9 | Ins Maul des Wolfs
WAS DIE SCHATTEN VERSCHLINGEN
IX. Ins Maul des Wolfes
Die fünfte Nacht
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SILVAN KNIETE VOR DEM ALTAR.
Tief vor der Lichtmutter verneigt und Gebete mit einer zu sanften Stimme für seine hündischen Zähne flüsternd erschien er plötzlich unschuldig. Ein ergebenes Kind vor der mächtigen Göttin, das um ihren Segen bat.
Nur das vor ihm liegende Schwert, das diesen empfangen sollte, erinnerte, dass er kein um sein Leben flehender Jüngling war, sondern ein Krieger, der darum bat, dass seine Waffe mehr Blut kostete als er verlieren würde. Ein altes Ritual, um sich auf die Jagd vorzubereiten.
Folge ihm, hatte Anyans Stimme in ihrem Kopf geflüstert, als Prinz Silvan den Speisesaal für diese Zeremonie verlassen hatte, und ohne lange zu überlegen, hatte Saskia dem Folge geleistet. Doch jetzt, am Eingang der Kapelle, wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte.
Hinter dem Altar beäugte eine fast durchsichtige kleine Kreatur sie und den Prinzen misstrauisch, die Iriden müde glühend, als wäre sie aus einem jahrhundertelangen Schlummer erwacht. Gospodarček ...
Bis zu diesem Tag war es Saskia nie in den Sinn gekommen, dass der Konvent einen haben könnte. Dass er in der Tat nicht nur aus leblosem Stein und kaltem Feuer bestehen musste, sondern ein wahres Zuhause sein konnte. Beim Anblick des lebendigen Hausgeistes füllte sich ihre Brust mit zündender Freude. Auch wenn diese die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte, nur für einen Moment unterdrücken konnte.
Nicht alle Wesen waren wohlwollend und dieser Beschützer des Hauses war seit Jahrzehnten nicht mehr mit Gaben gefüttert worden, so dass Saskia befürchtete, er würde nicht stark genug sein, um die bösen Geister fernzuhalten.
Sie wollte nicht wissen, was sonst noch in das Kloster eingedrungen war.
„Habt Ihr Euch jemals gefragt, was sie sieht?" Silvan beschloss letztendlich, das Schweigen zu brechen. „Wenn sie auf uns herabschaut und uns aus ihren steinernen Augen anschaut ... was sieht sie dann? Einen Anhänger, der würdig ist, ihr Werk zu verrichten?"
Aber ist es ihr Werk?
Für einen Moment hätte sie schwören können, Besorgnis in seinen Worten zu spüren – eine ehrliche Trauer über die Dinge, die geschahen und vor denen er geschworen hatte, Schwarzhain zu schützen –, aber er schien es sich im nächsten Moment besser zu überlegen, als diese Gedanken mit ihr zu teilen.
„Was willst du, desetnica?"
Das Kerzenlicht verfing sich in seinem rabenschwarzen Haar und verlieh ihm einen rötlichen Schimmer, als er den Kopf hob. Um ihn herum zitterten die Schatten.
Das Wort traf Saskia wie ein Schlag, aber sie fuhr trotzdem fort.
„Ihr wisst es also?"
„Mutter Gesa hat mir gesagt, dass du verflucht bist, ja. Ich hätte es wissen müssen, als ich dich mit Schwester Katinka gesehen habe. Die kleine Hexe des Klosters hat eine passende Freundin gefunden."
Saskia biss bei diesem furchtbaren Wort die Zähne zusammen. Hexe. Der Fürst schämte sich nicht einmal, eine ihrer eigenen Töchter in Perchtas Gegenwart damit zu verdammen, denn seine Augen lagen noch immer unbeeindruckt auf dem Bildnis. Währenddessen wanderten Saskias Blicke zu der blutbespritzten Klinge. Silvans Blut, das der Göttin geopfert wurde.
„Ich bin immer noch eine Tochter Perchtas. Und eine knežna."
„Was führt dich hierher? Ich nehme an, es ist nicht Andacht", sagte Silvan, drehte sich endlich um und sah sie an. Allerdings auf eine Art und Weise, dass es ihr lieber gewesen wäre, er hätte es nicht getan.
