11 | Die in Asche tanzen

WAS DIE SCHATTEN VERSCHLINGEN
XI. Die in Asche tanzen

Sechste bis elfte Nacht

❅          ❅          ❅

DER JUNGE TAG BESCHENKTE SIE MIT BLENDENDEM SONNENLICHT UND EINEM FRISCHEN LEICHNAM.

Saskia begrüßte ihn in der Kapelle, nachdem sie die Runen wiederhergestellt hatte, noch bevor der Morgen die höchsten Gipfel des Horizonts berührt hatte. Mit jedem gezeichneten Symbol hörte sie, wie die Kreaturen der Dunkelheit zischten und langsam in die Welt da draußen zurückkrochen, bereuend, dass sie sich entschieden hatten, auf diesem gesegneten Boden ein Zuhause zu finden.

Heute war sie die erste, die sah, wie die Sonne die Glasmalerei erleuchtete. In dem rötlichen Licht wirkte Goldhorns weißes Fell blutig.

Silvan war der zweite.

„Betest du?", fragte er, irgendwie ruhiger, als hätte sich der Rausch der letzten Nacht an seiner eigenen Flamme ausgebrannt, abgekühlt durch die eisige Luft und eine neugeborene Sonne, die die Schatten wieder vertrieb.

Zum ersten Mal konnte Saskia den Mann nicht mehr recht in ihm sehen, der am Markt Jagd auf junge Priesterinnen machte und seine Hände wissentlich in Blut tränkte. Nicht den brutalen Mörder, der er war.

Saskia nickte. „Damit unsere Jagd erfolgreich und sicher wird."

„Wir werden alle Segen der Lichtmutter brauchen." Was auch immer der Fürst als Nächstes sagen wollte, es wurde von einem seiner Männer unterbrochen, der in die Augen von purem Schock erfüllt in die Kapelle stürmte. Genug, um selbst Silvans Verärgerung dahinschmelzen zu lassen.
„Was ist passiert?"

Ein enger Knoten bildete sich in Saskias Kehle. Was konnte Soldaten wie sie derart erschrecken?

„Es ist Vitus ...", antwortete der andere. „Er ..."

Silvan war der erste, der aus der Kapelle stürmte. Dabei vergaß er sogar, ein letztes Gebet an die Lichtmutter zu sprechen.

Vitus wurde im Tod eine Ruhe zuteil, die ihm im Sterben verwehrt geblieben war. In seinem ewigen Schlaf hatte der Winter ihm die letzte Ehre erwiesen und ihm ein Leichentuch aus weichem Schnee und einen Sonnenaufgang geschenkt, der die Eiskristalle auf seinen gefrorenen Wangen wie kleine Diamanten glitzern ließ.

Die Waffen, vollkommen sauber, lagen unberührt neben ihm. In seinen steifen Händen ruhte noch immer das karmesinrote Blatt.
Nicht einmal die Priesterinnen wagten es, ein Gebet zu sprechen, um nicht etwas zu stören, das selbst ihnen zu erhaben war. Stumme Tränen rollten über Philomenas Wangen.

Fürst Anyan hockte sich neben den toten Jungen und als seine Finger Vitus berührten, schien Zorn in Silvans Magen zu schwelen. Es fühlte sich an wie eine Gotteslästerung im Angesicht von etwas Heiligem.

„Dämonen", durchbrach der Jäger die Stille.
Ist das meine Schuld?

„Törichter armer Junge. Er muss sich zu weit außerhalb des Kreises verirrt haben", hauchte Radovan und schluckte schwer, um die Tränen in seinen Augen zurückzudrängen, die vielleicht nicht zu einem Soldaten, aber zu einem trauernden Bruder passten.

Silvan von Winterthal blieb stumm.
Er glaubt es nicht.

„Wenn ich diese Kreatur finde ..." Das Schwert eines der Männer durchbohrte den Schnee in wilder Erwartung.
„Spart euch euren Zorn für die kommenden Nächte auf. Die Jagdsaison hat begonnen", stellte Silvan kalt fest und Saskia fragte sich einmal mehr, wer der wirklich Herzlose unter ihnen war.

