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Sich aus dem Fenster abzuseilen, nur um einer Konfrontation mit Yamada aus dem Weg zu gehen, war eindeutig eine seiner weniger guten Entscheidungen, die er bisher in seinem Leben getroffen hatte. Allerdings reihte sie sich zu den anderen schlechten Entscheidungen, die er in den letzten Stunden getroffen hatte, ganz gut ein. Die erste war es gewesen, überhaupt erst das Wohnheim zu verlassen, um auf Patrouille zu gehen. Danach war sein Abend weiter bergab gegangen. Es waren erstaunlich viele Schurken unterwegs gewesen, und obwohl er anfangs ständig als eindeutiger Sieger aus den Kämpfen hervorging, merkte er, dass er nicht richtig bei der Sache war. Daher dauerte es auch nicht lange, bis er ein paar Schläge mehr einstecken musste und einmal sogar schmerzhaft von einem Garagendach fiel, weil er einen falschen Schritt machte.
Sein Bein schmerzte höllisch bei jedem Schritt, doch er wurde nicht langsamer, sondern hielt weiter auf das Lehrerwohnheim zu. Im Augenblick sollte sich dort niemand aufhalten, weil die meisten ihre Freistunden im Schulgebäude verbrachten. Shota konnte also – hoffentlich – ungestört seine Wunden versorgen und sich in seinem Zimmer verkriechen, bis Gras über diese Sache gewachsen war. Sobald dieser Tag vorüber war, würde sich hoffentlich wieder alles normalisieren. Oder aber Aizawa würde entweder seine Klasse ein wenig verkleinern müssen, oder seinen Lehrerjob an den Nagel hängen. Irgendeine Lösung würde er schon finden.
Nachdem er das Wohnheim endlich betreten hatte, hielt er auf das Badezimmer zu. Da ein sehr großer Teil der UA-Angestellten neben dem Job als Lehrer auch jenem eines Helden nachgingen, war es kein Wunder, dass der Erste-Hilfe-Schrank ziemlich groß und gut befüllt war. Recovery Girl war stets darauf bedacht, dass es den Profihelden an nichts fehlte, damit sie sich selbst zusammenflicken konnten, so gut es eben ging. Ohne wirklich nachzusehen, welche Materialien er überhaupt benötigte, griff er nach ein paar Packungen, ehe er die Tür wieder zufallen ließ. Sein nächster Halt war die Küche, wo er sich ein paar Kühlpacks aus dem Tiefkühlfach angelte. Mit allem ausgerüstet, was seiner Meinung nach im Augenblick notwendig war, verkroch sich Shota in sein Zimmer.
Ein schmerzerfülltes Stöhnen entfuhr dem Dunkelhaarigen, als er sich auf seinem Bett niederließ und seine Beute neben sich fallen ließ. Erst jetzt wurde im bewusst, wie dämlich sein Abgang eigentlich ausgesehen haben musste. Natürlich war es ihm egal, was andere von ihm dachten, allerdings trug sein Verhalten nicht gerade dazu bei, die Neugierde seiner Schülerinnen zu besänftigen. Leise Seufzend fuhr er sich übers Gesicht. Er hoffte wirklich, dass der ganze Unfug morgen schon wieder Geschichte war. Bis dahin würde er diesen Raum einfach nicht mehr verlassen.
Langsam rutschte er nach hinten, und zog sein Bein auf die Matratze, damit er das Kopfkissen darunter stecken und es etwas höher lagern konnte. Vorsichtig platzierte er eines der Kühlpacks darauf, bevor er sich daran machte, sich seinen anderen Verletzungen zuzuwenden. Gegen die blauen Flecken und Prellungen, die er davon getragen hatte, konnte er nichts tun, doch die Schürfwunden und Schnitte, die ein Schurke mit Messermacke ihm zugefügt hatte, musste er unbedingt versorgen. Aus Erfahrung wusste er, dass solche Verbrecher manchmal nicht davor zurückschreckten, ihre Klingen mit Gift zu benetzen. Aber selbst wenn nicht, war die Infektionsgefahr einfach zu hoch.
Um einen besseren Überblick zu erlangen, wollte er sein T-Shirt ausziehen, was allerdings nicht gerade einfach war. Während er zuvor nur etwas müde im Unterricht gesessen hatte, spürte er nun mit voller Wucht die Strapazen der vergangenen Nacht, die ihn niederdrückten. Eigentlich war ihm mehr danach, sich einfach hinzulegen und zu schlafen. Doch da er gerade sein Oberteil halb über seinen Kopf gezogen hatte, wäre es etwas ungünstig nun so einzuschlafen. Wobei es ihn ja eigentlich gar nicht wirklich störte.
