001 ** Max und Moritz ** 1. Ferienwoche Juli 2019

Dring DRING!!!

Brutal reißt das Handy auf dem Nachttisch mich aus meinen Ferienträumen.
Was 'ne Zumutung. Wer ruft denn in den Ferien schon um kurz nach 12.00 Uhr an!?!
Gelassen drehe ich mich auf die andere Seite und ignoriere völlig schmerzbefreit mein schepperndes Mobiltelefon. Erst, als der penetrante Anrufer zum dritten Mal von vorne anfängt, reibe ich mir die Augen, taste nach meiner Brille, damit ich den grünen Knopf überhaupt finde, und gehe gähnend an den Apparat. Allerdings bin ich dann ganz schnell wach und halte das Gerät so weit wie möglich weg von meinem Ohr, denn mein bester Freund Max am anderen Ende der Leitung kriegt grade einen kleinen, dezent verzweifelten Nervenzusammenbruch.

„Rette mich, Moritz! Gestern ist der werte Herr Papa von der Dienstreise zurückgekommen und hat sich mit Gebrüll auf mein Zeugnis gestürzt. Die Kacke ist echt am Dampfen."
„Dir auch einen guten Morgen. Hast du gut geschlafen oder ..."
„Nein, natürlich nicht! Der hasst mich, echt!"
„Wieso? Soooo schlecht ist dein Zeugnis doch gar nicht – wenn man mal von den 3 Punkten in M..."
„Jaja, dreh noch das Messer in der Wunde rum. Naturwissenschaften sind doch echt für die Füße. Die Natur funktioniert auch von alleine, ohne dass ich berechnen kann, wieviel mein Fahrrad auf 'ner abschüssigen Straße schneller wird."
„Und? Was brummt er dir diesmal auf?"
Max stöhnt vernehmlich und wirkt ziemlich mutlos.
"Sch... egal. Viel schlimmer. ... Ich darf nicht mehr tanzen."

Mir bleibt vor Schreck die Luft weg.
„Oh sch...!!! Das ist ja total beknackt. Wie willst du die Aufnahmeprüfung fürs Studium bestehen, wenn du total außer Übung bist???"
„Gute Frage, nächste Frage. Papa findet es sowieso total überflüssig und eine brotlose Kunst, dass ich vom Tanzen leben will. Wenn Tante Jana ihn nicht noch umstimmen kann, sehe ich schwarz. Aber ich fürchte, ich kann mir nach dem verkackten Abi 'nen Bürojob suchen oder Müllmann werden. Da tänzele ich dann von Mülltonne zu Mülltonne und hieve die mit einer eleganten Pirouette in den Müllwagen rein."
„Oder du steppst von Büro zu Büro den langen Flur entlang, während du allen Kollegen ihre Dienstpost austeilst. Klackerdiklackerdiklack."
„Hei, das klingt nach einer spannenden Alternative! Stinkt wenigstens nicht so ..."

Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren, aber so schnell fällt mir nichts Tröstendes ein.
„Mensch, Max. das ist echt besch... Und es riecht nach einem anstrengenden Jahr. Vielleicht solltest du dich doch mal weniger aufs Nachsitzen und mehr auf den Unterricht konzentrieren."
„Wie soll das denn gehn mit dem Mathedrachen? Die Frau ist humorlos, steinalt, unfähig, irgendwas zu erklären, und mein persönliches Damokles-Schwert. Manchmal hab ich echt das Gefühl, die weiß selbst nicht, wie das geht. Wie soll ICH das dann kapieren?"
„Womit du den Nagel auf den Kopf getroffen hast. Ich halt mich ja auch an Paul, der erklärt definitiv besser als der Drachen. By the way – wann kommt Paul eigentlich aus dem sehr geliebten Familienurlaub zurück? Die sind wieder campen, oder?"
„Ja klar, mit vier Kindern kannste nicht in Urlaub fliegen und 'n Hotel bezahlen. Ich glaub, die sind zwei Wochen weg."

O.K., ich versuchs mit ablenken.
„Haste heute Nachmittag Zeit fürn Baggersee?"
„Sagen wir mal so – wenn ich bis dahin mein Zimmer in ein Museum der modernen Jugendkultur verwandelt, den Rasen gemäht, die Hecke gestutzt, alle Türklinken und Treppengeländer im Haus abgeseift und alle Blumen gegossen habe – dann ja."
„Ach, du K... Dein Alter hat'n Rad ab. Davon wirste in Mathe nu auch nich besser."
„Ohhh doch. Sowas von! Wenn ich in den ganzen Ferien nicht bei meinen Freunden übernachte, das ganze Haus sauber halte und jede Nacht mit meinem Mathebuch kuschele, dann bin ich in fünf Wochen ein wahres Genie!"