„Nicht jetzt. Ich bin hier, um mit Euch zu reden." Wenn du mich nicht dazu bringst, dich vorher umzubringen.
In Versuchung?, die lachende Stimme des Dämons hallte in ihrem Kopf wider, eine einschüchternde Erinnerung daran, wie nah Anyan ihr seit ihrem Pakt war.
Es nachdrücklich ignorierend, fügte sie hinzu: „Weil ich Euch eine Entschuldigung schulde, Herr."
„Dann fang damit an, dich dafür zu entschuldigen, dass du etwas so Heiliges wie ein Gebet unterbrochen hast."
Saskia senkte ihren Blick mit einem Ausdruck falscher Ehrfurcht. „Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht stören. Aber ich hatte keine Gelegenheit, Euch zu sprech–"
„Also, sprich. Entschuldige dich", forderte er ungeduldig.
Bitte Perchta, hilf mir. Die Priesterin zwang sich, daran zu denken, für wen sie das tat und wie viel sie zu verlieren hatte, wenn sie versagte. Was war schon ein bisschen gute Miene zu bösem Spiel machen im Angesicht des Todes? Katinkas Tod.
„Mein Verhalten auf dem Marktplatz war ungehörig. Ich wollte Euch nicht beleidigen, aber wie Ihr sicher wisst, war ich verlobt und wusste nicht, wie–"
Durch ihre Wimpern hindurch konnte sie sehen, wie sich Silvans Brauen hoben. „Verlobt?"
„Mit Fürst Rogdai."
„Ah, man hat mir gesagt, er käme wegen seiner Braut. Sie haben nicht erwähnt, dass du das bist."
„Verzeiht mir, Herr."
Saskia hoffte, dass er jetzt in ihr sehen konnte, was ihn an diesem Wintermorgen zu ihr hinzog, auch wenn es sie anwiderte. Schönheit mochte eine Zielscheibe sein. Aber vielleicht konnte sie auch eine Waffe werden.
Wenn diese nicht schon durch die kalten Mauern des Klosters, die schlaflose Nacht, die ihr ins Gesicht geschrieben stand wie eine von Katinkas Legenden – eine Leidensgeschichte –, und den Kummer, der sie bei lebendigem Leibe auffraß, ihre Schneide verloren hatte.
„Ist das alles?" Der kleine Funke des Interesses, der sich in seine Stimme geschlichen hatte, erlosch und hinterließ nichts als frostige Gereiztheit.
Saskia biss sich auf die Zunge, Wut und Panik kochten in ihrem Bauch hoch, als sie spürte, wie ihr die einzige Chance, Katinka zu retten, durch die Finger glitt. Dieser Mann war so ekelhaft kalt, dass sie niemals etwas in ihm würde berühren können.
In seiner Brust gab es kein Herz, das sie erweichen konnte. An seiner Stelle wohnten nur Stolz und Gier.
Dann füttere sie, bis er erstickt, flüsterte der Dämon.
Saskia sank auf die Knie, wie in einem verzweifelten Gebet. „Bitte, erlaubt mir, mit Euch zu gehen, Herr!"
Überrascht sprang Silvan auf die Beine. „Was?"
„Lasst mich mit Euch in die Wälder gehen. Ich möchte mit mehr als nur Opfer und Gebeten helfen. Es ist wertvoll, zu sehen, was andere nicht sehen können. Nennt mich verflucht, aber ich möchte es als Gabe nutzen, um der Lichtmutter zu dienen", sie holte zittrig Luft, „Um ... um Euch zu dienen."
„Du bist wahnsinnig!"
Die Schatten dehnten sich aus wie eine riesige, erwachte Kreatur, hungrig und bereit, das Licht der Kapelle ganz zu verschlingen.
Vom sauberen Schnitt an seiner Handfläche Blut auf dem weißen Stoff verteilend, griff Silvans Hand nach ihrem Habit, als wolle er sie zwingen, sich wieder zu erheben und diese Narrheit zu beenden. Aber sie verweilte einfach dort, eine heuchlerische Drohung.
Saskia blickte zu ihm auf und zwang Tränen in ihre Augen. Angesichts der Demütigung und der Angst, die in ihren Adern brannten, fiel es ihr nicht schwer. Sich vor Fürst von Winterthal so zu erniedrigen, schmerzte beinahe körperlich.