Als sich Shota jedoch schon fast dafür entschieden hatte, mit dem halben T-Shirt überm Kopf einfach einzuschlafen, weil er zu große Schmerzen hatte, es sich komplett auszuziehen und auch zu müde dazu war, zog sich der Stoff plötzlich von ganz alleine nach oben. Ein wenig verwundert darüber, hob Aizawa den Kopf, doch als eine Stimme erklang, schien er zu einer Eisstatue zu gefrieren. „Jetzt bist du frei, Buddy." Vor ihm stand Mic, breit grinsend, das dunkle T-Shirt in seinen Händen.
„Verpiss dich", waren die ersten Worte, die dem Dunkelhaarigen bei dem Anblick über die Lippen kamen, während er sich abwandte, um den anderen Mann nicht länger ansehen zu müssen.
Kopfschüttelnd legte Yamada das Kleidungsstück beiseite, ehe er sich einfach neben seinen Kumpel aufs Bett fallen ließ. Seine grünen Augen huschten an dem bunt verzierten Oberkörper des anderen auf und ab. „Wie ich sehe warst du gestern nicht arbeiten, sondern hast einfach nur als Leinwand für ein neues Kunstwerk hergehalten", scherzte der Blonde unbeeindruckt. Da er Shotas abweisende Worte gewohnt war, würde er sich nicht so einfach verscheuchen lassen. Dabei war er erst hierhergekommen, um mit dem Undergroundhero zu sprechen, nachdem die Schülerinnen der A-Klasse ganz deutlich gemacht hatten, dass sie ihn sonst vermöbeln würden, wenn er nicht das Gespräch mit ihrem Klassenlehrer suchen würde.
Genervt stöhnend, verdrehte Shtoa die Augen. „Klopf deine dämlichen Sprüche woanders!" Solche dämlichen Scherze waren im Augenblick schließlich das Letzte, was der Dunkelhaarige brauchte. Ruhe, das wollte und brauchte er.
Doch der Voicehero dachte gar nicht daran, dem zweiten Versuch einer Abweisung Gehör zu schenken. Stattdessen schnappte er sich das Wunddesinfektionsmittel und einen Tupfer. „Es war gestern very uncool, dass du abgerauscht bist. Eri wollte sich danach nicht davon überzeugen lassen, dass du nicht sauer auf sie bist", erzählte Hizashi von dem gestrigen Abend, während er vorsichtig einen Schnitt an Shotas Arm desinfizierte.
Als Aizawa leicht zusammenzuckte, hielt Yamada kurz inne. Der Blonde wusste, dass der Undergroundhero eigentlich gewohnt an das Brennen des Mittels war, da er es oft genug benutzte, um seine Wunden zu reinigen. Doch es war nicht das Desinfektionsmittel schuld daran, dass Shota zusammenzuckte. „Ach, aber es war vollkommen in Ordnung dämlich zu lachen?", murrte der Dunkelhaarige vor sich hin. Wenn er sein Bein zuvor nicht zu sehr beansprucht hätte, würde er nun aufspringen und erneut flüchten. Nun blieb ihm jedoch nichts anderes über, als seinem Ärger von gestern Luft zu machen. „Und dämliche Witze zu reißen?" Wenn jemand Eris Gefühle verletzt hatte, dann ja wohl Yamada. Schließlich war er so amüsiert darüber gewesen, dass er fast an seinem eigenen Lachen erstickt wäre.
„Ach komm schon!", versuchte Hizashi sich zu verteidigen, „als ob du den Gedanken nicht ebenso bescheuert finden würdest!" Glucksend wandte er sich dem nächsten Schnitt zu. Als Shota jedoch nichts auf seine Worte erwiderte, sondern nur den Kopf leicht sinken ließ, sah der Blonde auf. „Oder nicht?" Sofort kam ihm wieder in den Sinn, was die Jugendlichen zuvor von sich gegeben hatten. Vielleicht lag Eri doch nicht so falsch. Aber das war doch unmöglich!
