe ich alt aus."

Mist! Da hat sie recht. Und nu?
„Weißt du was? Ich warne unseren Trainer vor, und du kommst heute Abend um 19.00 Uhr in unser Tanzstudio. Das ist an der Müller-Breslau-Straße. Dann sprechen wir eben alle vier Themen ab. Und zum Teil können wir sicher auch Hand in Hand arbeiten."
„Kostet das was?"
Milly sieht ein bisschen besorgt aus.
„Ich denke mal nicht. Luis ist sehr kulant. Die Besprechung mit uns hat er sowieso. Und den praktischen Teil ausarbeiten wirst du doch mit jemand aus deinem Zirkus."
„Klar, das mach ich da."

Wir sind im Klassenraum angekommen, wo schon einige andere gelangweilt und mittagsmüde in ihren Stühlen hängen. Wir setzen uns der Einfachheit halber gleich nebeneinander und tauschen Nummern aus. Dann schreibe ich Luis und kündige Milly an. Die Reaktion hätte nicht besser ausfallen können.
"Schön, noch 'ne fünfte Disziplin drin. Das kann ganz toll werden."
Ich wusste, dass Luis nichts dagegen haben würde!
„Das geht klar, Milly. Ist für Luis in Ordnung. Ich schick dir grad noch die Wegbeschreibung."
Und schon piept es auch bei Milly, die meine Nachricht bekommen hat.

Kaum habe ich mein Handy ausgemacht, kommt unser Deutschlehrer rein und begrüßt uns.
„Und? Schon vollgestopft mit deutschen Sprichwörtern?"
„Ich hab mir einfach ein Sprichwörter-Lexikon gekauft. Da muss ich die Faustzitate nur rausschreiben."
Kurz schaut er mich an, als ob er überlegt, ob er mir das glauben soll.
„Oh, das ist echt praktisch. Danach sollst du nämlich auch noch die Bibel durchlesen. Da sind auch ganz viele Sprichwörter drin. Die kannst du jetzt eigentlich gleich mit rausschreiben, Max."
„Ah. Ich soll das ganze Buch abschreiben???"
„Ja, ist auch 'ne Möglichkeit. Viele Fehler werden dann nicht drin sein."

Ich atme selbst auf, dass ich meinen Humor wieder gefunden habe. Das Ding heute Morgen von der Süß hat mich echt umgehauen. Klar muss sie alles ausprobieren. Aber diese Grundschularbeiten waren so demütigend. Ich bin immer gut mit ihr klargekommen. Aber das???
Ich hätte nie gedacht, dass sie so verletzend werden kann. Ich bin total auf sie angewiesen. Aber muss ich mir deshalb sowas bieten lassen? Oder nimmt sie mich nicht mehr ernst wegen der vielen Heulerei gestern? Oder weil sie mich mit Papa erlebt hat? Ach, Kacke! Gaaaanz schlechter Start ...

Schnell konzentriere ich mich auf Deutsch. Herr Erdmann skizziert die Inhalte dieses Halbjahres, damit wir uns drauf einstellen können.
„Ich werde in diesem Halbjahr mehrere Themen als Referate anbieten. Vorzugsweise für die Schüler, die im Mündlichen eher unauffällig sind."
Er malt zum 'unauffällig' mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. Ein paar Leute ziehen den Kopf ein, weil sie wirklich fast nie den Mund aufmachen und sich deshalb angesprochen fühlen.

„Ich möchte einige Themen auf diese Weise schnell über die Bühne kriegen, damit wir anderes ausführlicher miteinander machen können. Wer kein Referat hält und sich mündlich gut beteiligt, hat keinen Nachteil davon.
Wir haben einmal die Frage nach dem Ursprung der Faust-Geschichte, die hat sich nämlich nicht Goethe ausgedacht. Das Referat kommt bald und muss nicht lang sein. Dann brauchen wir einen gesellschaftshistorischen Abriss über die Zeit, in der Goethe gelebt und den Faust geschrieben hat. Ich möchte einmal ein spritziges Referat über das Leben von Goethe haben, damit wir besser nachvollziehen können, was den Mann bewegt hat. Ich möchte etwas hören über die religiöse Landschaft in Deutschland damals, und dazu den Standpunkt Goethes zur Religion.
Ein paar Hausarbeiten ohne Referat können mit den Charakterisierungen der Hauptpersonen für zusätzliche gute Noten sorgen.
Und schließlich sollte sich jemand beschäftigen mit dem sprachlichen und gesellschaftlichen Einfluss, den Goethe auf die nachfolgenden Generationen hatte. Und dazu reicht es NICHT, einfach die Sprichwörter niederzuschreiben."
Breit grinst mich Herr Erdmann an. Aber da ich im Mündlichen vorne mit dabei bin, kriege ich wahrscheinlich sowieso kein Referat ab, und um zusätzliche Hausarbeiten muss ich mich auch nicht reißen. Da ist eh kein Loch mehr im Zeitplan.
„Zu jedem Referat und jeder Hausarbeit gibt es dann bitte ein aussagekräftiges Thesenpapier für alle anderen. Damit am Schluss keiner sagen kann: 'Das kann ich nich, das war nich mein Referat. Mimimi.' Alles klar? Wir teilen das gleich nach der Stunde ein. Wer sich eine Chance schnappen will, kommt dann einfach zu mir."

