006 * Vorbereitungen aufs neue Schuljahr * 6. Ferienwoche Juli/August 2019
Konzentrierte Stille herrscht in unseren Zimmern. Wir haben uns vor zwei Jahren direkt verliebt in diese Wohnung. Auf der einen Flurseite ein großes Wohnzimmer mit viel Licht, rechts und links davon zwei kleinere Zimmer, ideal dafür, dass jede von uns schlafen, arbeiten und wirklich Ruhe vor der anderen haben kann, wenn sie das will. Davor läuft über die ganze Breite ein schöner Balkon. Auf der gegenüberliegenden Seite vom Flur sind der Wohnungseingang, eine Gästetoilette, ein Bad, eine Besenkammer und eine wirklich tolle große Wohnküche.
Wir waren Anfang der Woche in der Schule für die obligatorischen Konferenzen und Fachbereichs-Meetings, Jenny hat Lennart kennengelernt und mit ihm seinen neuen Klassenraum eingerichtet, ich habe mich zusammen mit den anderen Sportkollegen um die Sporthalle, die Umkleiden und den Geräteraum gekümmert. Nun haben wir beide unsere endgültigen Stundenpläne und Kurse, Jenny bereitet sich auf die ersten Themen vor, die Lennart ihr gegeben hat. Ich füttere meinen Lehrerkalender und mein Kursbuch mit den notwendigen Informationen zu den Klassen, studiere die Rahmenpläne für die einzelnen Jahrgänge und suche mir schonmal für manche Themen mein Unterrichtsmaterial zusammen.
Ab und zu treffen wir uns in der Küche oder auf dem Balkon, um mit Kaffee, Wasser oder einem Stück Pizza von gestern eine kleine Pause einzulegen. Wir haben beide ganz auf Schule geschaltet – von wegen, Lehrer haben zwölf Wochen Ferien im Jahr ... - und Jenny nutzt es intensiv, dass ich im Jahr davor an derselben Schule mit dem selben Mentor auch mein Referendariat gemacht habe.
Ich gammele grade auf unserem Küchensofa und meditiere über die ersten Sportstunden mit meiner neuen Fünften, als Jenny reinkommt und sich eine Flasche Wasser schnappt.
„Hat Lennart dir gesagt, dass wir am Ende der Sommerferien immer den Putztag haben? Das ist morgen. Alle müssen antanzen und Fachräume, schwarze Bretter, Materiallager und Co. gemeinsam aufräumen, Fehlendes nachbestellen und so weiter."
„Ja, er hat gemeint, dass wir für den Physiksaal zuständig sind."
„Das passt. So lernst du sofort und in aller Ruhe, wo was ist. Und ich soll der Sekretärin helfen, Listen zu vervollständigen, Aushänge zu erneuern, das obligatorische Werbematerial in die Lehrerfächer zu packen und diesen ganzen Fuzzelkram, auf den keiner Bock hat."
„Wann müssen wir da aufschlagen? Lennart hat gemeint, er will mich vor 9.00 nicht da sehen."
„Passt. Da soll ich auch im Sekretariat eintrudeln."
„Fahrrad?"
„Fahrrad!"
Und dann gehen wir beide wieder an unsere Schreibtische und bereiten weiter das nächste Schuljahr vor.
Am nächsten Morgen schwingen wir uns auf unsere Räder und sind 15 Minuten später auf dem ungewöhnlich leeren Schulhof.
„Das ist die Ruhe vor dem Sturm. Wenn du Hofaufsicht hast, stell dich unter einen der alten Bäume. Die schlucken am besten den Schall von all dem Gekreische und Gebrüll."
„Danke für den Tipp!"
Im Foyer trennen sich unsere Wege. Wir werden uns gegenseitig anpiepen, wenn absehbar ist, dass wir fertig werden.
Ich trolle mich ins Sekretariat und begrüße die Seele der Schule, Brigitte Zimmermann. Niemand kann sich erinnern, seit wann sie da ist. Sie ist einfach Urgestein und nicht wegzudenken.
„Hallo, Steinchen. Hatten Sie schöne Ferien?"
Frau Zimmermann hat sich an meine liebevoll-flapsige Art schon gewöhnt und nimmt das „Steinchen" durchaus als Kompliment.
„Ja, wunderbar. Ich war ein paar Wochen bei meiner Tochter, habe die Enkel bespaßt und mich im Gegenzug von Susi verwöhnen lassen."
Und weil sie nicht mehr so gut zu Fuß ist, gibt sie mir gleich einen Korb mit frischen Plakaten für die Schaukästen und den Klassen-, Raum- und Kurslisten fürs neue Schuljahr. Mit einem Winken und einem Haufen Schaukastenschlüsseln in der Hand mache ich mich auf den Weg zurück ins Foyer. Zügig wächst neben mir der Haufen an alten Plakaten, und mein Korb wird erfreulich schnell leerer.