Bevor er jedoch zu den Lebenden im Kloster zurückkehrte und die Toten den Toten überließ, beugte er sein Knie vor Vitus' Leichnam und legte seine Fingerspitzen sanft an seine Stirn in einer Geste der unverfälschten und offenen Zärtlichkeit.
„Möge die Lichtmutter deinen letzten Weg erhellen, Bruder."

„Und dich sicher in die Unterwelt führen", fügte Saskia leise hinzu. Möge sie gütiger zu ihm sein als diese.

Silvan drehte sich um, seine tiefblauen Augen durchbohrten sie mit herzzerreißendem Schmerz, der in der nächsten Sekunde der üblichen Härte wich. Als er an ihr vorbeiging, konnte Saskia ihn vor sich hinmurmeln hören.
„Ein viel zu grausamer Tod, um so schön auszusehen."


Folglich war es ein schrecklicher Tag, um sich von ihrer alten Heimat zu verabschieden und ebenso unpassend für die Prozession der sechsten Nacht, die den künftigen Mittsommer feiern sollte – die Nacht der Feuer, der Liebe und der Sonnengötter. Wenn überhaupt, war dies alles ein schlechtes Omen für das kommende Jahr.

Aber natürlich gab es keinen anderen Weg, als die alte Tradition aufrechtzuerhalten und so zogen die Töchter Perchtas mit düsteren Gesichtern, in denen sich das Licht der Kerzen, die sie auf ihren Kränzen trugen, nicht spiegeln konnte, durch Schwarzhain und versprachen eine strahlende Zukunft, an die sie selbst nicht glaubten.

Als sie an der kleinen Kapelle in der Stadt vorbeikamen, wo nun drei Leichen darauf warteten, dass der Frost schmolz, damit sie in die dunkle Erde gelegt werden konnten, hörte Saskia Philomenas leises Schluchzen. Wenigstens, dachte sie, haben sie Katinka die letzte Ehre erwiesen und sie in der Gegenwart der Lichtmutter ruhen lassen.

Keine der Schwestern sprach ein weiteres Wort. Sie verabschiedeten sich mit Blicken und Gesten: Philomena umarmte Saskia. Einige verabschiedeten sich gar nicht. Nur Mutter Gesa schickte sie mit ihrem üblichen „Möge die Lichtmutter dich segnen" fort, das heute ernster klang als je zuvor.

Und noch bevor der nächste Morgen graute, brach die Jagdgesellschaft auf.

Im Wald waren die Schatten am stärksten.

Das Kloster hatte seine Beschwernisse, die Saskia wie Ehrenabzeichen am Körper trug. Den ganzen Tag auf dem Pferd inmitten der Winterberge zu verbringen, wenn sie ihrem Namen alle Ehre machten, zählte allerdings nicht dazu. Dementsprechend spürte sie bereits nach dem ersten Tag wie ihre Knochen und Muskeln schmerzten, ihre Haut wund und schwielig vom Reiten oder der Kälte.

Mit dem Wind im Rücken, dem Meer aus Schnee, Wäldern und Bergen unter ihr und dem endlosen Himmel über ihr schien das ein geringer Preis, den es dafür zu zahlen galt. Doch wenn sich ihr Körper nach Schlaf am Feuer sehnte, ließ ihr Geist keine Ruhe zu.

Saskia hatte vergessen, wie laut und lebendig die Welt der Toten und Geister war. Nach einem Jahr hatte sie sich an die Grabesstille in der Welt der Lebenden gewöhnt.

Jetzt beschränkte sich ihr Schutz auf ein paar Gebete und die gesegneten Waffen des Ordens, die nur sanft das wegschoben, was Anyans Anwesenheit anziehen könnte – und vielleicht auch ihre eigene. Sogar Polnotsch, die sie ihr als Reittier geboten hatten, schien dies mit Nervosität zu spüren.

