7. Angst

Leise wimmerte Manu auf, während Tränen ungebremst über sein Gesicht rannen. Er wollte gerade einfach nur weg, weg von hier, aus der dunklen Gasse, in die der Fremde ihn gezerrt hatte, vergessen, was in den letzten Minuten passiert war. Wie lange es gedauert hatte, konnte er nicht sagen, er hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt.

Seine Arme gaben unter ihm nach, als er das erste Mal versuchte, sich vom Boden hochzustemmen, waren zu schwach, um sein Gewicht zu heben. Tiefe Kratzer schnitten in seine Haut ein, bedeckten Rücke, Brust und Arme. Er hatte versucht, sich zu wehren, den Fremden davon abzuhalten, ihn zu berühren, aber das hier war alles, was er erreicht hatte.

Brennende Haut, die sich an manchen Stellen verfärbte, ein schmerzender Körper und unglaubliche Scham. Das Gefühl von fremden, groben Händen, die ihn berührten, ihn anfassten und das Wissen, nichts dagegen tun zu können. Die Erinnerung, wie er auf die Knie gedrückt wurde und ein starker Griff sein Gesicht in einen fremden Schritt drückte, wenig später mit der Brust gegen die Wand, Hände in seiner Hose, die ihn berührten und sie ihm nahezu vom Körper rissen.

Manu schluchzte auf. Er hatte immer gedacht, so etwas passierte bloß in schlechten Filmen, hatte gedacht, sowas würde ihm nie passieren. Jungs wurden nicht vergewaltigt, das passierte nicht. Hatte er immer gedacht.

Er wollte einfach nur noch weg, weg aus dieser dunklen Seitengasse, weg von hier, weg von seinen Erinnerungen.

Irgendwie schaffte er es nun doch, sich aufzurappeln, sich hochzustemmen und stehen zu bleiben. Einen Schritt nach dem Anderen, wie von Sinnen, aber er schaffte es.

Kurz schloss er die Augen, bevor er zurück auf die Hauptstraße trat. Er wollte nicht, dass igendjemand ihn so sah, wollte nicht, dass irgendjemand erfuhr, was passiert war. Viel zu sehr schämte er sich selbst dafür.

Kurz überlegte er, zurück zu Dado zu fahren, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. So gerne er auch gerade seinen besten Freund bei sich gewusst hätte – einfach jemanden gehabt hätte, der für ihn da war und ihn hielt, jetzt, wo er das Gefühl hatte, anders nicht mehr zu können – er konnte nicht. Maurice würde wissen wollen, was passiert war, würde wollen, dass er mit ihm redete. Darüber redete, was ihm geschehen war – und Manu konnte nicht darüber reden. Noch dazu hatten seine Eltern ganz klar zu verstehen gegeben, dass er nicht über Nacht bleiben durfte und ohne ihnen zu erklären, was passiert war, würden sie ihre Meinung auch nicht ändern.

Manu stolperte kurz, so eilig hatte er es nun, zum Bahnhof zu kommen. Er wusste nicht, wie spät es war, wusste nicht einmal, ob sein Zug schon gefahren war, es war ihm gerade auch egal. Er wollte bloß weg, weg von hier, weg aus der Dunkelheit, zum Bahnhof, wo Licht und Menschen waren. Er war nicht mehr weit weg gewesen, es dauerte nun keine fünf Minuten mehr, in denen er sich, seinen schmerzenden Körper ignorierend, hauptsache weg von hier, durch die Straßen kämpfte, sich fast schon panisch nach fremden Menschen umsehend, bis er in den hell erleuchteten Bahnhof trat.

Sich nichts anmerken lassen. Wahrscheinlich sah man ihm eh an, dass etwas nicht stimmte, sein panischer Blick, die überwachsame Haltung, seine unruhige Art. Aber trotzdem versuchte er, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er wollte nicht, das fremde Menschen sich fragten, was mit ihm passiert war, was los war, warum er so war. Er wollte nicht, dass es irgendjemand erfuhr. Wollte am liebsten, dass es nie passiert war.

Ein Blick auf die große Anzeige über den Gleisen verriet ihm, dass sein Zug noch nicht einmal gekommen war. Das, was ihn wie eine Ewigkeit vorgekommen war hatte nicht mehr als zehn, höchstens fünfzehn Minuten dauern können.

Manu fühlte sich merkwürdig taub, als er zu seinem Gleis wankte. Es war, als wären alle Emotionen einfach ausgeschaltet worden, er fühlte nichts mehr, nur dieses stumme Funktionieren, einen Schritt vor den anderen. Sein Körper funktionierte automatisch, während Manu zu funktionieren aufgehört hatte.

