10 | Tod eines Rehs

WAS DIE SCHATTEN VERSCHLINGEN
X. Tod eines Rehs

Die fünfte Nacht

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VERWAIST, WIRKTE DER SPEISESAAL EHER WIE EIN FRIEDHOF. Der lange Tisch erschien wie eine Schlachtbank, um den knurrenden Magen des Wolfes zu füllen. Silvan war der letzte, der daran saß, und mit nachdenklicher Miene an seinem Wein nippte, als Gesa eintrat.

„Darf ich Euch sprechen?", fragte die Hohepriesterin.

Der Blick des Fürsten huschte zu ihr, bevor er wieder auf seinem Becher ruhen blieb. „Gewiss. Sprecht frei. Wir sind allein."

Unbehaglich rang Gesa die Hände. „Ihr wisst, dass Ihr mir nie einen Grund gegeben habt, an Euren Entscheidungen zu zweifeln. Ich werde auch jetzt nicht damit beginnen. Trotzdem verstehe ich es nicht."

„Ihr meint Euer verfluchtes Mädchen?", fragte Silvan von Winterthal, die Lippen zu einem Grinsen verzogen, das nichts anderes ausdrückte als die Zurückweisung jeglicher Bedenken.

„Ja." Ihrer Meinung nach gab es nicht mehr zu sagen. Der Einwand war deutlich genug.

Silvan legte den Kopf schief und hob die Augenbrauen, sah sie an und ähnelte dabei mehr dem Kind, das Gesa früher gekannt hatte, als dem Soldaten, der er geworden war. „Ist das nicht Grund genug, sie zu retten? Dafür ist doch der tote Fürst gekommen?"

In seinen dunklen, unschuldigen Augen lag ein schelmisches Glitzern, das sie nicht mehr gesehen hatte, seit er ein dreizehnjähriger Junge gewesen war, der immer noch jugendliche Streiche spielte. Jetzt aber, bei diesem erwachsenen Mann, wirkte es beunruhigend und falsch. Wie ein Dämon, der im Licht eines Heiligenscheins badete.

„Wenn Ihr Euch Sorgen um sie macht, hättet Ihr sie mit einem Eurer Männer verheiraten können." Du hast in erster Linie Verantwortung.

„Ich verstehe ..." Langsam schwenkte er seinen Kelch. Eine Art von Gefahr, die Mutter Gesa nicht ganz fassen konnte, schwelte in der wachsduftenden Luft. „In welchen Zeiten leben wir, wenn Ordenssöhne verfluchte Frauen heiraten und selbst Töchter Perchtas sich in Dämonen verwandeln?"

Noch nicht recht verstehend, hörte Gesa aufmerksam zu und ignorierte die dunkle Vorahnung, die in jedem Wort mitschwang.

Der silberne Kelch traf mit einem gewaltsamen Klirren auf der Tischplatte auf. „Diese Wolfsnächte sind anders. Wenn es jemals einen Zeitpunkt gab, einen Fluch in einen Segen für uns zu verwandeln, dann ist es jetzt. Ich fürchte, nicht alle meine Männer werden überleben – und ich fürchte auch um Eure Töchter. Wir haben bereits eine verloren."

Verloren. Irgendetwas an der Art, wie der Fürst diese letzten Worte betonte, alarmierte Gesa. „Verloren?", wiederholte sie platt.

In seinen Augen konnte sie bloß eine schwache Imitation der Reue lesen, die Gesa das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie gab mehr Antworten, als Silvan beabsichtigte, verriet etwas sehr Dunkles, das seine Seele von innen heraus verdarb.

Nach den Mächten des Fluches, den er fürchtete und verabscheute, gierte es ihm auch.

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Die Kerze, die sie erst gestern angezündet hatte, war bereits heruntergebrannt.

„Gehst du nicht zu Bett, Tochter?", fragte Mutter Gesa, die sie vom Eingang der Kapelle aus aufmerksam beobachtete.
„Ich bin nicht müde", antwortete Saskia. Achselzuckend wandte sie sich wieder den Kerzen zu und zündete zwei von ihnen mit geflüsterten Gebeten an.

Tatsächlich war die Vorstellung, in eine leere Zelle zurückzukehren, zu schrecklich, um überhaupt noch daran zu denken. Hier zu bleiben und zu beten, bis das Morgenlicht durch das Buntglas fiel, schien eine friedlichere Nacht zu versprechen.

