014 ** Kinderkram ** Fr. 9.8.2019

Jenny hat mich gestern Abend erst schlafend vor Erschöpfung auf dem Sofa erwischt, dann hat sie mich für meine Coolness und meinen Etappensieg gegen Papa Frey gelobt. Und dann hat sie mir den Kopf abgerissen, weil ich schon viel zu tief in der Scheiße stecke, um da mit heiler Haut rauszukommen. In Wahrheit kann ich nämlich gar nichts gegen die Hartmann ausrichten, wenn der Direx sich nicht rührt. Und es ist auch gar nicht meine Aufgabe. Das müsste der Vater tun. Und dreimal die Woche Nachhilfe ist der ultimative Irrsinn neben dem Pensum einer ambitionierten Frisch-Lehrerin. Und ich im Alleingang kann Max Abitur nicht retten. Und überhaupt. Vor allem überhaupt.
Und - sch... - sie hat ja recht. Ich versuchs trotzdem.

Mein Hirn rotiert. Immer und immer wieder spule ich das Gespräch durch und überlege, ob ich alles richtig gemacht habe. Die Mutter - oder Stiefmutter? - hat mich sehr erstaunt. Erst war sie nicht angekündigt, dann kommen die deutlich zu spät, dann fährt sie ihrem eigenen Mann mehrfach gegen den Karren und zum Schluss will sie Geld zur Finanzierung dazutun. Das war echt seltsam. Irgendwann habe ich mich dann doch noch aufgerafft und den Unterricht für heute vorbereitet. Zwischendrin kam eine total süße Massen-Emoji-Dankes-Nachricht von Max. Und schließlich bin ich total ausgelaugt ins Bett gesunken.

Dementsprechend gerädert stehe ich heute wieder auf, schleppe mich erst ins Bad und dann an den Frühstückstisch. Jenny weiß bei meinem Anblick nicht, ob sie mich auslachen oder mitweinen soll. Aber wie immer bringt mich die fünfzehnminütige Radeltour zur Schule wieder ins Lot. Ich bin wacher und klarer im Kopf, als wir unsere Räder am Fahrradständer anschließen.
„Bis heute Mittag!"
„Ich hab noch'nen Ausschuss heute."
„Ach so, na dann bis heute Abend, ich hab nur vier Stunden freitags."
Jenny wendet sich zum Naturwissenschafts-Trakt und winkt noch kurz.

Ich bringe routiniert die ersten beiden Stunden hinter mich und gehe dann auf den Hof, weil ich Pausenaufsicht auf dem alten Hof habe. Am Schülerkiosk stoßen die vier Tänzer dazu und biegen bald in Richtung neuem Hof ab.
„Jungs?"
Sie stoppen, drehen sich zu mir um und schauen mich fragend an. Ich winke sie zu mir, damit ich nicht laut reden muss.
„Nur ganz nebenbei - eure beste Freundin hat grade Aufsicht auf dem neuen Hof ..."
Max Augen weiten sich. Aber er findet schnell die Sprache wieder und läuft an mir vorbei, weiter in Richtung altem Hof.
„Wir wollten sowieso hierlang."
Die anderen grinsen und laufen Max direkt hinterher.
Vielleicht sollte ich Max montags immer den Aufsichtsplan der Woche abfotografieren ...

Die Pause bleibt ereignislos, und gegen Ende kommt Max direkt zu mir, weil ich ihm gestern noch nicht sagen konnte, in welchem Raum wir sind. Gemeinsam gehen wir ins Sekretariat.
„Morgen, Steinchen. Kann ich mal den Belegungsplan der Besprechungszimmer sehen?"
„Hallo, Süße. Natürlich gerne."
Sie reicht mir einen Plan der acht kleinen Räume an diesem Flur. Wie ich es gehofft hatte, ist der hinterste Raum freitags frei. Also blockiere ich für das gesamte Schuljahr die dritte und vierte Stunde freitags für Max und mich.
„Funktioniert der Schlüssel für diesen Flur auch für diesen Raum?"
„Ja, das ist kein Problem. Extra-Schlüssel haben nur die Fach- und Technikräume. Ich trage Sie dann auch in den online-Raumplan ein, Frau Süß."
„Ach. Wenn das halbe Kollegium krank darnieder liegt, kann ich in diesen beiden Stunden auch mal Vertretung machen. Aber ansonsten ist es wichtig, dass wir beide diese Zeit und diesen Raum wirklich haben."
"Gut, dann streiche ich Sie am besten in der Zeit gleich auch noch aus dem Plan für Vertretungskollegen."