Max seufzt vernehmlich am anderen Ende. Mir fällt nichts mehr ein.
„Du, Moritz. Mein Vater ist nächste Woche nochmal auf Dienstreise. Könntest du dann bitte auf einem weißen Ross geritten kommen, mich entführen und mich vor den bösen Drachen beschützen? Ich verkleide mich auch als Rapunzel, lasse mein Haar herunter und geb dir jeden Abend einen Gute-Nacht-Kuss."
Igitt! Muss DER verzweifelt sein!
„Naaaa gut, aber nur unter einer Bedingung: den Gute-Nacht-Kuss behältst du schön für dich."
„Alles, was du willst. Hauptsache, ich bekomme vor dem 5.8. noch irgendwas anderes zu sehen außer diesen vier Wänden und unserer beachtlichen Ansammlung von Putzutensilien."
„Oh Mann, das ist doch kein Leben. Weißt du was? Ich komm jetzt mal langsam in die Gänge, und dann helfe ich dir dabei, eure Hütte auf Vordermann zu bringen."
„Was täte ich nur ohne mein Gegenstück. Wilhelm Busch muss das vorhergesehen haben."
„Oder deine Eltern damals im Kreissaal, dass wir uns mal finden und so unzertrennlich sein würden. Bis nachher, alte Socke. Lass dich nicht unterkriegen."

Kopfschüttelnd drücke ich den roten Hörer und lasse mich mitsamt Handy zurück in die Kissen plumpsen.
Wenn wir Pech haben, heißt das: aus der Traum. Wir wollten doch zusammen mit Paul an eine Uni und gemeinsam Tanz studieren. Und Lasse dann nach einem Jahr noch nachziehen. Aber so schafft Max das nie!

Was in dem Kopf von Max Vater vorgeht, verstehen wir Jungs eh schon lange nicht mehr. Seit Max Mutter starb, als er fünf war, hat sich der Vater nicht wieder erholt. Und seit die Stiefmutter im Haus ist, kriegt Max keinen Fuß mehr auf den Boden. Wenn er nicht die Schwester seiner Mutter in der Haushälfte nebenan hätte und damit auch seinen Cousin Lasse direkt bei sich, wenn er sich nicht ab und zu dorthin flüchten könnte, sobald es zu doll wird, dann wär der längst an dem Druck verreckt.

Seufzend mache ich mich deutlich früher als geplant auf ins Bad und begnüge mich heute mal mit der Schnellversion. Auch in der Küche trinke ich einfach nur ein Glas Joghurt leer. Hauptsache schnell zu Max, damit der nicht durchdreht. Eine halbe Stunde, nachdem wir aufgelegt haben, rolle ich auf meinem Skateboard in die Einfahrt von Max, freue mich, dass das Auto von seinem Vater nicht da ist, und werfe den immer hinter dem Busch versteckten Tennisball gezielt an Max Fensterscheibe. Dann verstecke ich den Ball wieder, mein Skateboard dazu und stelle mich neben die Haustür. Als die Tür sich öffnet, hört ich hinter Max eine weibliche Stimme rufen.
„Max, ich verstehe ja, es ist hart. Aber du weißt, dass du erstmal nicht weggehen darfst."
Max lässt den Kopf hängen. Die Stimme kommt näher, und Tanja Frey taucht hinter Max auf.
„Gib mir und ihm ein paar Tage Zeit. Wenn er wieder runtergekommen ist, versuche ich nochmal, ihm klar zu machen, wie kontraproduktiv das ist. ... Oh, Moritz, komm rein!"

Schnell nehme ich meinen schwer gestressten Buddy in den Arm. Wir folgen Tanja Frey ins Haus. Ich mache einen auf enthusiastisch, schaue mich um und krämpele die Ärmel hoch.
„So, Schnäuzelchen, was hast du schon geschafft, und was müssen wir noch machen?"
Max knurrt angriffslustig.
„Noch ein Schnäuzelchen, und du tust deinen letzten Atemzug. - Türklinken und Treppengeländer hab ich. Ich schlage vor, wir machen erst Rasen und Hecke. Und dann verziehen wir uns in mein Zimmer. Da können wir Musik hören beim Aufräumen und Ausmisten und laufen meinem persönlichen Kerkermeister nicht sofort in die Arme, wenn er von der Firma nach Hause kommt."

Gesagt, getan. Wir stapfen in den Garten zum Schuppen, versorgen unsere Geräte mit Strom und werfen uns „aufs Gemüse". Ich mähe den großen Rasen, dabei kann man nichts falsch machen. Und Max stutzt die Hecke, denn nur er weiß, wie die am Ende aussehen soll. Eine Stunde später können wir die Geräte wegräumen, Gras und Zweige in die Biotonne stopfen und ins kühle Haus flüchten. In der Küche decken wir uns erstmal mit Cola und Wasser ein.

„Sag mal, war da vorhin in deiner Aufzählung nicht auch noch Blumen gießen dabei?"
„Das hat Tanja zum Glück schon gemacht. Kaum war Papa aus dem Haus heute Morgen, hat sie nur gemeint:'ich seh gar nicht ein, dass meine Blumen seiner Bestrafungswut zum Opfer fallen sollen. Zisch ab, ich mach das schon'."
Max Stiefmutter Tanja ist Gärtnerin und Floristin und hat zusammen mit einer Kollegin einen eigenen Betrieb. Sie steht oft vor Tag und Tau auf, um auf dem städtischen Blumenmarkt die schönsten Blumen zu ergattern oder durch ihre Gewächshäuser zu streifen. Dafür kann sie sich ihre Zeit frei einteilen, geht manchmal später oder kommt zwischendurch nach Hause, um für Max da zu sein.