Zudem hatte Saskia noch nie einen Ort gesehen, der von so vielen Kreaturen bewohnt war.

In ihrer alten Heimat hatte es nur eine Handvoll von ihnen gegeben, in einer stillen Symbiose mit den Menschen lebend, die ihnen Opfergaben brachten. Wenn sie regelmäßig und reichlich kamen – worauf Saskia stets geachtet hatte –, konnten sogar die Rusalka so weit gezähmt werden, dass sie sich auf recht nachlässige Versuche der Verführung verlegte.

Hier waren die Geister reichlich vorhanden. Und es waren wilde Wesen. Ängstlich, misstrauisch und manchmal bösartig wie wilde Tiere. Einige von ihnen hatten wahrscheinlich noch nie einen Menschen gesehen und würden sogar die Hand beißen, die sie mit Opfergaben füttert.

In der Nacht wurden diese Kreaturen am lebhaftesten. Saskia konnte ihre Anwesenheit überall in den dichten Schatten, die sie umgaben, spüren. Für sie war das kleine Feuer ein Nichts. Um sie herum tanzend und flüsternd, jammernd, lachend und schreiend war die Dunkelheit nie mehr als einen Zentimeter davon entfernt, sie zu berühren.

Jeden Morgen waren kleine Fußabdrücke in der Asche zu sehen.

Aber auch ohne Geister, Dämonen und Gespenster hätte der Schlaf sich von ihr abgewandt. Am Ende blieben es die Angst und die Schuldgefühle, die sie wach hielten. Der einzige, mit dem sie sie teilen konnte – und darüber war sie froh – war Anyan, der neben ihr am Feuer saß.

„Kannst du nicht schlafen, vranka?", fragte er, als er bemerkte, dass Saskia sein Gesicht im Schein des Feuers anstarrte. Warum konnten die Flammen nicht auch durch sie leuchten? Alle ihre Schatten wegbrennen, bis nichts mehr von Saskia übrig war?

„Nein. Sie sind zu laut."

„Die Dämonen?" Silvans Stimme war ein leises Glucksen. „Hast du schon vergessen, wo du hingehörst, während du in deinen heiligen Hallen warst, desetnica?"

Saskia schüttelte den Kopf, so gut es eben möglich war, während sie auf ihrem Nachtlager ruhte, wo sie es im Schlaf warm haben sollte. „Nicht die Dämonen, meine Gedanken. Meine Schuld."

„Schuld?"

„Hast du dich nie schuldig gefühlt?"

„Wofür?"

„Dein Verbrechen. Jemanden zu enttäuschen, der dir vertraut hat", ihre Kehle verengte sich, bis ihre Stimme nur noch ein schwaches Flüstern war, "jemanden, den du geliebt hast."

Kummer tanzte mit den Flammen in seinen Augen. „Ich weiß es nicht. Ich kann mich schon lange nicht mehr an irgendwelche Gefühle erinnern."

Saskia konnte nicht genau sagen, ob sich das nach einem schrecklichen oder sehr friedlichen Zustand anhörte, denn im Moment hätte sie das Chaos in ihrem Inneren gerne für ein erleichterndes Nichts aufgegeben. „Ich beneide dich."

„Das tust du nicht. Dein Herz zu verlieren, ist ein schlechter Ausweg aus dem, was du bist. Das ist es doch, wofür du dich wirklich so schuldig fühlst, nicht wahr? Deine Natur."

Saskia richtete sich auf. „Nein, ich–"

„Fühlst dich schuldig, weil du deine Freundin, die Priesterin, schlecht behandelt hast?" Sein berühmtes spöttisches Lächeln schnitt durch Saskia wie eine grausame Klinge. „Vielleicht, ja. Aber ohne diesen hässlichen Fluch in deinen Adern, hättest du es nicht getan. Es hätte nie einen Grund gegeben, zu rebellieren, zu lügen, zu töten. Rogdai und seine Männer würden leben und der arme Junge auch. Und dein Kitz wäre sicher in seinen kostbaren Klostermauern."