Nachdem er sich als der treueste Diener der Götter erwiesen hatte, sehnte sich Silvan bereits danach, ihre süße Göttlichkeit zu kosten. Überschüttet von der Verehrung des Volkes, wollte der Fürst in seine eigene selbstgerechte Heiligkeit eintauchen. Und wer wäre besser geeignet, ihn zu verehren, als eine schöne heilige Jungfrau?
Also gab Saskia ihm eine.
„Nein! Die Vorstellung noch jemanden, der mir lieb ist, an die Dunkelheit zu verlieren, während ich nichts tun kann, macht mich wahnsinnig. Es ist unerträglich."
Silvans Wut schien erneut von Verwunderung geschluckt zu werden.
„Ich wollte, dass du mich mitnimmst, seit wir uns kennengelernt haben", flossen die honigsüßen, leeren Lügen aus ihrem doppelzüngigen Mund. Hoffentlich würde Silvan ihr Gift zu spät erkennen. „Bitte, bitte, lass mich dir helfen."
„Du bist besser fürs Kloster geeignet", spottete er, eine dürftige Ausrede der Ablehnung, denn seine Augen verrieten bereits, dass er schwankte. „Es lehrt selbst wilden Geschöpfen wie dich Demut."
Wenn du ein Raubtier töten willst, darfst du nicht hilflose Beute bleiben.
Wie eine scharfkantige Klaue schlossen sich Saskias Finger um die seinen, die sich noch immer in ihrem Kleid vergraben hatten. Wo sich jetzt der geheiligte Stoff befand, war gestern noch Katinkas Haar gewesen. Es war die heiße Haut einer Bestie, die sie berührte.
„Aber was nützt eine zahme Kreatur einem Fürsten der Wölfe?"
Seine Augen verdunkelten sich wie die Schatten, die sein Gesicht streichelten und Silvan stockte der Atem. Das flackernde Feuerlicht und die Dunkelheit malten ein Kaleidoskop aus Zorn, Aufregung, Abscheu und Begierde in sein scharf geschnittenes Gesicht. Schließlich wurde auch dieser heilige Wolfsfürst von der Dunkelheit angezogen.
„Was für ein Fluch ...", raunte der Fürst.
Mit einer brutalen Zärtlichkeit löste Silvan ihre Finger von den seinen. Kälte füllte in einem Augenblick schmerzhaft die Lücke zwischen ihnen.
Es wäre eine Erleichterung gewesen, hätte sie nicht die Niederlage verheißen. Saskia spürte, wie ihre Lippen zitterten und die Scham an ihren Eingeweiden zerrte.
Doch der Fürst tat dies nur, um ihre Hand mit seiner zu ergreifen und sie sanft zu seinem Mund zu ziehen.
In seiner Stimme lagen Angriff und Ergebung zugleich: „Du bist das Messer an meiner Kehle."
„Du bist der Dolch in meinem Herzen", flüsterte Saskia.
Silvan von Winterthal hatte sich so sehr danach gesehnt, das Licht zu erblicken, dass er für den Schatten, der es umgab, blind geworden war. Der große Wolfsfürst konnte nicht einmal sehen, dass er seiner gejagten Beute zum Opfer fiel.
Und während er seine brennenden Lippen auf ihre eisige Haut presste, versenkten die Schatten ihre Zähne in ihn. Saskia konnte spüren, wie sich das frische Gift, mit dem Silvan sie jedes Mal beträufelt hatte, wenn er sie und Katinka verfluchte, in sie brannte.
Aber für ein Rehkitz würde sie in den Rachen des Wolfes kriechen, tiefer und tiefer, bis sie sein fauliges Herz erreichte – und dann würde sie es herausreißen.
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Auf ihrem weißen Kleid war der Blutfleck ein Abzeichen der Schande.
„Wo bist du gewesen?", zischte Gesa, als Saskia auf ihren Stuhl zurückfiel. „Hast du nach all dem nicht ein Quäntchen Gehorsam gelernt? Wenn du das Gebet von Fürst Silvan gestört hast–"
„Das hat sie nicht, Mutter", antwortete Silvan, bevor sie es tun konnte. „Aber ich bitte Euch, mir zu erlauben, sie mitzunehmen."
