Radikale Ehrlichkeit
Momentan frage ich euch auf Instagram immer, worüber ich als nächstes schreiben soll, und die Mehrheit hat für die "radikale Ehrlichkeit" gestimmt. Vielleicht können sich ein paar von euch schon darunter etwas vorstellen, und auch wenn nicht, kann ich mit Sicherheit sagen, dass ihr es auf irgendeine Art und Weise bereits erlebt habt.
Die radikale Ehrlichkeit ist eine psychologische Kommunikationsstrategie/-theorie des amerikanischen Psychotherapeuten Brad Blanton, die besagt, dass man mithilfe direkter und extremer Ehrlichkeit Konflikte lösen und bewältigen kann - und das soll ein Ultimatum darstellen, was bedeutet, dass dies die einzig plausible Möglichkeit ist, Konflikte zu lösen.
Da ich Germanistik studiere, setze ich mich auch mit Kommunikation und Texten etc. auseinander. Für diejenigen, die noch nicht damit in Berührung gekommen sind, will ich einen kurzen Exkurs geben:
Es gibt verschiedene Kommunikationsmodelle (Bühlers Organon-Modell, Vier-Ohren/Seiten-Modell von Thun usw.). In den meisten gibt es immer eine ähnliche Darstellung von Sender, Empfänger und Gegenstände/Sachverhalte, die alle miteinander verbunden sind. Um es kurz am Organon-Modell zu erklären:
Der Sender, also derjenige, der spricht, drückt etwas mithilfe eines Zeichens (Mimik, Gestik, Sprache) aus. Der Empfänger erhält über das Zeichen einen Appell. Der Sachverhalt bzw. der Gegenstand ist in diesem Fall der inhaltliche Aspekt, welcher mithilfe des Zeichens dargestellt wird. Das stellt den Grundsatz der Kommunikation dar.
Wenn wir es kurz auf das Vier-Ohren-Modell von Thun beziehen, gibt es vier verschiedene Ebenen, auf denen ein Sachverhalt verstanden werden kann - auf der Appellebene, auf der Beziehungsebene, auf der Sachebene und der Selbstkundgabe. Appell bedeutet, dass der Empfänger eine Aufforderung versteht. Die Beziehungsebene wandelt die Information auf den Grundlagen der bestehenden Beziehung zwischen Sender und Empfänger um, dh. dass dabei Tonfall, Haltung, Mimik und Gestik und Arten der Formulierung beachtet werden. Die Sachebene geht nach den Kriterien der Relevanz, Qualität (wahr/falsch) und Annehmbarkeit (ergänzungsfähig oder ausreichend). Die Selbstkundgabe befasst sich mit der Ich-Seite des Senders, dh. dass der Empfänger für sich seine wichtigen Daten herausnimmt.
Nur kurz etwas dazu.
Wer sich schon einmal tiefer mit Psychologie und Kommunikation befasst hat, weiß, dass z.B. in Streitgesprächen Du-Botschaften fehl am Platz sind. Es hängt natürlich immer von der Formulierung ab, jedoch ist es ein Unterschied, wenn man sagt "Du musst immer nur über dich reden!", als wenn man sagt "Ich fühle mich etwas ausgeschlossen, weil ich das Gefühl habe, dass ich [mit dir] nicht über meine Probleme reden kann". Auch eine abgemilderte Du-Botschaft kann schon anders klingen: "Ich habe das Gefühl, dass ich nicht wirklich über meine Probleme reden kann, weil wir sehr oft über dich reden." Da wird auch "Du" verwendet, nur in einem anderen Darstellung.
Allerdings können manche Ich-Sätze auch sehr schnell nach hinten losgehen, wie wenn jemand sagt: "Es geht hier um mich!" oder "Ich habe hier die Probleme, nicht du!" usw.
In der Kommunikation ist vor allem der Ton und die Formulierung wichtig, weswegen ich an dieser Stelle nur noch einmal sehr ans Herz legen kann, keine Konflikte über Social Media oder Whatsapp usw. auszutragen! Wenn, dann macht Audios oder ruft denjenigen an, aber es kommt nur noch zu größeren Problemen, da man die Stimme nicht hört und beim Schreiben schnell die Fassung verliert, weil man in diesem Moment den anderen nicht sieht. Viele verstecken sich und zeigen nicht ihre wahren Emotionen.
Die radikale Ehrlichkeit befasst sich allerdings genau mit der Ich-Ebene, die ich zwei Absätze zuvor aufgeführt habe - es geht darum, dass man dem anderen direkt ins Gesicht sagt, was man empfindet und was einen stört, ohne darauf zu achten, wie man sich ausdrückt und wie man sich dem anderen gegenüber öffnet. In diesem Sinne werden auch Du-Ausdrücke benutzt, die oft wie Vorwürfe klingen.
Anhand eines Beispiels sieht es dann folgendermaßen aus:
"Du redest nur über dich! Den ganzen Tag geht es nur um dich! Dich interessiert überhaupt nicht, wie es mir geht! Du willst dich immer in den Mittelpunkt drängen und immer die Wichtigste im Raum sein."
Die Ich-Ebene würde folgendermaßen aussehen:
"Es geht hier um mich! Und ich rede auch nur über mich und achte nicht auf dich, weil meine Bedürfnisse jetzt wichtiger sind als deine!"
Beide Beispiele sind sehr emotional geladen und nehmen überhaupt keine Rücksicht auf den Empfänger. Aber - Achtung, Sarkasmus - das ist ja völlig in Ordnung, weil die radikale Ehrlichkeit Konflikte löst und nicht zu weiteren führt, und wenn der andere sich dann nicht mehr bei mir meldet, ist er auch kein richtiger Freund.
Ihr merkt schon, ich bin bei diesem Thema sehr ungehalten, was größtenteils daran liegt, dass ich vor einigen Monaten mit jemandem eine stundenlange Diskussion darüber hatte und ich immer wieder versucht habe, zu erklären, dass diese Methode keine Probleme behebt und auch einfach nicht rechtens sein kann. Entschuldigt den folgenden Ausdruck, aber wer sich wie ein "Arschloch" benimmt, kann im Nachhinein nicht erwarten, mit offenen Armen empfangen zu werden. Natürlich passiert es jedem Mal, dass er seine Fassung verliert oder dass er sich falsch oder sehr Ich-bezogen ausdrückt, aber das sollte nicht die Regel sein.
Ich halte von der Methode nicht sonderlich viel und sehe sie auch nicht als die Lösung der Probleme.
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Was haltet ihr davon? Findet ihr, dass diese Methode so funktioniert?
Wart ihr schon einmal (versehentlich oder beabsichtigt) radikal ehrlich? Wenn ja, was ist dann passiert?
Habt ihr euch schon einmal tiefergehend mit Kommunikation beschäftigt?
Fandet ihr den Beitrag interessiert, auch wenn ich das Thema in der Theorie nicht unterstütze?
Schreibt eure Meinung in die Kommentare! Mich würde sehr interessieren, was ihr davon haltet!
Liebe Grüße,
Julia
Stand: 12. Februar 2020
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