Heiße Tränen stachen in Saskias Augen und kochten mit der Höllenwut, die in ihrer Brust schwoll. Sie wünschte, es wäre ein Zeichen von Beleidigung, Zorns über seine Unverschämtheit, aber das war es nicht. Als sie sprach, bebten ihre Lippen. „Wie kannst du es wagen–"

Anyans helle Augenbrauen wölbten sich. „Die Wahrheit zu sagen?" Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „Deine Wahrheit zumindest, die Schatten, die dich nachts wach halten. Das war nicht besonders schwer zu erraten, desetnica."

Egal, wie sehr sie ihn jetzt verfluchen wollte, kein einziges Wort kam ihr über die Lippen. Vor ihm, der ihre tiefsten Ängste so unverblümt aussprach, fühlte sie sich plötzlich unglaublich nackt. Auf eine Weise verletzlich, wie sie es bei Mutter Gesa nie erlebt hatte.

„Du musst deinen Geist nicht in ihrem heiligen Gefängnis einsperren, in das sie deinen Körper gezwungen haben." Die Stimme des Jägers wurde so furchtbar sanft, dass es schmerzhaft war. „Du musst nicht zu dem Fluch werden, den die anderen in dir sehen."

„Vielleicht werde ich, wenn ich jemals zurückkomme, diesen verdammten Konvent niederbrennen", erwiderte sie. Aber Saskia wusste, dass dies eine Lüge war. Der Gedanke an das Feuer, an die Berglandschaft, die sich in ein stygisches Paradies verwandelte, hätte sie in vielen eisigen Nächten trösten und wärmen können. Heute wollte sie es nicht einmal im sicheren Raum ihrer Gedanken entfachen. Es waren hohle Worte, hinter denen sie sich versteckte, so wie sie die Lippen, die sie aussprachen, mit fest an den Körper gezogenen Knien verbarg.

„Und doch glaubst du ihrem Urteil. Was haben dir dieser Orden und dein Kloster je Gutes getan, dass du ihnen über alles vertraust?"

Unbehaglich rutschte Saskia auf ihrem Platz hin und her, und ihr fehlten die Worte. Etwas, das in den letzten Tagen zu oft passiert war. Nein, ich war einfach zu feige, um zu sprechen. Es war einfach gewesen, all diese hässlichen kleinen Wahrheiten zu begrüßen, die andere nicht hören wollten, aber als sie zu schweren, erdrückenden Dingen wurden, hatte ihr Mund plötzlich zu viel Angst, sie zu berühren.

„Ist es wirklich das, was du tun willst, desetnica? Ein Leben in Schande führen wegen einer Gabe, von der andere glauben wollen, sie sei ein Fluch?", fragte Anyan. Nicht mit Spott, sondern mit etwas Schlimmerem. Mitleid.

„Sie hat Menschen verletzt."

„Nein, sie verletzen sich gegenseitig und sich selbst, geben Leuten wie dir die Schuld und nennen es Gerechtigkeit."

„Katinka ..."

Der Dämon schüttelte den Kopf. „Deine Freundin ist eine gequälte Seele. Sie hat sich entschieden, sich selbst zu bestrafen, bevor es andere tun konnten."

Nein, das war zu einfach. Gefährlich einfach. Die Lügen eines Dämons. Doch als Saskia in seine Gletscheraugen blickte, konnte sie keine Täuschung entdecken, nur eine sanfte Sehnsucht, die ihre eigene war.

„Sie fürchten dich, Saskia", flüsterte Anyan, "weil du mehr weißt als sie. Weil du ihre Lügen durchschauen kannst."


Irgendwo waren alle Spuren verschwunden, die Männer in Unruhe stürzend. Außer den harmlosen Geistern, die Saskia sah, waren die behuften Bestien nicht aufgetaucht. Sie sehnten sich danach, dass etwas passierte.

Und dieses Empfinden teilte Saskia, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. Wenn die Rettung von Katinka nur während der Raunächte funktionierte, verging die Zeit viel zu schnell.