Der ganze Saal wurde so still wie der Wald im tiefsten Winter. Nur Anyan nippte, scheinbar zum ersten Mal, an seinem Wein.
Die Hohepriesterin schaute ihn mit unverhohlener Verwirrung an. „Auf Eure Jagd? Aber sie ist eine Priesterin. Sie ist ..."
Verflucht. Das Wort hing mit mehr Gewicht in der Luft als es das geäußert getan hätte. So hallte es in den Köpfen und Herzen aller nach. Zu dunkel, um laut ausgesprochen zu werden.
„Eine ehrenhafte Tochter Perchtas", beendete Fürst Silvan Gesas Satz. „Und meine auserwählte Braut."
Einstimmig hielt der ganze Raum den Atem an und Mutter Gesa wurde noch blasser als Anyans schneeweißes Haar. Die Einzige, die es mit ihr aufnehmen konnte, war Franka – in ihren Augen schimmerten auch Tränen.
Saskia wusste, dass sie immer gehofft hatte, von diesem Ort zu fliehen und irgendwo ein Leben als Prinzessin zu führen. Verzeih mir, Schwester. Vielleicht wirst du eines Tages froh sein, dass ich dich davor bewahrt habe, mit einer Bestie als Ehemann zu enden.
Immerhin würde ihre Verlobung ein schnelles Ende finden, wie sie hoffte.
„Braut?", stotterte Mutter Gesa und als sie merkte, dass sie ihn tatsächlich richtig verstanden hatte, erhob sie sich von ihrem Platz und eilte an die Seite des Prinzen.
„Silvan. Seid Ihr Euch bewusst, was Ihr da tut?", flüsterte sie.
In ihrer Stimme schwang Protest mit – ein weicherer, sanfterer Ton als der scharfkantige, der an ihre Töchter gerichtet war, obwohl Gesa genau wusste, dass dies keine Bitte war. Trotz all ihrer Autorität war sie kaum in der Lage, den Orden in Frage zu stellen, wenn die Raunächte ins Tal krochen und unmittelbar Gefahr drohte.
„Dies ist keine Entscheidung, die man überstürzt treffen sollte ..."
Ihre Finger, die sich in Winterthals Arme gruben, ähnelten nur vage denen, die Saskia so gut als strenge Vollstrecker der Gewalt kannte. Ihre Abdrücke und jede Linie von Gesas Händen hatten sich in ihre Wangen eingebrannt.
Doch jetzt lag nichts von der sakralen Kraft in ihrem Griff, keine mütterliche Stärke, sondern pure Verzweiflung. Dürr und mit Knöcheln, die sich kreideweiß von Silvans schwarzer Kleidung abhoben, sahen aus wie brüchige Fichtenzweige. Die Hand einer Mutter, die begriffen hat, dass sie – wie sehr sie drängen und ziehen mochte – keine Macht mehr über ein verlorenes Kind hat.
„Ich habe mich entschieden, Mutter."
„Aber, Herr, sie ..."
Silvan winkte ab, die Mundwinkel nach unten gezogen, als strapazierten die Fragen bereits seine Nerven und wolle signalisieren, dass er diesen Unsinn nicht mehr hören wollte.
„Sie ist eine knežna aus einer angesehenen Familie. Was könnte da besser passen? Oder gibt es irgendeinen Grund, warum du denkst, dass eine deiner eigenen Töchter, der du erlaubst, den Schleier zu tragen und der Lichtmutter zu dienen, nicht als Ehefrau geeignet wäre?", fragte Silvan mit einer Stimme, so tief und heiser, dass sie keinen Hehl aus der Falle machte, die er ihr stellte.
Zum ersten Mal sah Saskia, wie Gesa ihre Contenance verlor, als sie sie entsetzt ansah, bevor ihr Blick schnell zu Silvan zurückflog. Was hast du getan, Tochter?
Saskia hatte keine Antwort für sie, sie starrte sie ruhig, fast unbarmherzig an. Aber sie empfand keine Freude, ihre grimmige Mutter einmal sprachlos zu sehen, nur nagende Scham. Sie hatte sich der Waffen des Fürsten Silvan bedient und ihre Hände mit deren Abscheulichkeit beschmutzt.