Ich zwinkere ihr nochmal dankbar zu, dann suche ich mit Max im Schlepptau den Raum. Dieser Raum ist der kleinste und extra für solche Lehrer-Schüler-Nachhilfen gedacht. Darum ist hier auch eine kleine Tafel. Und hier hinten am Flur ist es am ruhigsten. Wir gehen rein und lassen uns nebeneinander nieder.

„Aufgeregt?"
„Hmmm. Schon. Wir haben gestern gemeinsam noch die Lerngruppen verabredet und unsere Stundenpläne verglichen."
Max zückt seinen Stundenplan, und ich halte die Luft an.
Ach, du Dreck! Wo pass ich denn da noch dazwischen???
Ich lege meinen eigenen Stundenplan daneben, und wir fangen gemeinsam an zu vergleichen. Es ist ziemlich eindeutig.
„Die einzigen Nachmittage, wo Du überhaupt noch die Kraft dazu hast, sind Montag und Mittwoch. Möchtest Du lieber direkt nach der Schule zu mir kommen und hinterher zu Hause mehr Zeit für Hausaufgaben haben, oder sollen wir Mathe hintendran packen?"
„Also, wenns nach mir geht, gleich. Dann spare ich nämlich die Zeit für einen Weg. Ich mache ja alles mit dem Rad."

„Auch wieder wahr. Also kommst du direkt nach Spanisch am Montag. Und zwar hätte ich dich gerne einfach bei mir. Es ist für uns beide angenehmer, wenn wir dafür nicht in der Schule hocken, deinem Vater sollten wir auch nicht zu oft auf dem Präsentierteller sitzen. Wir arbeiten im Wohnzimmer, wo die potentielle Anwesenheit von Frau Tucher für unser beider 'Sicherheit' sorgen wird. Und in meinem Arbeitszimmer kann ich bei den nötigen Hilfsmitteln aus den Vollen schöpfen. Ist das für Dich in Ordnung?"
Max nickt bloß. Den rosa Schimmer auf seinen Wangen ignoriere ich gekonnt.
„Der Mittwoch ist dein 'leichtester' Tag. Ich denke, da passt es am besten dazwischen. Da würde ich aber gerne früher anfangen, weil ich abends immer einen Kletterkurs im Verein leite."

„Wie lange ist denn so eine 'Stunde'? Mein Vater will das auch wissen. Ach, und meine Stiefmutter will auch 10,-€ zu jeder Stunde dazutun, aber ohne dass mein Vater das mitkriegt."
Stirnrunzelnd schaue ich ihn an.
„Wie ich das dem Finanzamt erkläre, weiß ich noch nicht. Aber die Termine dauern für Deinen Vater genau eine Zeitstunde und für dich so lange, wie du durchhältst und noch Fragezeichen hast. Du bist fest entschlossen, das zu schaffen. Also machen wir keine halben Sachen."

Max schluckt und trägt die drei Matheeinheiten auch noch in seinen Stundenplan ein. Am Schlimmsten sind sein Montag und sein Donnerstag. Und das Lernen für die Lerngruppen wird sicher vor allem am Wochenende stattfinden.
Da bleibt dann auch nicht mehr viel von übrig.

„Max, eine Sache ist ganz wichtig. Wenn du jetzt auf diesen Plan kuckst, weißt du selbst, dass das eigentlich niemand schaffen kann. Du musst also bei all dem sehr auf dich aufpassen. Ich würde mich auch gerne mit Frau Frey in Verbindung setzen. Wir alle bauen sozusagen ein Korsett um dich drumrum, dass dich durchtragen soll. Plane also bitte Pausen ein. Plane jede Woche etwas Schönes für dich oder euch. Und nimm dir die Freiheit zu sagen: dieses Training oder diese Nachhilfestunde lasse ich jetzt einfach sausen, sonst stehe ich morgen früh nicht mehr auf. Verstanden?"

Max atmet ganz langsam ein und wieder aus.
„Fangen wir jetzt gleich an? Und wie finde ich Sie zu Hause?"
Ich zeige ihm auf einer Navi-App in seinem Handy, wo ich wohne, und packe dann einen beachtlichen Stapel Papier aus.
„Ja, wir fangen gleich an. Zunächst mal muss ich Dir sagen, dass ich von deiner Vorbereitung für gestern echt begeistert war. Ich habe mich bei der gemeinsamen Bearbeitung der Aufgabe einfach an deinem Fragenkatalog orientieren können, und es hat allen geholfen."
„Außer mir ..."
"Shhhht! Mach dich selbst nicht klein! Ja, du hast immense Lücken überall. Aber die frage ich jetzt gleich einfach ab, und dann weiß ich, welche Lücken ich sofort schließen muss für die erste Klausur."