Es war bereits die Morgendämmerung der zehnten Nacht, als Anyan auf seiner Rusa zu ihnen eilte: „Ich habe etwas gefunden." Wo er sie hinführte, befanden sich Hufabdrücke im Schnee. Silvan untersuchte sie mit grimmiger Miene.

„Seid Ihr in Ordnung?"

„Was kümmert dich das, Hexe?", zischte Silvan.

Saskia zügelte ihr brodelndes Temperament, damit ihre Worte kühl und klar klingen konnten. „Bin ich nicht Eure Braut, Herr? Ist es nicht mein Recht und meine Pflicht, für Euer Wohlergehen zu sorgen? Ich habe mein Herz, meine Seele und mein Leben noch nicht vor der Lichtmutter an das Eure gebunden, aber ich habe versprochen, dass ich es tun werde. Und ich nehme meine Versprechen ernst."

Verwunderung durchzog von Winterthals Züge, bis sie schließlich milder wurden. „Natürlich, natürlich ..." Es klang, als müsse er sich selbst daran erinnern. „Verzeih meine Unhöflichkeit."

„Es ist wegen Vitus, nicht wahr?"

„Ich habe ihn geliebt wie einen kleinen Bruder", murmelte Silvan, so schwach, so leise, so zärtlich, dass es ihr fast den Hass vom Herzen sengte. Zärtlich legte Saskia ihre Hand auf seine.

Der Fürst schüttelte den Kopf und verbannte die rohe Verletzlichkeit aus seinem Gesicht, seine Miene abermals so scharf wie seine Klinge. „Es spielt keine Rolle. Du kannst dir nicht einmal vorstellen, wie viele ich sterben sah, seit ich dem Orden diene. Erfahrene Krieger ebenso wie zarthäutige Jungen. Aber nicht so. Abgeschlachtet vor dem Konvent, bevor seine erste Jagd überhaupt beginnen konnte. Direkt vor meinen Augen und ich habe es nicht gesehen."

Erst schäumte Wut in ihm auf, dann zerfiel sie zu einem fast kindlichen Erstaunen. „Aber er ... er hat es getan. Und ich habe ihn im Stich gelassen."

Gegen ihre Abscheu ankämpfend, konnte Saskia eine Art Verwandtschaft zwischen ihnen spüren. Beide wollten schützen, was sie liebten, und führten es stattdessen in den Tod. Vielleicht gibt es unter all dieser Grausamkeit noch einen Mann mit Herz? Jemand, der so verbogen und gebrochen ist, dass er zu den Idealen des mächtigen Ritters passt, so wie sie versucht hatten, auch Saskia zu verbiegen und zu brechen. Nur, bei Silvan war es ihnen gelungen.

Der schüchterne Druck ihrer Hand war jetzt aufrichtig.

„Wenn ich die Macht hätte, das aufzuhalten–", flüsterte er.

Vielleicht–

„Wenn ich die Macht hätte, all diese götterverdammten Dämonen für immer in ihre brennende Hölle zu schicken ..." Silvan von Winterthal beendete seinen Satz nicht, aber das dunkle Glitzern in seinen Augen ließ Saskias Herz erstarren. Dort glühte genug Wut, um sie zu verschlingen, wenn sie es nur gewagte hätte, lange genug in diese Augen zu schauen. Sie und die ganze Welt.

Nein, ich sollte es besser wissen. Schließlich können auch Monster die Liebe kennen.

„Ich spüre ihre Anwesenheit", meinte Saskia schließlich, seine unheilvolle Gedankenkette unterbrechend. „Sie können nicht weit sein."

Silvans Gesicht hellte sich auf, als er sie ansah – bewundernd – und den Anblick noch einmal so auskostete wie damals auf dem Markt. Doch jetzt war er sich bewusst, dass er diese blonden Zöpfe, die lieblichen Lippen und die sehenden eisblauen Augen bereits gewonnen hatte. Oh, was für ein wertvoller Besitz sie war.