Es wäre nur ein falscher Schritt, ein Schritt zur Seite, auf die Gleise und mit dem richtigen Timing wäre es vorbei. Manu hatte nie ernsthafte Suizidgedanken gehegt aber jetzt, in diesem Moment, schien es ihm eine durchaus in Erwägung zu ziehende Lösung - dann müsste er nicht mehr verdrängen, sich schämen und ekeln, diesem Gefühl der Hilflosigkeit ausgesetzt sein. Es wäre vorbei - und im Moment hätte er fast alles gegeben, damit es vorbei war.

Aber eben auch nur fast. Irgendetwas schien es zu geben, was ihn davon abhielt, sich einfach auf den Nachbargleis zu stürzen, wo man schon aus der Ferne den Zug sehen konnte, der einfuhr und all dem ein Ende zu setzen. Manu wusste nicht, was es war, aber es war da und es sorgte dafür, dass er weiter ging, zu seinem eigenen Zug, der schon wartete und in wenigen Minuten abfahren würde.

Als etwas Manu am Arm berührte und ihn festhielt, schrie er erschrocken auf. Sofort stiegen wieder die Bilder in ihm auf, die Erinnerungen kamen für einen kurzen Moment aus ihrer Verdrängung zurück und schlugen mit aller Stärke auf ihn ein. Erschrocken zog er seinen Arm zurück, befreite sich aus dem Griff, der ihn festhielt, stolperte einen Schritt zurück. Er bekam gar nicht mit, wie die Leute um ihn herum ihn verwirrt ansahen, von seinem Schrei aufgeschreckt, sah panisch zu der Frau, die ihn festgehalten hatte und ihn nun, von seiner Reaktion erschrocken, musterte.

"Ganz ruhig, Junge. Ist alles gut? Du siehst nicht gut aus."

Manu schüttelte nur den Kopf und wich noch einen Schritt zurück. Irgendetwas schien ihm die Kehle zuzudrücken, selbst, wenn er gewollt hätte, hätte er nicht antworten können, nichts sagen können.

Er ignorierte die fremden Leute um ihn herum, drehte sich um und rannte zur Zugtür, durch die er in das Innere des Zuges schlüpfte.

Er wollte nicht darüber reden. Er konnte nicht darüber reden.

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Patrick:

Ist dir bewusst, dass du ein asozialer Mensch bist der dringend eine Antiaggressionstherapie benötigst?

»Aber selbst wildfremde als asozial beleidigen. Du kennst mich nicht einmal.«

Könntest du dir vorstellen, dass aus dir und Manuel mal was wird?

»Nein?«

Manuel:

Was wenn Dado in Wirklichkeit doch wegen dir nicht viel gegessen hat, weil er in dich verliebt ist, doch er es dir nicht sagen wollte, weil ... er Angst hatte?

»Das ist quatsch. Dado ist mein bester Freund. Wir haben uns mehr als nur ein mal geküsst. Würde er etwas für mich empfinden, hätte er es mich merken lassen.«

Glaubst du, Patrick hat nur auf dich so großen Hass? Oder glaubst du, er mag andere genauso wenig wie dich?

»Ich weiß nicht, warum, aber außer zu mir ist er eigentlich zu den Meisten ganz nett.«

Wieso hast du es Dado nicht gesagt, was Patrick gemacht hat? Ich glaube, dass Dado duch Angst um dich rückfällig wird.

»Unsinn. Ich habe mit ihm gesprochen. Ich habe ihm ja alles erzählt, außer, dass ich Patrick eine Schwuchtel genannt habe. Das war ja auch nie so gemeint. Und selbst wenn er sich Sorgen macht, macht er sich die so oder so, ob ich ihm davon erzähle oder nicht. Aber ich glaube nicht wirklich, dass er davon rückfällig wird.«

Maurice:

Hast du Angst davor, dass du es nicht schaffst? Also deine Krankheit zu besiegen?

»Natürlich. Natürlich habe ich Angst davor. Genauso, wie ich Angst davor habe, den Rest meines Lebens mit der Krankheit leben zu müssen.«

Maurices Eltern:

Ist es Ihnen nie aufgefallen, dass ihr Sihn anscheinend krankhaft dürr ist? Ich meine, wenn er Sie doch öfters besucht hat, muss das doch aufgefallen sein! Und dann können Sie doch die Schuld nicht Manu geben.

»Maurice hat es uns nie gezeigt. Er war schon immer eher kleiner. Noch dazu war er nur am Wochenende Zuhause - und da noch nicht einmal jedes Wochenende. Wir haben uns nichts dabei gedacht, wenn er am Wochenende nur mit weiten, gemütlichen Klamotten rumgelaufen ist. Wir dachten, dass das normal sei in dem Alter und nicht, dass er ... gestört ist. Manuel hingegen hat ihn jeden Tag gesehen, er hat mit ihm in einem Zimmer gewohnt. Er wusste davon und hätte ihm helfen können, hat es aber nicht getan. Und erst als er hier war wurde es ja anscheinend so schlimm, dass Maurice es uns gebeichtet hat.«

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Ich wiederhole: Morddrohungen werden bloß als Papierflieger gefaltet angenommen.

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