„Nein", flüsterte Gesa schließlich. „Möge die Lichtmutter eure Verbindung segnen."
Bei diesen Worten ballte Franka ihre Fäuste. Später hörte Saskia, wie sie Philomena zuflüsterte: „Du weißt, dass es stimmt, Mena. Du weißt es. Das ist Wahnsinn. Fromme Schwestern sollten nicht als Verräterinnen enden und die Verfluchte, die nichts als Abneigung gegen diesen Ort hegt, sollte nicht als ehrbare Tochter. Nicht an der Seite des Fürsten als Helferin und Ehefrau."
„Franka, Saskia ist nicht–", stotterte Philomena.
„Sie ist nicht eine von uns. Das weiß jeder. Sogar Gesa und ich wette, der Fürst weiß es auch."
In diesem Moment war Philomena die Einzige, die Saskia einen Blick zuwarf, der weder ungläubig noch abweisend war, während sie sprach. „Möge die Lichtmutter euch beide segnen und euren Weg erhellen."
„Es gibt keine stärkeren Bande als die, die in den Raunächten geknüpft wurden", meinte Anyan mit echter Zufriedenheit in der Stimme. Saskia wusste nicht, von wem er wirklich sprach.
Silvan hob seinen Kelch zu einem Toast, während er mit einem selbstgefälligen Lächeln seine Hand um Saskias Finger legte, wie Ketten um eine schöne Trophäe, die er gewonnen hatte. Sie hasste jede Sekunde davon, aber es war ein kleiner Preis, den sie zahlen musste.
Der süße Wein schmeckte nach Rache.
❅ ❅ ❅
„Da bist du ja, Bruder Vitus", fragte Silvan von Winterthal, dicht gefolgt von Bruder Radovan draußen bei den Zinnen. Sie hatten die Verlobung des Prinzen ausgiebig gefeiert, was er an der Trägheit in ihren Stimmen und den vom Wein geweiteten Pupillen erkennen konnte. Jetzt tranken die Männer die frische, kalte Luft fast ebenso eifrig.
„Und doch genießt du diesen Tag nicht", fügte er hinzu.
Es stimmte, das tat er nicht: Abgesehen von den älteren Priesterinnen, die Gefallen an ihm gefunden zu haben schienen, wurde er von den meisten mit Ignoranz behandelt. Vielleicht lag es an seinem immer noch sehr jungenhaften Gesicht, das nicht zu dem Krieger passte, den er dazustellen versuchte, oder an seiner tatsächlichen Jugend oder an der einfachen Tatsache, dass er sich noch kein Ansehen im Orden der Wölfe erworben hatte.
Doch das war es nicht, was Vitus verdrießlich werden ließ.
„Irgendetwas ist heute nicht in Ordnung. Ich kann es spüren", verkündete er. Der kränklich blasse Mond hing wie von einem purpurnen Schleier umzogen über dem Kloster: Die blutige Sense des Todes, bereit, eine weitere Kehle zu durschneiden. Vitus konnte die kühle Klinge fast auf seiner Haut spüren.
Doch statt der Besorgnis der anderen erntete er nur Gelächter.
„Morgen beginnt deine erste Jagd. Du bist nervös, das ist alles", erklärte Silvan. „Das waren wir alle."
Sogar er selbst erinnerte sich daran, wie seine Hände zitterten, als er zum ersten Mal den Bestien der Zwölf Nächte gegenüberstand, und obwohl sie jetzt ruhig waren, war das nagende Unbehagen, das sich unter der Oberfläche verbarg, seither geblieben.
„Das Einzige, das nicht stimmt, ist, dass du hier alleine schmollst, anstatt dir die Zeit mit uns oder dieser süßen Priesterin zu vertreiben. Wie hieß sie noch?" Ein verschmitztes Lächeln erschien auf Radovans Gesicht.
Philomena, dachte Vitus. Sie schien ein nettes Mädchen zu sein. Aber selbst, wenn er etwas bieten könnte, das ihr Interesse geweckt hätte, wäre es hoffnungslos gewesen. Das Kloster war ihr Zuhause, das sie nicht zu verlassen gedachte.