Sich mit neuer Energie auf sein Pferd schwingend, verkündete der Fürst: „Wir haben wieder eine Spur", sie alle somit erinnernd, wer ihre Jagd anführte.

Sie konnten nicht ahnen, dass sie nicht alle nach den gleichen Spuren suchten.

Es war die elfte Nacht, als Saskia von schallendem Gelächter erwachte. Sofort schoss sie hoch, suchte ihr Lager nach etwas Gefährlichem ab. Kalte Angst lief ihr den Rücken hinab.

Aber da war nichts als Dunkelheit, nur durchbrochen vom Feuer, schwach angesichts der Kälte und der endlosen Nacht, gegen die es verzweifelt ankämpfte. Die Männer schliefen friedlich, mit Ausnahme von Anyan, der – da er das wohl ohnehin nicht nötig hatte – in der Nähe Wache halten musste. Er schien nichts davon zu hören.

„Wer ist da?", flüsterte Saskia.

Die Antwort war ein weiteres Lachen, das von überall und nirgends gleichzeitig kam und in Saskias Kopf wie eine Melodie widerhallte; es harmonierte mit dem leisen Flüstern des Flusses Mavja.

Eine vila oder eine rusalka, war Saskias erster Gedanke. Doch die zeigten sich selten in diesem tiefen Winter. Ein Geist, war ihr zweiter und für einen kurzen Moment erwartete sie fast, Katinka zu sehen: Saskia noch mehr verfolgend, als sie es ohnehin schon in jedem wachen Moment und in jedem kurzen Traum tat.

Aber da war immer noch nichts.

Vorsichtig stand sie auf und trat zaghaft näher an die Schatten heran, die den Wald verschluckt hatten, eher vom Feuer genährt als wirklich vertrieben. In der Asche des Feuers fanden sich wieder Fußspuren – und führten von dort aus durch den Schnee und tiefer zwischen die Bäume hinein.

Sollte sie Silvan wecken? Nein. Saskia wollte nicht sehen, wie eine Kreatur von seinem gesegneten Schwert erschlagen wurde. Vielleicht war es nur ein harmloser Waldgeist, dem sie den Tod bringen würde. Wieder einmal.
So leise, wie sie konnte, erhob sie sich von ihrem Platz, zog die Felle enger um ihren Körper, um sich vor der Kälte zu schützen, und verließ Schritt für Schritt das Licht.

Saskia fand die Kreatur am Fluss. Im Mondlicht, das hier heller war, saß ein Mädchen.

„Bist du gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten?", fragte sie und ließ ihre Füße in das silbrig glänzende und mit Sicherheit eiskalte Wasser baumeln.

„Wer bist du?"

Was dieses Wesen war, wusste sie bereits: Tot.

Die meisten mavje waren hilflose, jammernde Kreaturen, die manchmal nicht einmal mehr annähernd menschlich aussahen. Sie erschienen als Vögel in der Dämmerung oder einfach als kleine Lichter. Verlorene Seelen, die vergeblich nach jemandem suchten, der sie befreite.

Dieses Wesen jedoch war fast menschlich: Vielleicht so alt wie Saskia, mit fließendem Haar, das ein noch verblicheneres Blond besaß als ihres, und grünlichen Augen. Aber ihre Unschärfe, wie Feuer, das an den Rändern flackerte, verriet sie eindeutig.

Das Geistermädchen schaute Saskia ein wenig verwirrt an, als hätte es eine solche Frage noch nie gehört und wüsste daher nicht, wie es sie richtig beantworten sollte. „Ich wohne hier", sagte es schließlich. „Ich warte."

„Worauf?"

„Erlösung."

„Seit wann?"

„Gestern. Letztes Jahr. Schon immer."

„Was ist passiert?" fragte Saskia mit trockenem Mund. Das Mädchen des Flusses ... Konnte Katinkas Lieblingslegende doch wahr sein?