Die Hohepriesterin stieß einen zischenden Atemzug aus, ehe sie ihre folgenden Worte mit mehr Bedacht als sonst wählte. „Du wirst also das Kloster verlassen?"

„Wie Ihr es gewünscht habt", sagte Saskia, ohne auch nur den Hauch von Verachtung in ihrer Stimme. Auch nicht in ihrem Herzen. Irgendwann, sie wusste nicht genau, wann oder wie oder warum, hatte sich die junge Priesterin mit der Abscheu der anderen abgefunden.

Möglicherweise, weil es ohne Katinka nichts mehr gab, was sie in diesen Mauern hielt. Ihre Schwester war der Grund gewesen, warum Saskia sich danach gesehnt hatte, sie und alle ihre Bewohner zu ihrem Zuhause zu machen. Obwohl sie dabei ganz offensichtlich kläglich versagt hatte. Jetzt, da Katinka fehlte, konnten sie sie genauso gut verabscheuen, sie zum Erfrieren in den Schnee schicken und dann erleichtert aufseufzen, wenn sie weg war.

Überraschenderweise verlagerte Gesa ihr Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen, als ob diese Wahrheit irgendwie ein Geheimnis gewesen wäre, das unentdeckt bleiben sollte. Dabei hatte sie sich nicht viel Mühe gegeben, sie zu verbergen.

„Ich wollte, dass du das Licht findest", antwortete sie ungewohnt sanft. Reumütig, sogar. „Aber ich habe dich enttäuscht."

Saskias Herz machte einen Sprung. Das kleine mutterlose Mädchen in ihr sehnte sich danach, vor Gesa auf die Knie zu fallen, in ihr schwarzes Gewand zu weinen und ihre Hand zu spüren – ausnahmsweise mal freundlich und nicht kasteiend –, um ihr Haar zu streicheln, wie es ihre mamica es immer getan hatte.

Doch dieses Mädchen, das zu oft mit Peitschen und Worten geschlagen worden war, hatte sich in eine Frau verwandelt, die zu verhärtet und zu misstrauisch war, um sich diese Blöße zu geben. Ein verbranntes Kind konnte sich nicht an der Flamme wärmen, die es einst verbrannt hatte.

So antwortete sie wie eine vollkommen sittsame Priesterin: „Ich habe versprochen, eine gute Tochter zu sein – der Lichtmutter, dir und meinem Vater. Er wollte mich verheiratet sehen. Ihr wolltet, dass ich fort bin. Also werde ich eure beiden Wünsche erfüllen."

„Du hast dich nie um die Wünsche anderer gekümmert. Warum jetzt damit anfangen? Ich weiß nicht, wie du Fürst Silvan überzeugt hast oder welches Spiel du spielst. Aber ich hoffe, du weißt, was du tust, denn es geht um unser aller Leben."

Bis zu den letzten Tagen war Saskia stolz auf ihre Ehrlichkeit gewesen. Eine Ehrlichkeit, die sich nicht nur aus Rebellion speiste, sondern auch aus dem wahren Ideal, dass es besser war, seine Meinung auszusprechen – selbst wenn man sich auf dem Holzweg befand – als seine Gedanken und Gefühle stillschweigend hinunterzuschlucken.

Vielleicht war es auch jetzt die bessere Wahl. Schließlich war Gesa für sie so etwas wie eine Mutter geworden.

„Weil ich Katinka retten will", meinte sie, sich umwendend. „Ich dachte, wenn ich Fürst Silvan helfe, Schwarzhain zu schützen, gibt es vielleicht eine Chance für sie ..."

Saskia wusste nicht, was sie erwartet hatte. Vielleicht Überraschung oder strafendes Schweigen. Auf irgendeine Art von Geistesverwandtschaft, ein gegenseitiges Gefühl für den Schmerz des anderen, wagte sie nicht zu hoffen.

Doch sie war sich sicher, genau das in Gesas gräulichen Augen gesehen zu haben – kurz bevor sie sie schlug. Kühle Finger prallten auf Saskias Wange, schickten sie zu Boden und ein brennendes Gefühl durch ihr Fleisch.

Aber es war ihre Brust, gegen die sie unwillkürlich ihre Hände drückte, als hätte der Schlag irgendwo dort getroffen.