Dann mache ich mich auf den Weg zu den schwarzen Brettern der einzelnen Jahrgänge und hänge alle frischen Pläne auf. Als ich auf das Brett der Oberstufe zugehe, sehe ich dort eine Gestalt rumstöbern, die mir bekannt vorkommt.
Richtig, das ist Moritz aus meinem Sportleistungskurs im Abschlussjahrgang.
„Hallo, Moritz! Hattest du solche Sehnsucht nach Schule, dass du nicht mehr bis nächste Woche warten konntest?"
Moritz zuckt zusammen, denn er hat mich wohl nicht kommen hören. Er dreht sich um und kratzt sich verlegen am Hinterkopf.
„Neee, eigentlich nicht. Ich wollte nur schauen, ob die neuen Kurspläne und Lehrer schon ausgehängt sind, weil ..."
„Weil? Ich hab sie hier und hänge sie jetzt auf."
„Ich ... Ach, Mist. Ich erzähls Ihnen."
„Komm, wir setzen uns eben in den Raum."
Der ist so durch den Wind, ich rieche, dass es einen Grund für dieses Stottern gibt, denn Moritz ist eher einer der Frecheren und sonst überhaupt nicht auf den Mund gefallen. Ich schließe das nächstbeste Klassenzimmer auf und rücke uns zwei Stühle zurecht.
„Schieß los. Du klingst unglücklich."
Moritz kratzt sich wieder am Kopf. Und dann sprudelt es aus ihm heraus.
„Es geht um Max. Er hat massive Schwierigkeiten mit seinem Vater. Und zwar die Schwierigkeiten von der ganz irrationalen Sorte."
Dann erzählt er von Herrn Freys Reaktion auf das Zeugnis, vom Tanzverbot, der Ausgangssperre, den durchgeputzten Wochen. Von dem Job, den er und Paul machen, um Max zu unterstützen. Und von dem Vorfall am letzten Wochenende.
„Max ist am Boden zerstört. Warum sein Vater so schräg drauf ist, muss Max Ihnen selbst sagen, da will ich nicht eingreifen. Aber er erpresst Max aufs Übelste und gefährdet damit sein Abi. Denn wenn er nicht mehr tanzen darf, fliegt er im Grunde aus dem LK raus, was zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr möglich ist."
Ich falle bei dieser Erzählung von einer Ohnmacht in die nächste.
„In der Tat. Ich bin sehr froh, Moritz, dass ich dir hier begegnet bin. Das ist ja eine Katastrophe! Wie kann man seinem eigenen Kind das Abitur vermasseln!?! Ich werde ihn sofort in der ersten Schulwoche zu einem Elterngespräch zitieren. Das werden wir ja wohl sehen. Max ist noch nicht 18, oder? Dann kann ich ihm nämlich auch mit dem Jugendamt drohen."
„Das Elterngespräch. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Herr Frey hat einen Brief an die Schule geschrieben, dass er sofort ein Gespräch mit der zuständigen Lehrerin für Mathematik verlangt. Max stirbt vor Angst, dass er in diesem Gespräch zwischen Frau Hartmann und seinem Vater zu Staub zerrieben wird. Ich hab mir grade 'ne Stunde Pause vom Job genommen, weil ich nachschauen wollte, ob es für unsren GK bei der Lehrerin bleibt. Nachhilfe will der gnädige Herr nämlich auch nicht bezahlen, und dann müssen wir das irgendwie für Max organisieren, denn so schafft er das nicht."
Ich habe bei diesen Worten angefangen, immer breiter zu grinsen.
„Da macht euch mal keine Sorgen. Er wird sein Gespräch bei der zuständigen Mathelehrerin bekommen."
Ich durchsuche die Kurslisten für die Zwölfte und ziehe ein Blatt daraus hervor.
„Hier, euer Kurs."
Moritz nimmt das Blatt und bricht in Jubel aus.
„Oh - sorry. Ich ... ähm. Wenn wir SIE haben jetzt, dann hat Max eine echte Chance. Das ist einfach riesig!"
„Ich verspreche dir, Moritz, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, dass Max sein Abi schafft. Ihr wolltet doch versuchen, für euer Tanzstudium an die selbe Uni zu kommen, oder?"
„Ja, genau. Ich mein', wenn er jetzt verk... wenn ers jetzt nicht schafft, kommt er halt nächstes Jahr mit Lasse nach. Aber dann wäre er auch noch ein Jahr länger zu Hause, und das tut ihm echt nicht mehr gut."