„Er kam hierher ... Oh, ich weiß nicht, wann. Vor langer, langer Zeit. Er sagte, er sei ein Fürst und wolle mich heiraten", kicherte das Gespenst, als ob daran etwas Komisches wäre; der Klang einer Totenglocke, die unnatürlich hoch gestimmt war. „Das war natürlich nicht ganz richtig. Warum sollte ein Fürst überhaupt ein Bauernmädchen heiraten wollen? Vielmehr wollte er seinen Tribut einfordern."

„Tribut?"

„Ja. Er war ein Gott, weißt du. Er suchte nach der zehnten Tochter oder dem zehnten Sohn." Die mavja machte eine Geste, die einem hilflosen Achselzucken glich. Sie war eine desetnica gewesen, die mit Jarnik verbunden war? „Nun, ich hatte nicht das beste Glück mit dem Gott, den mir das Schicksal zugedacht hatte. Obwohl ich ihn mochte. Das heißt, bis er Goldhorn töten wollte und ..."

„Du ertrunken bist, weil er es für dich getan hat", beendete Saskia ihren Satz, dachte an die Legende und fühlte sich sofort dumm.

„Nein. Obwohl ich im Laufe der Zeit viele auf diese Weise enden sah."

Dort, wo die Füße des Mädchens das Wasser berührten, glaubte Saskia für eine Sekunde, den Ertrunkenen aus der Sage zu sehen, der mit verlorenem Gewehr und Hut und blutverschmiert im Wasser trieb. „Nein. Er tat es für ... ich weiß nicht genau. Hat er es dir nicht erzählt?"

„Mir erzählt?" Saskia spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror.

„Du reist mit ihm, desetnica. Oder etwa nicht?" Und als keine Antwort von ihren vor Unglauben verschlossenen Lippen kam, fügte die mavja hinzu: „Natürlich wurde er bestraft und ich anscheinend auch, weil ich ihm gefolgt bin, sonst würde ich nicht hier festsitzen, wo niemand kommt, um mich zu besuchen. So bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis ich meinen Weg in die Unterwelt finde."

Anyan von Jakona ... Jarnik ... Wenn das stimmte, hatte die Prophezeiung ihr das wichtigste Detail verschwiegen: In diesem Teufel ohne Herz würde sie nicht nur einen Seelenverwandten finden, sondern einen Gott, mit dem sie allein durch die Tatsache verbunden war, dass sie die zehnte Tochter war.

„Er ... er tat es, um mehr zu sein, als er war", murmelte Saskia. Mehr als der Jägergott und so bestrafte Perchta ihn, indem sie seinen Geist, sein Herz und seine Seele mit dieser Aufgabe als einzigen Wunsch für immer füllte. Auf ewig an der Spitze der Toten und der Bestien, zwang sie ihn, die Jagd aller Jagden anzuführen.

Und dieser Fluch hatte ihn noch immer nicht verlassen, denn die einzige Möglichkeit, die er sah, ihn zu brechen, war zu jagen und seine größte Sünde erneut zu begehen.

Die mavja gluckste. „Das klingt tatsächlich nach ihm. Wie es scheint, hat sich seither nicht viel geändert. Hüte dich vor Jägern, desetnica, du weißt nie, was sie als Beute sehen."

Ein Kloß steckte ihr im Hals.

Das Leben der Geister ist ein einsames, dachte Saskia. Zumindest an Orten, wo sie nicht gesehen werden konnten, und schon gar nicht von denen, die nicht mehr hier sein sollten. Unsichtbar litten sie, ohne Hoffnung, dass jemand sie befreien könnte.

„Ich danke dir. Möge die Lichtmutter deinen letzten Weg erhellen, Jerica", hauchte Saskia und hoffte, dass wenigstens der in der Legende erhaltene Name der wahre des Mädchens war. Wenn nicht, würden diese Worte für sie bedeutungslos bleiben.

Doch die Augen der mavja weiteten sich, und dann glühten sie wie der letzte trotzige Kampf einer Flamme, bevor sie erlosch. Einen Moment später wurde sie von der Dunkelheit verschlungen.