„Dummes Mädchen, Katinka ist nicht mehr zu erlösen."

Beschämende Tränen stachen in Saskias Augen, als sie den Kopf schüttelte. „Nein. Ich kenne sie und–"

Gesas zitternde Hände schienen sich verzweifelt an etwas festhalten zu wollen, fanden aber nichts, so dass sie halb als fragile Drohung, halb als unehrlicher Segen in der Luft hingen. In ihren Augen schimmerten ebenfalls Tränen.

„Sie ist tot."

Der Legende nach war die desetnica immer mit dem Schicksal verbunden. Und mit dem Tod. Manche nannten sie sogar so. Als smrtnica wanderte sie von einem Haus zum anderen, auf der Suche nach einem warmen Herd, und bestrafte diejenigen, die ihr diesen nicht gewährten. In ihrer eigenen Behausung bewahrte sie Kerzen, um die Dauer des Lebens anderer vorauszusehen.

Vielleicht steckte etwas Wahres darin, denn die Kerze, die Saskia in ihrer letzten schlaflosen Nacht für Katinka angezündet hatte, war erloschen. Und den Tod hatte sie zu vielen gebracht. Schuld war eine Schlange, die jede Sekunde neues Gift in ihr Herz träufelte und ihr Worte voll böser Weisheit ins Ohr flüsterte. Ich hätte dort im Schnee sterben sollen.

All das Schlemmen und Lachen an diesem Abend wurde plötzlich noch abscheulicher. Wusste es keine der Schwestern oder war es ihnen einfach egal? Dass Silvan ein herzloser Mensch war, noch mehr als dieser Dämon, hatte Saskia längst begriffen. Doch das wahre Ausmaß seiner Grausamkeit hatte sie bisher unterschätzt.

Angesichts dieser Tragödie schreckte er nicht davor zurück, in aller Ruhe sein blutiges Opfer zu bringen, eine Verlobung zu feiern und Katinkas Andenken mit seinen teuflischen Worten zu beschmutzen.

Es war ein hässlicher und böser Gedanke, aber vielleicht hätte Saskia Silvans Schwert nehmen und ihn doch töten sollen. Besser, als mit ihm und Anyan umsonst gefangen zu sein, mit einer alles verzehrenden Wut im Blut und dem Wunsch, jeden Flecken Haut, den Silvan berührt hatte, wegzubrennen.

Doch wenn er der Mörder war, dann war Saskia seine Klinge gewesen.

„Wie seltsam, endlich das Haus derjenigen zu betreten, die mich verflucht hat", seufzte eine vertraute Stimme hinter ihrem Rücken. „Was würde unsere mächtige Perchta wohl denken, wenn sie mich vor ihrem Abbild finden würde?"

Saskia drehte sich um und starrte ihn mit dolchartigen Blicken an, mit denen sie ihn am liebsten durchbohrt hätte. „Du hast mich betrogen. Du hast mich belogen!"

In ihren eigenen Ohren klang all die Verzweiflung lächerlich. Wie konnte sie sich überhaupt über die Täuschung eines Dämons wundern? Wenn sie nur eines aus den Märchen und Legenden lernen konnte, dann war es, niemals einem Teufel ohne Herz genug zu trauen, um einen Handel mit ihm einzugehen.

Nicht, dass sie ihm wahrhaftig vertraut hätte. In dem Moment, in dem ihr Pakt besiegelt wurde, hatte Saskia ihre Seele als an ihn verloren betrachtet, für immer gebunden und heimgesucht. Das war das Risiko, das sie bereit war einzugehen. Aber naiv wie sie gewesen war, erkannte sie in diesem Moment, dass sie Anyan immer noch genug vertraut hatte, um noch für Katinkas Leben zu hoffen.

Aber Hoffnung war etwas Erbärmliches, mit selbst für offensichtlichsten Verrat blinden Augen und einem Mund, der so durstig nach Bestätigung war, dass er gerne schöne Lügen schluckte.

Saskia wollte gleichzeitig ihre Fäuste in Anyans Oberkörper schlagen, ihn verfluchen und weinend vor dem Altar niederfallen und um Vergebung schreien. Doch all ihre Wut und Verzweiflung gipfelte nur in einem gekrächzten, kaum hörbaren: „Was habe ich getan?"