Den Rest der Zeit nutzen wir heute, um zusammenzutragen, was wir sowieso über Goethe und den Faust wissen. Das ergibt ein buntes Sammelsurium an mehr oder weniger echten Fakten. Ich lege in meinem College-Block sofort für jede mögliche Frage, Person, Akt, ... eine eigene Seite an. Das kann ich dann immer ergänzen und mit Seitenzahlen versehen. Dann muss ich später nach wichtigen Zitaten nicht lange suchen.

Nach der Doppelstunde flitze ich vor allen anderen nach vorne zu Herrn Erdmann.
„Entschuldigen Sie. Wäre es nach ihrer Einschätzung für mich wichtig, eine Hausarbeit oder ein Referat zu übernehmen? Mein Wochenplan ist so vollgeknallt mit Lerngruppen und Training, dass ich ..."
„Nein, keine Sorge, Max. Du hast das nicht nötig. Und Frau Süß hat schon alle deine Lehrer vorgewarnt, dass sie uns nächste Woche kurz zusammentrommeln will, damit wir alle an einem Strang ziehen können für dich. Wenn ich das richtig verstanden habe, hast du Schwierigkeiten mit deinem Vater?"
Ich ignoriere seine Frage einfach. Weil ich nämlich sonst an Ort und Stelle ausflippen würde.
„Danke, Herr Erdmann."

Oh Mann! Was fällt der eigentlich ein??? Ich bin kein Kleinkind!!! Ja, mein Stundenplan für die nächsten neun Monate ist ambitioniert. Aber deshalb muss sie mich nicht in Watte packen. Ich will keine Sonderrolle!
Ich habe das Gefühl, dass da eine Übermutter den armen kleinen Max betüddelt. Und ich kann mich nicht wehren, weil ich ihre Hilfe brauche.
Aber doch nicht so!!!

Wütend und verletzt radele ich nach Hause und setze mich an meine Hausaufgaben. Das Unwort des Jahres für alle Maximilian Gerstens ist „Aufschieberitis". Sonst katapultiere ich mich sofort aus der Bahn. Also mache ich schnell die Recherche für Geschi und schreibe die Englisch-Vokabeln ab. Mit Abschreiben habe ich schon immer am besten auswendig gelernt. Ein Blick zur Uhr. Noch Zeit. Ich googele nach dem Lehrplan Mathematik 5. und 6. Klasse Gymnasium und finde sogar ein paar Muster-Klassenarbeiten.
Seh ich ja gar nicht ein, dass ich mich am Montag wieder blamiere!

Dann rausche ich einmal an Tanja in der Küche vorbei, schnappe mir ein Stück Baguette, ein Stück Käse und einen Apfel und flitze zusammen mit Lasse los zum Tanztraining. Alleine der Gedanke macht mich glücklich. Während wir unsere Fahrräder abschließen, kommen Moritz und Paul um die Ecke. Ein paar Leute von den heutigen Kursen sind schon da, und so ziehen wir uns um und fangen schonmal an, uns aufzuwärmen.

Luis hatte mir vorhin ja eine Antwort geschickt, dass es in Ordnung ist, Milly mitzubringen. Jetzt bestätigt er mir das nochmal mündlich, bevor er unseren Kurs begrüßt und uns gleich so richtig rannimmt. Aber mir tut das gut. Es ist ein brauchbarer Ausgleich zu dem ganzen Sitzen und Lernen, und genau heute ist es auch die Möglichkeit, mir meinen Zorn auf die Süß rauszutoben. Entsprechend geschafft bin ich, als kurz vor 19.00 Uhr die meisten gehen, meine Jungs aus den anderen Sälen rüberkommen und sich alle hier einfach auf den Boden fallen lassen.

Ich ziehe mir etwas über, weil ich geschwitzt habe, und gehe nach draußen, um auf Milly zu warten. Schon kurz darauf kommt sie auf mich zu.
Praktisch, es ist noch Zeit. Dann kann ich ihr gleich alles zeigen.