So verwelkten all seine kindischen Hoffnungen so schnell wie das Blatt des Weihnachtssterns in seiner Tasche, das sich von Menas Kranz gelöst hatte.
„Komm schon, Bruder, mach etwas aus der Nacht. Könnte ja schließlich deine letzte sein."
Radovan brach erneut in Gelächter aus, als hätte er einen tiefsinnigen Witz erzählt, während seine Worte den Griff der Angst um Vitus' Brust fester werden ließen.
„Nein, danke. Ich komme später zu euch ..."
Irgendetwas stimmt nicht und ich werde es beweisen. Vielleicht würden sie ihn dann endlich ernst nehmen.
Nachdem die anderen sich nach der Wärme des Feuers und der fröhlichen Gesellschaft sehnend wieder hineingegangen waren, streifte Vitus durch die Gegend, eine Hand immer auf seinem Schwert ruhend, die andere bereit, das Gewehr zu ergreifen und damit gegen die Kreaturen zu kämpfen, die in der Dunkelheit lauerten.
Obwohl er glaubte zu spüren, dass sie ihn aus den Schatten heraus beobachteten, ihn sogar auslachten, sah er nichts.
Vielleicht bin ich wirklich ein paranoides Nervenbündel, dachte er, seufzte leise und ließ die Hände sinken, als er schließlich vor dem Kloster ankam.
Vor der Tür war nichts als eine weiße Stute und ein paar Hunde, die ruhig warteten. Irgendwie wirkte es unnatürlich, dass sie dort stand, nicht einmal angebunden und umgeben von ebenso stillen schwarzen Wächtern. Als gäbe es für diese Tiere keine andere Möglichkeit, als in der Zeit stehen zu bleiben, bis ihr Herr zurückkam.
Fürst Anyans Pferd?
Vitus näherte sich ihm vorsichtig, gefangen von seiner blassen Schönheit und angezogen von ihm wie eine Motte von der Flamme. Noch nie hatte er etwas so Wunderschönes gesehen. In der dunklen Nacht wirkte die Stute fast so, als wäre sie aus Mondlicht selbst entstanden.
Doch in dem Moment, in dem Vitus nahe genug war und das eigentliche Licht – das der Kerzen, die den Konvent umgaben – auf den Kopf des Tieres traf, brannte es durch ihn hindurch und hinterließ nichts als Knochen: einen Pferdeschädel mit seltsam scharfen Zähnen und Augen, die so schwarz waren, als würde er in den tiefen Abgrund der Unterwelt blicken.
Die Stille wurde von seinem eigenen Blut erstickt, das in seinem Ohr sang, einem Herzschlag, der so schnell und hart in seiner Kehle hämmerte, dass er fürchtete, daran zu ersticken.
Heilige Mutter, was ist das?
Keuchend und mit dem Schwert, das ihm fast aus den nassen Händen glitt, stolperte Vitus zurück zur Tür. In die Sicherheit weiterer gesegneter Feuer und kreideweißen Runen.
Doch als er flehend zu ihnen hinaufblickte, war da nichts als helle Schlieren auf dem dunklen Holz und Stein. Die Erkenntnis traf ihn mit Entsetzen, doch der Schrei, den er ausstoßen wollte, blieb irgendwo in seiner engen Kehle stecken.
Dort erstarb er auch in dem Moment, als er die Reiter auftauchen sah: Ihre Pferde schienen Rauch und Feuer zu spucken, und er hätte schwören können, unter ihnen den toten Fürsten zu erkennen, den er selbst aufzubahren half.
Lauft, lauft, lauft!
Der junge Krieger stürzte sich auf die Tür, aber sein Stiefel rutschte ab und ließ ihn in den Schnee stürzen.
„Bitte, Lichtmutter ...", krächzte Vitus und hoffte, dass die Herrin über Licht und Dunkelheit, die die Pforten zwischen Leben und Tod bewachte, ihm erlauben würde, noch ein wenig länger in dieser Welt zu bleiben. Anstelle der heiligen Symbole, die er bei sich trug, umklammerte er das Blatt des Weihnachtssterns.
Über ihm glühte die Sense des Todes und der liebliche Zauber der Glocken erfüllte bereits die winterliche Nachtluft.
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