Max sieht mich skeptisch an und zieht sich dann den Stapel Kopien rüber. Eigentlich wollte ich ihm das sanft beibringen, aber er war schneller - und läuft dunkelrot an vor Wut.
„Nich ihr Ernst! Das mach ich nich!!!"
„Max, bitte hör mir zu. Das ist nicht, um dich zu ärgern. Du sollst daran einfach merken, was du doch alles kannst. Und ich kann wirklich alle Lücken finden. Hinterher bist du DAS Mathe-Ass im Kurs."
„Mit einer Klassenarbeit aus der ZWEITEN Klasse??? Sie haben grade gesagt, ich soll mich nicht klein machen. Schon verstanden. Das übernehmen Sie für mich."

Seine Hände krampfen sich um das oberste Blatt, er starrt darauf und wir schweigen satte fünf Minuten lang. Ich lasse ihn schmollen und das mit sich selbst ausmachen. Wenn seine Frustrationstoleranz jetzt schon am Ende ist, schafft er sein Pensum sowieso nicht. Schließlich dreht er sein Handy um, schaut nach der Zeit, greift nach einem Stift und fängt an zu rechnen. Seine Verachtung für diese Aktion hängt wie eine Gewitterwolke über dem Raum.

Stur und zügig arbeitet er sich durch die Arbeiten der zweiten und dritten Klasse. Kopfrechnen und die vier Grundrechenarten klappen wie am Schnürchen. Bei einer Arbeit der vierten Klasse wird er dann etwas langsamer. Offensichtlich muss er beim kleinen Einmaleins noch im Kopf nachrechnen, das kostet Zeit. Und er tappt in die erste Falle: Punktrechnung vor Strichrechnung. Diese eine Sache bespreche ich sofort mit ihm. Er schaut mich nicht mehr an, ist hochkonzentriert und setzt das schnell um. So haben wir das schonmal aus den Füßen.

„O.K. - das lief etwa, wie ich es erwartet hatte. Aber das sind keine Hürden für dich."
„Ach neeeee ..."
„Schmeiß den Ärger über Bord und hau mir lieber einen frechen Spruch vor den Latz."
„Kein Bock mehr."
Uiuiuiuiui, ist DER geladen. Naja, bis Montag wird er sich wieder einkriegen.
Kurz schaue ich ihm stumm in die misstrauisch zusammengekniffenen Augen.
Ob ihm klar ist, wie sehr er damit seinem Vater ähnelt? Genau das hatten wir gestern schonmal ...

„Na gut. Wie du willst. Die eine Regel hattest du ja nur vergessen. Ansonsten bekommst du die Aufgabe für in zwei Wochen, dass man dich morgens um 3.00 Uhr aus dem Tiefschlaf reißen kann, und du kannst das kleine und das große Einmaleins auf Knopfdruck auswendig. Da noch im Kopf nachzurechnen, kostet dich vor allem in den Klausuren einfach zu viel Zeit. Das muss wirklich sitzen. Und wenn du dir eine Datei aus dem Netz fischst, wo jemand das runterlabert, und das haust du dir beim Zähneputzen aufs Ohr."
„Sind wir fertig für heute?"
Ich nicke ihm zu und lasse ihn einfach, als er aus dem Raum stürmt.

Ooooowei - das war kein guter Start.
Ich schnappe mir das Notizbuch, das ich für ihn angelegt habe, und protokolliere gleich, was heute Inhalt war. Einen Augenblick überlege ich, dann drehe ich das Buch um und fange es auch von der anderen Seite an. Hier notiere ich die persönliche Ebene. Es wird mir gut tun, das für mich festzuhalten, damit ich alles mit Abstand betrachten und besser von mir weghalten kann.

Da es heiß ist, hatten wir das Fenster zum alten Pausenhof aufgemacht. Ich weiß nicht, ob das Absicht von ihm ist. Aber durch das offene Fenster höre ich jetzt Max mit den drei anderen Tänzern reden. Beziehungsweise seinen Zorn ausspucken.
„Totaler Kinderkram. Die hält mich wohl für total bescheuert. Ich musste Klassenarbeiten aus der Grundschule durchrechnen und hab als Hausaufgabe das kleine Einmaleins!"
Lasse ist wohl der mit dem meisten Abstand, weil er noch nicht in der Abimühle steckt.
„Und? Was ist 7 x 8?"
„56, du Affe!"
„Darf ich da ein paar Buchstaben austauschen? Affe - Asse - Lasse. - Wobei ... 'Asse' gefällt mir auch ganz gut."
Jetzt endlich löst sich die Stimmung vorm Fenster in Gelächter auf, und ich atme auf. Fast scheint es, ich habe ihn nicht geärgert sondern verletzt. Aber das kann ich nur im Gespräch mit ihm selbst klären.

........................................................................

28.9.2020    -    8.4.2021

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top