„Moritz, ich muss dich allerdings bitten, das noch niemand zu erzählen, so furchtbar es für Max ist. Du musst dicht halten. Ich sehe gleich im Sekretariat nach, ob der Brief schon da ist, dann kann ich selbst antworten und einen Termin raushauen. Und Max wird es dann am Montag erfahren, wenn wir zum ersten Mal das Vergnügen miteinander haben werden. Ist das O.K.?" Moritz sieht aus, als möchte er mir am liebsten um den Hals fallen, so froh ist er über die guten Nachrichten.
„Ich muss jetzt los. Tausend Dank!"
Kurz vor 13.00 Uhr finden wir Mädels uns wieder bei den Fahrradständern ein und radeln nach Hause. Ich bin sehr still. In meiner Tasche knistert ein unglaublich überheblicher und ungeduldiger Brief. Von Herrn Frey.
„Alles klar bei dir, Toni?"
„Ja und nein. Ich erzähls dir gleich beim Mittagessen."
Als wir dann mit einer großen Schüssel frischem Salat und Baguette auf dem Balkon hocken, hole ich tief Luft.
„Pass auf. Es geht um Max. Maximilian Gersten, meinem Frechdachs aus dem Sport-LK. Sein Vater hat ihm das Tanzen verboten. Er will damit Wohlverhalten von Max erpressen. Wenn Max nicht absolut spurt, streicht er ihm das Tanzen endgültig und schmeißt ihn an seinem 18. Geburtstag raus."
„Nochmal kommen?"
„Er verbietet ihm das Tanzen, wissend, dass das Max die Abizulassung kosten kann, und erpresst ihn damit."
„Seinen eigenen Sohn!"
„Seinen eigenen Sohn."
„Ich glaub, ich hab was an den Ohren."
"Nööö, haste nich. Der Stein des Anstoßes ist unsere allseits geliebte Frau Hartmann, die Max auf dem Kieker hat. Der Vater hat Max die ganzen Ferien nicht aus dem Haus gelassen, ihn Haus und Grundstück generalüberholen lassen, ihm verboten zu jobben – und ihm verkündet, dass er weder fürs Tanzen noch für eine Mathenachhilfe auch nur einen Cent springen lassen wird. 'Wenn du Abi willst, sieh zu, wie du das anstellst.' Sein Freund Moritz war vorhin in der Schule am Schwarzen Brett, weil er sehen wollte, welche Lehrer sie dieses Jahr haben. Er war richtig verzweifelt für seinen Freund und hat mir einiges erzählt. Ich hab ihm unerlaubterweise verraten, dass sie statt Frau Hartmann nun mich haben. Aber das reicht nicht für Max. Ich überlege ernsthaft, ob ich zum Jugendamt gehen soll. Aber dann wird das Leben zu Hause für Max die Hölle, und damit ist ihm auch nicht gedient. Ich weiß halt nicht, ob es für Max ein gutes Ausweichquartier gibt. Oh Mann, ich bin so unglaublich hilflos und so unglaublich stinkwütend, das kannst du dir gar nicht vorstellen!"
Schweigend essen wir unseren Salat, mit deutlich weniger Appetit als vorher.
„Und jetzt?"
„Und jetzt habe ich heute diesen entzückenden Brief von Herrn Frey bekommen."
Ich ziehe den Brief aus der Tasche.
„Sehr geehrte Schulleitung!
Mein Sohn Maximilian hat aufgrund seines Versagens in Mathematik sein Abitur gefährdet. Ich möchte sofort in der ersten Schulwoche mit der zuständigen Mathematik-Lehrerin sprechen und beraten, ob der Schulabschluss doch noch zu retten ist und welche Maßnahmen dafür geeignet wären.
Mit freundlichen Grüßen,
Axel Frey"
„Darf ich mal eben unprofessionell werden?"
„Tu dir keinen Zwang an."
„Arsch!"
„Jepp."
„Boah, wie gut, dass der Brief bei dir gelandet ist und nicht bei der Hartmann."
„Das konnte ich verhindern. Moritz hat mir den Brief ja angekündigt. Und da ich heute der Sekretärin zugeteilt war, konnte ich den Brief gleich aus dem frischen Poststapel ziehen und an mich nehmen, bevor ich die Lehrerfächer gefüttert habe. Ich habe mit Frau Zimmermann auch offen darüber geredet, was an dem Brief dran hängt. Sie hat den Brief geöffnet und ihn dann ganz offiziell an mich als demnächst zuständige Lehrerin weitergereicht. Sicher ist sicher, aber Frau Hartmann ist nicht namentlich erwähnt in dem Brief. Darum waren wir uns einig, dass das jetzt mein Job ist. Also werde ich den gnädigen Herrn gleich nächste Woche herbeizitieren und auf den Pott setzen. Gaaaanz höflich natürlich ..."
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20.9.2020 - 6.3.2021
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