Die Tragödie I.IV
Wieder vorne angekommen griff ich nach dem Kreidestück auf dem Pult und begann im Anbetracht der bereits gut gefüllten Tafel es zwischen meinen Fingern zu drehen.
Letztendlich wendete ich mich wieder mir und der dunkelgrünen Fläche zu.
Du musst nur deine Geschichte erzählen, Sue.
Doch da war es wieder, das Zittern, mitsamt der Panik, Angst und diesen ganzen Emotionen, die ich verabscheute wie zu verdrengen versuchte.
Wackelig setzte ich das Kreidestück an die Tafel.
Wie ging es weiter?
Irgendwie wusste ich es doch, meine Lebensgeschichte, aber irgendwie wusste ich es auch nicht. Generell, was gab es überhaupt zu Wissen und was nicht?
Ich dachte an ein Kinderlied zurück, welches besagte, niemand wisse das, was ich weiß – obwohl die Aussage aus einem Kinderlied stammte, war sie nich mehr beschönigend, sondern wahr.
Wissen teilen.
Plötzlich wusste ich wieder, wozu ich hier vorne stand: Die Anderen wollten mein Wissen erlangen und ich wollte mein Wissen mit ihnen teilen.
So begann ich wieder zu schreiben.
Auf dem dunkelbraunen Holzsarg war ein schwarz-weiß Foto von Maddy aufgestellt.
Ich erinnerte mich an den Tag zurück, andem das Bild entstend, im heißesten aller Sommer, die ich je erlebt habe. Wir waren gemeinsaman die See gefahren, hatten unsere Strandmuscheln aufgestellt, den ganzen Tag in der Sonne gelegen, sich fast schon genüsslich einen schmerzenden Sonnenbrand geholt und gelegentlich im von der Sonne aufgeheitzten Wasser entspannt – eine wunderschöne Erinnerung, eine meiner Schönsten, um genau zu sein. Im Hintergrund den glühenden Sonnenuntergang hatte ihre Mutter eines Abens ihre Kamera mitgenommen und etwas tausend Bilder von uns allen geschossen.
Wir waren von Freude durch und durch erfüllt gewesen, hatten uns unantastbar in unserer eigenen Welt verloren.
Jetzt stand das Bild keine drei Meter vor mir.
Alle Freude war vergengen und mit ihr die Unantastbarkeit und unser unendliches Glück, welches endlich geworden war.
Nicht die umstehenden Leute, mochten sie trauriger denn je sein, brachten mich zum weinen, nicht die Worte des Geistlichen, nein, allein dieses eine Bild.
Dieses verdammte Ding – wenn ich nur daran denke, zerreißt es mich!
Ich kann es nicht beschreiben, aber allein der Anblick von dieser simplen Fotografie wirft mich binnen enes Wimpernschlags zurück wie ein fester Schlag in die Magengrube.
Der Fakt mag euch verwundern, aber ich sehe es mir jeden Tag an.
Freude und Verlust vereint.
Deswegen weinte auch ich und meine Tränen dauerten an.
Alles Gerede verschwand in einen dumpfen Ton, der mein Ohr kaum zu erreichen vermochte und in ein unbedeutendes Nichts überging. Meine Gedanken kreisten um Maddy und darum, dass ich sie nie wiedersehen würde. Es ist ein bekanntes Gefühl, das man kennenlernt, wenn Menschen über längere Zei auf Distanz verbringen. Fast wie eine Verwandschaft, die sich nur an Feierlichkeiten trifft, aber trotzdem liebt und manchmal misst.
Dazu kommt die ernüchternde, drückende Erkenntnis, dass dieses mal kein Wiedersehen folgen wird.
Ein Gefühl der Leere, schmerzender Leere.
Und egal wie oft man es zu ändern versucht, egal, wie hart man arbeitet,so ist das Ziel, die Vereinung, immer unerreichbar.
Ich weiß, das ist eine demprimierende Erkenntnis, aber sie ist notwendig, wenn ihr meine Geschichte mich verstehen wollt. Ja, das hier ist schwehr – das weiß ich selber – und keiner kann euch diese schmerzende Erkenntnis abnehmen, denn ihr braucht sie jetzt und nicht euere Eltern. Vielleicht ist es zu viel verlangt von Sechzehnjährigen, dass sie den Tod verstehen, doch das müsst ihr irgenwann sowieso.
Mit Sicherheit haben die Meisten von euch schon jemanden verloren, das macht es leichter, wer nicht, der sollte langsam anfangen aufmerksam zwischen den Zeilen zu lesen, sonst kommt ihr später nicht mehr mit.