Du hast es dir selbst geschworen. So monströs bist du geworden.

Zu ihrem Entsetzen schien Anyan ihren Zorn fast gleichgültig hinzunehmen. Zumindest hätte er den Anstand haben können, über ihre Dummheit zu lachen und sich in seinem Sieg zu ergehen.

Seelenverwandte können dich von der Schwelle des Todes zurückholen und deine Seele entzwei reißen, kamen ihr Gesas Worte frisch in den Sinn, begleitet von dem brennenden Wunsch, genau das Letztere zu tun und die Macht, die er über sie besaß, gegen ihn zu wenden. Aber Saskia wusste nicht, wie.

„Ich habe dir nur die halbe Wahrheit gesagt", meinte Anyan mit der leisen Melodie des Bedauerns in seiner Stimme, zu der er nicht das geringste Recht hatte.

„Die halbe Wahrheit?" Ihre Nägel blutige Sicheln in ihre Handflächen ritzend, musste Saskia sich gewaltsam zurückhalten zu schreien. Auch wenn sie nicht wusste, warum es sie noch kümmern sollte, ob jemand sie hören konnte. Silvan wäre wütend und sicher nicht zögerlich, auch ihr Leben zu beenden. Aber was soll's? „Wir hatten eine Abmachung, Dämon. Katinkas Freiheit für deine."

„Und die kann sie immer noch bekommen."

Verhöhnte er sie etwa? „Sie ist tot", stieß Saskia aus. Ihre Stimme ging nahtlos in ein Schluchzen über.

Anyan streckte die Hand nach ihr aus, war aber klug genug, sie nicht zu berühren. Ein Anflug von Besorgnis huschte über sein Gesicht, seine Stirn in Falten legend, obwohl es irgendwie unnatürlich aussah, als wären ihm Gefühle fremd. Es genügte zu einer weiteren unverhohlenen Lüge. „Es gibt Möglichkeiten, das zu ändern. Wein nicht ..."

„Ich habe genug davon, dass andere mir sagen, ich solle nicht weinen, obwohl ich allen Grund dazu habe!", schniefte sie und schlug seine ausgestreckte Hand weg.

Doch Saskia verabscheute es, dies vor dem Geschöpf zu tun, das ihr diese Schmerzen bereitete – oder zumindest ständig Öl in das Feuer goss, das sie selbst gelegt hatte. Mit zitternden Händen bedeckte sie ihr Gesicht und ließ sich auf die Knie sinken. „Und ich habe auch genug von all diesen Lügen."

„Ich habe nicht gelogen." Die Finger des Jägers berührten ihre Schulter in einer absurden Geste des Mitgefühls; dieses Mal fehlte Saskia die Kraft, auch nur zurück zu zucken. „Dein Rehkitz kann noch gerettet werden. Ich gebe dir mein Wort."

Lügen. Lügen. Lügen.

Saskia zwang sich, ihn anzuschauen. „Was ist das Wort eines Dämons wert?", fragte sie beißend.

Seine unmenschliche Berührung fühlte sich leicht an ihrem Schlüsselbein an, strahlte keine Wärme aus, die durch ihr Habit dringen konnte, und erinnerte sie an die Falschheit Anyans reiner Gestalt und Form. Wusste sie überhaupt, ob dies sein wahres Gesicht war und nicht das des Höllenhundes oder etwas anderes?

In dem Moment, als der Jäger sich zurückzog, war Saskia nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt gespürt hatte. Er betrachtete den Raum, als wäre es das erste Mal, dass er durch die Kapelle schritt. Die dunklen Holzbänke und die Kiste mit den Spenden schienen ihn wenig zu interessieren, doch auf den Glasfenstern, die blasse Erinnerungen an Götter, Helden und ihre Taten zeigten, verweilte sein Blick.

Wenn es irgendetwas gab, das Saskia an dem Kloster geliebt hatte, dann musste es das sein.

„Du hasst den Orden und deinen Konvent und sprichst doch so schnell in ihrer Sprache. Wer war es, der das Ende deines Rehleins verursacht hat?", fragte Anyan, während er nur kurz vor dem Fenster stehen blieb, das Goldhorn auf der Flucht vor Jarnik durch frostglasiertes Elfenbein zeigte. „War ich es oder waren sie es?"