„Hi Milly! Komm, wir haben noch ein paar Minuten. Ich mach 'ne Studioführung für Dich."
Wir gehen gemeinsam rein, und ich lunze mit ihr einfach in alle ungenutzten Räume.
„Cool, wenn man so moderne Räume zur Verfügung hat. Wir proben mit unserem Zirkus in einer alten Lagerhalle, die im Sommer kocht und im Winter zur Tiefkühltruhe mutiert."
„Dann pass bloß auf, dass du dich nächstes Frühjahr kurz vorm Abi nicht verletzt."

Ich bringe sie in den Saal und stelle sie Luis vor. Damit wir alle auf dem selben Stand sind, listen wir nochmal unsere persönlichen Schwerpunkte auf. Moritz macht Street Dance und will dazu was über moderne Subkulturen schreiben. Milly will über Sportpädagogik am Beispiel von Kinderzirkussen schreiben. Paul und ich beißen uns ein wenig, denn sowohl für das klassische Ballett als auch für den modernen Contemporary Dance bietet sich eine Geschichte des Tanzens oder Entwicklung des Balletts oder so an.

Wir einigen uns dann darauf, dass Paul ganz stumpf die Geschichte des Theaterballetts erarbeitet. Und ich werde praktisch die Fortsetzung dazu liefern, indem ich beschreibe, wie sich im zwanzigsten Jahrhundert das klassische Ballett für andere Ausdrucksformen geöffnet hat, dass nach und nach mutige Vorreiter wie Pina Bausch die Wahrnehmung von Tanz verändert haben und wie Musikkünstler wie Michael Jackson zum Beispiel einige Elemente sogar in der Popmusik eingesetzt haben.

„Das klingt alles toll, ich denke, damit werdet ihr alle vier gut landen. Mir ist heute Nachmittag übrigens noch was aufgefallen. Erstens wollen wir ja Lasse und den Gesellschaftstanz in die Aufführung integrieren. Und dazu braucht er eigentlich eine Dame. Jetzt schaut euch mal um."
Er grinst uns an und zeigt auf Milly.
„Milly, kannst du Gesellschaftstänze? Zum Beispiel einen eleganten langsamen Walzer oder eine laszive Rumba? Dann erweitern wir die Nummer nämlich noch dahingehend, dass Lasse nicht alleine sondern mit Milly reingetanzt kommt. Und dass ihr alle am Schluss eine akrobatische Pyramide baut oder so. Das sehen wir dann."

Erstmal müssen wir Milly erklären, von was für einer Nummer wir reden.
„Wir schlagen sozusagen mehrere Fliegen mit einer Klappe – die Elternaufführung des Tanzstudios in den Osterferien, die praktischen Abiprüfungen und – wenn es optimal läuft - die Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen."
„Klingt cool. Ja, ich kann tanzen, und wenn es nur um ein oder zwei Tänze geht, kann ich die bis dahin auch richtig gut draufhaben. Aber dann müsste ich ja zu eurem Training kommen."
Luis winkt gleich ab.
„Ich habe inzwischen auch von Lasses Eltern das O.K. für den Sonntag Nachmittag. Sie werden aufrunden, um für Max einen Anteil mit zu zahlen. Das heißt, dass du, Milly, auch nur einen symbolischen Beitrag zahlen musst. Besprich doch mal mit deinen Eltern, was ihnen das wert ist."
„Klar, mach ich. Das klingt total spannend."

„Das Zweite, worüber wir nachdenken müssen, ist die Tatsache, dass sowohl praktische Abiturprüfungen als auch Musikhochschulaufnahmeprüfungen eigentlich Einzelveranstaltungen sind. Eure nächste Aufgabe ist es also, erst mit eurer Tutorin zu reden und dann offiziell bei der Schule oder dem Land NRW oder dem Papst zu beantragen, dass ihr eure praktische Prüfung gemeinsam ablegen dürft. Wobei du, Milly, natürlich da ausscheren kannst. Du hilfst den anderen beim Tanzen. Und sie sind dafür deine Versuchskaninchen für eine pädagogische Akrobatik-Einheit. Wenn die Schule das ablehnt, müssen wir umplanen, und das sollten wir bald wissen."

Cool! Gut, dass Milly mich heute angesprochen hat. So hat das doch alles Hand und Fuß. Und sie passt auch gut rein in unsere Truppe.
„Schön, dass du dabei bist!"
„O.K., dann lasst uns noch ein bisschen was tun heute, wir haben noch Zeit. Und so lernt Milly kennen, wie ich arbeite."

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29.9.2020    -    8.4.2021

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