„Au Mann. Deine Stiefmutter ist echt viel cooler drauf als dein Vater."
„Ich hab nie gesagt, dass ich sie nicht leiden kann oder gar von hier vergraulen will. Ich wollte bloß nicht ihren Namen annehmen müssen."
Dann stapfen wir die Treppe rauf und trollen uns in Max Zimmer. Wir stehen mitten in einem typischen Jungszimmer – also ... inmitten von schmutzigen Socken, lustlos in die Ecke gepfefferten Schulbüchern, den Controlern der Playstation, mehreren leeren Colaflaschen und den miefenden Tanzklamotten vom letzten Training. Verlegen kratzt sich Max am Kopf und mustert eingehend das Loch in seiner Socke.

Aber ich mache einfach wieder den Motor.
„O.K. - was muss hier alles passieren, damit wir die Eintrittskarten an die Museumsbesucher verkaufen können?"
Max murmelt vor sich hin.
„Bett neu beziehen, Schrank komplett durchsortieren, zu kleine Sachen aussortieren, alles Schmutzige in die Wäsche. Allen Müll und die Flaschen sortiert entsorgen. Bücherregal abstauben, dabei Bücher sortieren und die Fächer für den Schulkram aufräumen. Schreibtisch entrümpeln. Alle Tanzsachen in die hinterste Ecke vom Schrank verbannen, damit der werte Herr Papa nicht noch auf die Idee kommt, davon was wegzuschmeißen. Alles unterm Bett raus, was sich da so angesammelt hat. Hab ich was vergessen?"

„Reicht! Das schaffen wir heute sowieso nicht alles. Da MUSS ich ja wohl morgen nochmal kommen. Also gut. Sinnvolle Reihenfolge?"
Max holt von nebenan frische Bettwäsche und bezieht sein Bett neu. Dann schaufelt er alle Klamotten aus seinem Kleiderschrank raus und wirft sie aufs Bett. Während er die schmutzige Wäsche im Raum zusammensammelt, fange ich an, die Klamotten zu sortieren – Hosen, T-shirts, Hoodies, Sportsachen, ... Max schaut sich dann die Haufen an und pult alle Sachen heraus, die ihm längst zu klein oder zu kaputt sind. Nach einer knappen Stunde sind alle Sachen ordentlich im Schrank, und neben dem Bett steht ein Müllsack mit aussortierten Klamotten. Der Wäschekorb im Bad ist auch gut gefüllt.

Als nächstes kommt das Regal dran. Alle Bücher werden rausgeholt, zum Staub wegpusten aus dem Fenster gehalten und in Stapeln auf dem Boden sortiert. Allmählich kehrt bei Max die gute Laune wieder, und so schmeißen wir unsere Lieblings-Playlist an und grölen einfach mit. Dann sortiere ich alle Schulsachen, denn damit kenne ich mich ja aus. Max kippt den Inhalt aller Schreibtischschubladen auf einem leeren Müllsack aus, wischt sie aus und überlegt sich eine neue Ordnung dafür. Wieder wird ein Müllsack gut gefüllt.

In dem Moment hören wir durch das geöffnete Fenster einen Wagen in die Einfahrt fahren. Max wird blass und beißt die Zähne zusammen. Ich springe auf, schließe das Fenster, klopfe Max auf die Schulter und bereite mich auf einen fluchtartigen Abgang vor.
„Hei. Wir haben 'ne ganze Menge geschafft. Ich komm morgen wieder. Du schaffst das. WIR schaffen das."
Max nickt stumm und greift nach dem Staubsauger. Er weiß ja, dass ich damit nicht nur die Putzerei sondern auch das letzte Schuljahr und die Aufnahmeprüfungen und alles andere meine. Aber er selbst glaubt da grade nicht mehr dran, und das tut ganz schön weh.

So leise wie möglich flitze ich ins angrenzende Bad, klettere durchs Fenster auf die Garage und von dort durch die alte Eiche auf die Einfahrt. Dieser Weg ist seit Jahren erprobt. Mein Skateboard lag hinter der Garage, da springe ich nun drauf und verschwinde vom Grundstück, ohne dass Max Vater mich gesehen hat.

Herr Frey wird jetzt wahrscheinlich zu Max ins Zimmer gehen und alles kontrollieren, was „er" geschafft hat, und Max selbst sitzt jetzt sicher in seinem unnatürlich ordentlichen Zimmer neben dem staubfreien Regal über seinem abgestaubten Mathebuch und starrt die darin abgedruckten Hieroglyphen an. Ich fühle mich einfach nur beschissen hilflos.

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15.9.2020    -    5.3.2021    -    5.11.2021

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