„Welche Art von Freiheit hast du überhaupt zu bieten? Die, die du Fürst Rogdai geschenkt hast?"

„Du bedauerst ihn." Anyan sah fast verblüfft aus. Ein seltsamer Ausdruck für einen Dämon, der seine Krallen so tief in ihren Verstand versenkt zu haben schien, dass es kaum noch einen Platz gab, an dem sie sich verstecken konnte.

„Natürlich tue ich das! Ich wollte ihn nicht heiraten – ja. Vielleicht habe ich sogar eine Sekunde lang rücksichtslose Erleichterung über sein Ende empfunden. Aber ich bin noch nicht so sehr ein Ungeheuer, um mich darüber zu freuen."

Nicht so ein Ungeheuer wie du, fügte sie leise hinzu, beinahe hoffend, dass er diesen Gedanken lesen würde.

Der Dämon stieß seine Missbilligung in einem scharfen Atemzug aus. „Was für eine Verschwendung von Mitleid und Kummer."
Im Moment stand er vor der Statue am Altar und fuhr mit dem Finger über Perchtas marmornes Kinn, wobei ihm eine seltsame Art von Melancholie ins Gesicht geschrieben stand. Obwohl er – der, den sie verflucht hatte – es wagte, ihr Heiligtum zu betreten, blieb ihre Miene eiskalt.

Seine Hand fiel zurück an seine Seite. „Und glaub mir, ich verstehe etwas davon. Vor langer Zeit war ich genau wie er. Ein junger törichter Junge, der die ganze Welt und ihre Gefahren für ein Abenteuer hielt, das es zu meistern galt. Ich respektierte nichts außer mir selbst und lachte sogar über die Götter. Ich habe den Preis dafür bezahlt, genau wie Fürst Rogdai. Wir alle müssen uns manchmal unseren Fehlern stellen."

Das werde ich auch, letztendlich.

Saskia kaute auf ihrer Lippe und versuchte, sie davon abzuhalten, ihre Gedanken auszusprechen. Was für ein vergebliches Unterfangen.

„Was ist das für eine große, ganze Wahrheit, die du mir vorenthalten hast?", fragte sie schließlich, gab sich dummerweise wieder einmal ihrer Verzweiflung hin. Denn was könnte sie schon anderes bekommen als weiteren Betrug? Sie musste wirklich eine Vorliebe dafür haben, mit herzlosen Kreaturen zu spielen und ihr eigenes Herz dabei zu verletzen.

Als Anyan sich ihr langsam vor ihr in die Hocke ging, sein gesundes Auge ebenfalls vor hungriger Hoffnung glühend, bereute Saskia es sofort.
„Der Tod ist nicht das Ende von allem, vranka. Die Grenzen der Unterwelt sind nicht unüberwindbar. Nicht in den Raunächten." Seine Finger schlossen sich um einen der Weihnachtssterne, die ihren Kopf umrankten, zupften an einem der purpurnen Blätter und ließen es schließlich wie einen Blutstropfen auf seiner weißen Handfläche ruhen. „Es gibt einen Weg zurück."

Saskia spürte, wie ihr Herz kurz stehen blieb, um dann einen erschrockenen Sprung zu machen, als ihr die Bedeutung seiner Worte dämmerte. Augenblicklich sprang sie auf.
Bevor der Schnee schmilzt, wirst du eine Blume pflücken ...

„Goldhorns Blut ...", flüsterte sie.

Anyan lächelte, als sich seine Faust um das Blatt schloss. „Genau."

Das war die ganze Zeit dein Plan? Zlatorog zu jagen, ihn zu töten und die Blume zu holen, die aus seinem Blut blüht? Du bist nicht verflucht. Du bist verrückt."

So verrückt wie Saskia selbst, denn während ihr Mund noch protestierte, hatte ihr Verstand längst einen Entschluss gefasst. Es gab keine Idee, die wahnsinnig genug war, um ihre Hoffnung davon abzuhalten, sich in ihr zu verbeißen.

„Es würde uns beiden geben, was wir uns wünschen, nicht wahr?"

Verzweifelt schüttelte Saskia den Kopf. „Und die Strafe dafür, die Qualen der Hölle?"

„Was ist damit? Du müsstest sie nicht allein ertragen."