Ich trat von der Tafel weg und betrachtete mein Werk. Die Klasse würde definitiv einen Moment brauchen, um zu verstehen und den sollten sie auch bekommen.
In dessen wechselte ich meine Funzel von Kreide gegen ein neues Stück aus. Mit dem Mini-Ding hätte man einen Milchzahn konstruieren können, so klein war es inzwischen.
Als erneut die Pausenglocke die nächste Stunde eröffnete betrat ein Mann mitte fünfzig den Raum. Er hatte kurze braune Haare und einen drei-Tage-Bart, zudem er blaue Jeans und einen schwarzen Pullover trug, auf dem die Zuge der Rolling Stones prangerte. Durch seine schwarze Brille ließ er verwirrte Blicke durch die Klasse schweifen und stockte, als er bei mir angelangt war. Als er mit hochgezogener Augenbraue einen Schritt auf mich zumachte schoss mein Puls rasent indie Höhe und mein Hals wurde trocken.
Doch dann legte sich plötzlich die Hand von Frau Paulsen auf seine Schulter und drehte ihn zu sich.
„Mach bitte weiter, Sue, ich werde kurz draußen mit Herrn Schmid sprechen.", sagte sie freundlich an mich gewand. Um keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen, widmete ich mich zügig wiederder Tafel.
Irgendwann spielten sie Maddys Lieblingslied von einer CD ab und glaubt mir, seitdem kann ich diesen Song nicht mehr hören ohne an sie, Tod oder die unterschiedlichsten Arten von Schmerz zu denken – deshalb werde ich euch auch nicht sagen, um welches Lied es sich handelt. Soetwas kann einem da ordentlich den Bezug zur bestimmert Musik und ihren Künsterln vergraulen, glaubt mir.
Dann wurde der Sarg in sein Loch hinuntergelassen und wir durften ihm nacheinander Blumen nachwerfen. Der wiederlich Gedanke, dass meine beste Freundin gegenwertig von Insekten zerfressen wird und ihrWürmer aus dem Mund kriechen, verfolgt mich bis heute. Ich hätte damals den Blüten beinahe auch meinen Mageninhalt hinterher geschickt, allerding aus anderen Gründen und zum Glück auch nur beinahe. Solche Dinge konnte ich mir nie verzeihen, nein, vielmehr müsste ich hinterhersprigen und mir meinen schwarzen Rock vom Leib reißen und die saure Brühe von dem dunkelbraunen Holz wischen, bis dies wieder blitzblank funkelt, um überhaupt in Ruhe schlafen zu können.
Es ist schon eine fiese Vorstellung, dass eine geliebte Person nun auf Ewig in aller Seelenruhe schläft und die Hinterbliebenen sich so sehr den Kopf zerschmettern und ungeahnte Reue über die belanglosesten Dinge zeigen, dass sie kein Auge zukriegen. Wie paradox.
Anschließend schippten einige von uns symbolisch etwas Erde dem Blumenmeer hinterher, doch ich war nicht unter ihnen.
Nicht, dass Maddy es nicht verdient hätte (Auf keinen Fall!), aber meine Knie hatte nachgegeben und mir war schlecht. So kauerte ich schluchzend auf einem kalten Stuhl, ließ fremde Leute mir den Rücken streicheln und die Welt an mir vorbeiziehen. Bis heute schäme ich mich dafür, meine Feigheit. Dabei ist jede Art der Schwäche ein Zeichenfür Menschlichkeit und gerade bei großen Verlusten, wie Maddys Tod für mich, ist es essentiell sich diese zu bewahren. Nicht jeder schafft das – glaubt mir, ich habe Leute gesehen, die daran zu Grunde gegangen sind.
Tod ist immer schmerzhaft, auch wenn jemand ein glückliches, langes Leben voller Gesundheit führen konnte, so bleibt das Ende trotzdem traurig. Die Menschen wirken nur noch mehr erschüttert, wenn das Ende plötzlich eintritt, gewaltsam oder „zu früh", allerdings frage ich mich ob es überhaut eine gute Zeit zum sterben gibt.
Ohne lange zu zögern trat ich von der gefüllten Tafel weg und schnappte mir den immer noch nassen Tafelschwamm und wischte die schmerzenden Erkenntnisse zusammen mit den tiefgründigen Fragen von dem Dunkelgrün.
Weiße Schrift auf grünem Hintergrund – wie tiefsinnig.