Erneut lag ein leicht rosafarbener Ton auf seinen Wangen. Es war Aizawa unangenehm darüber zu sprechen, oder überhaupt nur weiter darüber nachzudenken. Doch es war wohl unvermeidbar. Die Katze war aus dem Sack und ein Geheimnis, das er Jahrzehnte lang bewahrt hatte, schien nun aufgedeckt worden zu sein. Amüsant, dass es gerade ein kleines Mädchen geschafft hatte, hinter diese Fassade zu blicken und ihn bloß zu stellen. Währenddessen war Hizashi noch immer so blind und riss lieber dumme Scherze, anstatt kurz nachzudenken und zu begreifen. „Es ist witzig, dass man stets mir andichtet, der Gefühlskalte zu sein und kein Herz zu haben", gab er leise von sich, seinen Blick starr auf den Boden gerichtet, „dabei bist du derjenige, der sich hinter einem falschen Lachen und seiner Fassade versteckt, darauf bedacht, keine Gefühle zu zeigen, die echt sind. In Wirklichkeit bist du der Eisprinz, der niemals weint, oder richtige Emotionen zeigen kann." Schon damals, als ihr bester Freund getötet worden war, hatte Hizashi lieber einen dummen Scherz von sich gegeben, als zu trauern. Selbst vor wenigen Wochen, als sie im Tartarus waren und die Wahrheit über Kurogiri herausgefunden hatten, waren Yamadas einzige Reaktionen Wut und dumme Scherze gewesen. Sonst nichts.
„Das einzige, das albern oder bescheuert an der Sache ist, dass ein kleines Mädchen, das eingesperrt war und so viele Dinge erst lernen muss, sofort etwas begriffen hast, was du noch immer nicht verstehst", murmelte der Dunkelhaarige in seinen 3-Tage-Bart hinein, „aber es zeigt mir, dass ich damals die richtige Entscheidungen getroffen habe." Gleich, nachdem Shota bemerkt hatte, dass er mit seiner Trauer um Oboro alleine war, weil Hizashi einfach nur gleichgültig gewirkt hatte, war ihm eines sofort bewusst gewesen: Die beiden hatten keine Zukunft. Der Dunkelhaarige könnte niemals mit jemanden zusammen sein, der ihn und seine Gefühle nicht verstand. Wenn Yamada nicht einmal trauerte, nachdem sie ihren Freund verloren hatten, dann wollte Aizawa so gut es ging Abstand zu dem Blonden halten, was er auch getan hatte.
Vollkommen perplex starrten die grünen Augen den Undergroundhero an. „Shota?" Leise kam der Name über Hizashis Lippen. Er begriff nicht ganz, was das Ganze nun zu bedeuten hatte. Woher kam diese plötzliche Abweisung und was meinte er damit die richtige Entscheidung getroffen zu haben?
Der Angesprochene schüttelte jedoch nur den Kopf. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass ihm etwas schwer auf den Brustkorb drückte. Es war ihm unangenehm, überhaupt diese Dinge ausgesprochen zu haben. Es dauerte einen Moment, bis er seine Stimme wieder gefunden hat. „Verschwinde", fuhr er Yamada an, „ich will das du mein Zimmer verlässt! Sofort!"
Da der angeschlagene Ton doch anders klang als sonst, wenn er ihn aus seinem Zimmer werfen oder verscheuchen wollte, erhob Hizashi sich schweigend und ging auf die Tür zu, vor der er kurz innehielt. Nur zu gerne hätte er sich umgewandt, um richtige Antworten zu erhalten, doch er ahnte, dass er sich im Augenblick auf dünnem Eis bewegte. Dabei gab es so viele Fragen, die ihm auf der Zunge brannten, doch Shota war im Moment nicht in der Lage sie zu beantworten.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, ließ sich Shota auf sein Bett fallen. „Fuck", grummelte er vor sich hin, ehe er nach einem Kissen griff, um es sich ins Gesicht zu drücken. Wäre er doch nur still geblieben. Sonst fiel es ihm doch auch nie schwer, einfach die Klappe zu halten! Schließlich hatte er in den letzten Jahren gelernt, seine Gefühle zu verbergen und hatte bis gestern auch gar nicht mehr darüber nachgedacht, dass er als Teenager in einen seiner besten Freunde verliebt gewesen war. Natürlich fühlte er sich nun nicht wieder wie ein verliebter Teenager, allerdings konnte er nicht leugnen, dass auch er die Dinge erkannte, die Eri angesprochen hatte. Immerhin schien er sich sehr offensichtlich zu verhalten, wenn dem Mädchen dieser Verdacht so einfach in den Sinn gekommen war. Vielleicht sollte Shota doch seinen Lehrerjob an den Nagel hängen.
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