Nicht allein. Diese Worte waren zu schön und zu gefährlich anzuhören. Auf ihrer Zunge, die sie testete, schmeckten sie süß und warm wie Honigwein. Saskia spuckte sie mit ihrer nächsten Frage aus: „Hast du wirklich keine Angst, dich den Folgen deiner Fehler erneut zu stellen? Nicht einmal Jarnik ist damit durchkommen."

Saskias Blick huschte zu der Glasmalerei, in der er seit einer Ewigkeit gefangen war. Vielleicht war er der erste, der verrückt genug gewesen war, das göttliche Tier zu erschießen, und obwohl er es selbst war – göttlich –, bestraften ihn Perchta und die anderen Götter ihn und verbannten ihn in die Unterwelt.

Anyan zuckte mit den Schultern. „Ich habe vor langer Zeit die Fähigkeit verloren, mich zu fürchten. Zu hassen und zu lieben, ebenso."

Daran musst du mich nicht erinnern. „Dein Herz ...", murmelte Saskia schlicht, während sie sich auf die letzte Bank in der Reihe fallen ließ. Sie gab ein protestierendes Knarren von sich, das ihr deutlich sagte, dass sie nicht hierhingehörte.

„Es ist verloren gegangen."

„Aber du hattest eins?" Das Misstrauen, das sich in ihre Stimme schlich, fühlte sich fast ungerecht an, aber sie konnte es nicht verhindern.

„Ja. Vor langer Zeit war ich fast ein Mensch, vranka. Aber es ist unmöglich, einen solchen Fluch zu tragen und dabei noch ein Herz zu haben."

„Ich dachte, du wärst der große Meister der Wälder und Wölfe, kuža?" Kein unkluger Mann, fügte Saskia in Gedanken hinzu, aber etwas am Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er es dennoch hörte. „Oder würdest du Hündchen vorziehen?", fragte sie neckisch.

„Das würde eher zu deinem neuen Verlobten passen." So schnell wie er aufgetaucht war, verschwand der Spott auch wieder. „Das ist mein Fluch. An diesen Ort und nur an diesen ans Reich der Geister gebunden zu sein, unsichtbar, außer in diesen zwölf Nächten, und nichts anderes zu wollen als jagen und jagen und jagen. Unermüdlich und ohne dich, vielleicht bis ans Ende der Zeit."

Noch nie hatte Saskia die Existenz der Geister als etwas derart Einsames betrachtet.

Der gospodarček, der sie neugierig ansah, wenn sie mit ihm sprach und ihm ihre Opfergaben brachte.

Die Rusalka, die sang und tanzte, die zum ersten Mal einen bewundernden Betrachter hatte, der nicht den kalten Tod auf dem Flussbett finden würde, wenn er versuchte, sie zu fangen.

Der Geist, der ihr nachts die Haare flocht und ihr ins Ohr flüsterte wie einer verlorenen Tochter, die nicht in diese andere Welt gefolgt war.

Hör auf, für einen Dämon Mitleid zu empfinden, schalt Saskia sich selbst. Das hier war alleine ein strategisches Bündnis und sie würde gewiss nicht auf irgendwelche rührenden Märchen hereinfallen, die das kalte Misstrauen aus zarten Herzen schmelzen sollten. Er würde sich ein anderes – dümmeres – Mädchen suchen müssen, die ihn beklagte.

„Ohne mich?"

Anyan setzte sich neben sie, so dass sie fast wie normale Menschen aussahen – ein Fürst und eine Priesterin –, die sich beim Gebet trafen.
„Seit du hier bist, kann ich zum ersten Mal wieder an etwas anderes denken. Sogar unter Menschen gehen. Die Macht der Seelenverwandten, nehme ich an." Nichts an seinem Lächeln war aufrichtig. „Obwohl das an sich schon ein Fluch ist. Jetzt erkenne ich meine Gefangenschaft."

„Was ist passiert?"
Das solltest du nicht wissen wollen, erinnerte sie sich. Welche tragische Geschichte er auch haben mochte, er hatte eindeutig etwas Schreckliches getan, um auf diese Weise bestraft zu werden. Andererseits: Was hatten sie selbst oder Katinka getan, um verflucht zu werden?