Als Saskia ein Kind gewesen war, wollte Perchta immer sehen und sie bitten, den Fluch von ihr zu nehmen. Bei ihren Streifzügen durch die Wälder hatte sie gehofft, auf ihrem Weg eine Hexe oder eine seltsame schöne Frau zu treffen oder zumindest die Seelen der Ungeborenen, die in der dunklen Quelle schimmerten. Eines Nachts war sie sogar so kühn gewesen, aus ihrem Bett zu schlüpfen und in die Küche zu spähen, wo die Opfergaben für sie standen, wobei sie die Warnungen der Magd ignorierte, dass die Lichtmutter sie bestrafen würde.

Na und? Wenn sie sie blendete, würde ebenso Saskia frei sein.

Vielleicht war sie zum ersten Mal froh, dass das nicht geschehen war. Wenn sie nur eine einzige verzweifelte Seele befreien konnte, dann hatte ihr Fluch am Ende vielleicht doch etwas Gutes.

Saskia schlug das Herz immer noch bis zum Hals, als sie Anyans Stimme hörte. Jarniks Stimme. „Ich weiß, wo wir hinmüssen. Bist du bereit?"

Nicht mehr gehorchend, weigerte sich ihre Zunge, sich zu bewegen und eine Antwort zu geben, stattdessen konnte Saskia sich nur zu einem bescheidenen Nicken durchringen. Ihr Kopf drehte sich immer noch, weigerte sich zu verstehen, was sie gerade erfahren hatte. Aber es blieb jetzt keine Zeit, all das zu hinterfragen. Der Tag rückte schnell näher und mit ihm Katinkas sicherer Tod. Fast nur noch ein Tag.

Endlich konnte sie sich dazu durchringen, zu nicken und Anyan zu folgen, die schlafenden Männer zurückzulassend, um ein heiliges Wesen zu töten.


Polnotsch ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie den Weg, den sie einschlugen, hasste, und sie erinnerte Saskia bei jedem Schritt an diese Tatsache. Ihre Gedanken waren jedoch ganz woanders. Was, wenn Anyan sich irrte? Was, wenn sie Goldhorn nicht finden würden?

Und was, wenn sie es doch taten? Würde sie dann genauso enden wie Jerica?

Plötzlich hielt Rusa inne und mit dem Finger an den Lippen glitt Anyan lautlos von ihrem Rücken. Im ersten Moment verstand Saskia nicht. Es war nichts anderes als die Nacht. Kein Geräusch war zu hören, nichts Besonderes zu sehen, aber als der Jäger sie vorsichtig näher heranführte, erhaschte sie einen Blick auf etwas wahrhaft Heiliges.

Dort, auf der Lichtung, stand er: Ein stattlicher Hirsch, fast so weiß wie der schneebedeckte Boden und wenn das nicht schon seine Göttlichkeit verraten hätte, dann täte es sein Geweih. Es bestand aus dem reinsten Gold, das Saskia je gesehen hatte. Unübertroffen von jedem Schmuckstück, das ein Prinz oder eine Prinzessin tragen könnte. Im fahlen Mondlicht schimmerte es in einer gold-silbrigen Farbe, so schön, dass es Menschen in den Wahnsinn treiben konnte, alles zu riskieren, um es zu erlangen.

Das Gewehr in ihrer Hand fühlte sich zu schwer an, obwohl Anyans Finger die ihren umschlossen und sie führten. Es schien das gesamte Gewicht ihrer sündhaften Aufgabe zu tragen.

Zlatorogs Kopf hob sich abrupt, als ob er sie plötzlich wahrgenommen hätte. Seine Augen trafen Saskias; viel zu weise, um nur die eines ganz gewöhnlichen Tieres zu sein. Das ist falsch, dachte sie in derselben Sekunde, als sie selbst oder Anyan oder beide gleichzeitig den Abzug drückten.

Als die Kugel das Herz des Rehs durchbohrte, konnte Saskia spüren, wie ein Teil von ihr starb.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top