Inzwischen hegte ich kein Unbehagen mehr und auch die anfängliche Furcht übereine angemessene Ausdrucksweise war mir nun herzlich egal. Langsam kam die Erwartung in mir auf, dass die Klasse wieder auf meine Worte reagieren würde, doch man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können. Mit einem schnellen Blick über die Schulter bestetigte sich meine Vermutung, dass die ungeteilte Aufmerksamkeitauf mir lag.
Also einfach weiterschreiben. Ich wartete nicht einmal bis die Feuchtigkeit verdunstet war, sondern schrieb unbeirrt weiter.
Demnach müsste doch jeder Toter entweder zu gesund, jung, fröhlich, geliebtoder sonstwas sein. In einem Punkt bin ich mir jedenfalls sicher: Maddy hatte alle Gründe nicht zu sterben und tat es trotzdem.
Später sollte mir einmal klar werden, dass sterben keine willentliche Entscheidung ist.
Nichts, was wir bewusst machen können, sondern etwas höheres.
Ich weiß, dass sich Menschen schon nahezu ewig mit diesem Sachverhalt abquelen. Bei den einen ist es Gott, beim nächsten Schicksal und der Dritte glaubt an eine innere Macht – von den Verschwöhrungstheoretikern gar nicht erst zu sprechen – glaubt jeder an irgendetwas, um das Unerklärliche zu verstehen.Wahrscheinlich ist das eine weitere Macke, die uns menschlich macht, die Frage nach dem Schicksal und dem Sinn des Lebens.
An dem Tag von Maddys Beerdigung hatte mein Leben dieses Etwas auf jeden Fall verloren.
Da war nur noch Leere, überall.
Ein trostloses Gefühl, ein trauriger Gedanke, ein trister Haufen Erde, eine schwarze Trauergemeinschaft – alles zusammen ergab einen durch und durch düsteren Tag, welcher einer der schlimmsten meines Lebens sein sollte.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit verging bis sich die Gesellschaft zum Beerdigungskaffee aufmachte.
Im Übrigen betrachte ich es als grausame Tat und verstehe den Sinn dahinter nicht, wie man Menschen erst durch die absolute Hölle und Trauer leiten kann, um sie anschließend mit Leckreien zu „beglücken".
Beim zweiten Mal sollte es keinen Kaffee geben, dafür sorgte ich und wurde respektiert, aber dazu später mehr.
Aus einem unergründlichen Antrieb schaffte ich es mühsam winzige Brocken hinunterzuwürgen und nicht zu erbrechen.
Wunder geschehen.
Wahrscheinlich verdanke ich es meinen Eltern, dass ich die ganze Veranstaltung halbwegs mit Fassung tragen konnte und bis zum bitteren Ende durchhielt. Ich erinnere mich, dass die gut einhundert Gäste an langen Tafeln in einem nahegelegenen Restaurante saßen, sich über Mitleid, Trauer, Gott und die Welt unterhielten, sowie beschwehrten.
Zum Nörgeln hatte ich zu dem Zeitpunkt schon keine Kraft mehr, sehnte mich nach meinem Bett und den guten alten Zeiten.
Im Rückspiegel sieht die Vergangenheit oft so schön aus, ihr solltet das zu genießen und schätzen lernen. Aber ich warne euch: Hütet euch beim Blick zurück vor Selbstmitleid. Trauer ist ein starkes Gefühl, lasst euch nicht davon verleiten, denn man verfällt ihr schnell.
Um ehrlich zu sein kann ich mich an keins der Gespräche, welche dreihundersechzig Grad um mich herum geführt wurden, erinnern. Ich saß einfach nur da, starrte auf die weiße Tischedecke, während ich mich weit weg an einen fernen Ort wünschte. Heute kenne ich das Gefühl deplaziet zu sein besser, aber damals war es neu für mich.
Natürlich erscheint das Lernen auf einer Beerdigung einem als seltsam, das ist eine Tatsache, aber ich habe in vielen unpassenden Situationen zahlreiche Dinge gelernt.
An Maddys Beerdigung lernte ich, wie trostlos und von mir verhasst die Frabe schwarz ist, wie ein bestimmtes Lied einem binnen weniger Sekunden die Laune gehörig versauen kann, wie ein Bild bereits vergessene Erinnerungen zum Vorschein bringen kann, wie ein einziger Mensch nach oder gerade durch seinen Tod eine Masse bewegen kann und wie eklig Kuchen wird, serviert man ihn im falschen Moment.
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