„Ich habe die Götter aus Stolz verärgert. Aus dem Wunsch, mehr zu sein als das, was ich schon war. Vielleicht auch aus Liebe. Wenn ja, dann war es eine rücksichtslose und egoistische, die mehr Unglück als Glück bringt. Zumindest hatte ich den irrigen Wunsch, diejenige zu beeindrucken, die ich umworben habe. Eine Geschichte, so alt wie die Zeit selbst." Er winkte verächtlich ab. „Es wurden schon viele ähnliche erzählt. Auch, wenn ich nicht glaube, dass sie es wert sind."

Wenn Katinka sie erzählt, sind sie es. Vielleicht hätte sie, die sich mit all diesen Legenden so gut vertraut war, besser gewusst, was sie jetzt zu tun war als Saskia.

Für eine Weile herrschte eine zu friedliche Stille.

„Was lässt dich denken, dass es diesmal anders sein wird?", fragte Saskia schließlich, den Blick auf die Lichtmutter gerichtet, in der heimlichen Hoffnung, dass sie stattdessen antworten würde.

„Nichts", gestand Anyan, wie gegenüber der Göttin selbst.
Verwirrt wandte sie sich dem Dämon zu. „Warum würdest du es dann überhaupt tun?"
„Aus demselben Grund, aus dem du zustimmst, mir zu helfen."

Saskia wollte widersprechen, obwohl sie sich schmerzlich bewusst war, dass Anyan damit richtig lag. Umkehren kam für sie nicht in Frage.

„Aus der Überzeugung, dass es kein schlimmeres Schicksal als dieses gibt und wegen dem Fluch der Hoffnung", murmelte er.
Obwohl es absurd klang, konnte Saskia nicht leugnen, dass der kleine Same einer Freundschaft versuchte, in ihr Wurzeln zu schlagen. Vielleicht waren sie gar nicht so verschieden.

Und bevor sie sich zurückhalten konnte, waren ihr schon die nächsten Worte aus dem Mund geglitten: „Ich werde dich sehen."

Anyans Blick huschte fragend zu ihr.

„Wenn wir diesen Fluch nicht brechen können. Wenn die Raunächte enden und du für alle verschwinden wirst, musst du deine Strafe nicht allein ertragen."

„Alleine die Last eines solchen Fluches zu teilen, ist ein Pakt, der es wert ist, geschlossen zu werden." Wieder berührten sich ihre Hände in einem stillen Einverständnis, dass sie gemeinsam das Verrückteste tun würden, das es wohl gab: Ein göttliches Tier zu töten und sich etwas anderes zu wünschen, als ihr grausames Ende.

Noch einmal blickte Saskia der Statue ins Gesicht und erwartete beinahe, dass sie zornig zurückstarren würde. Doch diese Lichtmutter kümmerte sich zumindest nicht um die Sünden ihrer Töchter. Als sie sich wieder abwandte, war der Dämon verschwunden. Doch das karmesinrote Blatt ruhte auf dem Altar. Verwelkt und tot.

Saskia hatte beschlossen, dem kleinen Hausgeist eine Opfergabe zurückzulassen, bevor sie endlich schlafen ging, mehr eine Ausrede als alles andere, denn sie wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. „Es tut mir leid, dedek, aber du wirst dir bald ein neues Zuhause suchen müssen."

Doch als sie die Kapelle verließ, glaubte sie aus dem Augenwinkel zu sehen, wie er sich in Form einer weißen Schlange um die Marmorfüße Perchtas schlängelte, als würde er Saskia und der Lichtmutter dafür danken, diesen Ort wieder beschützen zu dürfen.

Ohne Katinka war es in der Zelle unerträglich kalt. Und was noch schlimmer war – all ihre kleinen Habseligkeiten schienen Saskia in stummem Urteil anzustarren. Von dem Platz aus, an dem sie immer betend vor der Schale mit den brennenden Kräutern gekniet hatte, fixierte sie das kleine hölzerne Bildnis von Perchta, als wollte es ihr sagen: Du gehörst nicht zu ihr.

Und das zu Recht. Denn Saskia tat es nicht. Was auch immer an Gutem in diesen Mauern gewesen war, sie hatte es mit ihrer Rücksichtslosigkeit vergiftet. Jetzt, wo sie wirklich allein war, fiel Saskia auf die Knie und weinte. Das Gesicht in das Bettlaken gepresst, versuchte sie vergeblich, ihr Schluchzen zu ersticken.

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