Die Tragödie I.III

Zwei Monate später starb Maddy.

Irgendwie wurde an dem Tag meine Welt dunkel. Es war wie ein Schlag in die Magengrube, welchen man vollends zu spüren bekam, obwohl man vorher Zeit zum Ausweichen gehabt hätte.

Doch ich war bei Maddy geblieben und vielleicht war unsere ohnehin schon familäre Verbindung noch tiefer geworden.

So auch der Schmerz, als ich sie verlor.

Ich war nicht dabei gewesen. Man hatte nur ihre Mutter mitten in der Nacht angerufen, als die Ärzte bemerkten, dass es zu Ende ging.

Keine Auhnung, ob ein Mensch noch fester als tief schlafen kann, aber Maddy tat es in dieser Nacht.

Ihre Mutter war keine halbe Stunde dort gewesen, so hatte sie es meiner Familie unter Tränen erzählt, dann war es auch schon vorbei.

So friedlich.

Schon den ganzen Vortag hatte Maddy fast nur geschlafen und war unfähig gewesen uns an ihren Gedanken teilhaben zu lassen, wie die gesammte Woche. Ihr Tod war absehbar gewesen.

Wisst ihr, wie sehr es einem das Herz bricht, wenn man zusehen kann, wie ein geliebter Mensch von Tag zu Tag stetig abbaut?

Bestimmt nicht.

Der Anblick, das Wissen lässt ein Herz zerbrechen als wäre es Glas.

Doch dann war alles auf einmal vorbei; so plötzlich wie es begonnen hatte.

Die Pausenglocke klingelte und die gesammte Klasse schreckte hoch.

„Darf Sue in der Pause noch weiterschreiben, Frau Paulsen?", fragte ein brauner Lockenkopf aus der ersten Reihe.

„Natürlich.", antwortete diese in einem Ton, der allen zu verstehen gab, dass meine Erzählung sie nicht unberüht ließ.

Kurz wanderte ich mit meinen Augen durch den Raum. Fast alle Augen waren feucht, hier und da lagen Taschentücher zerknüllt auf den Tischen. Mancheiner zerpulte sich die Lippe, mancheine kratzte nervös den Lack von den Fingernägeln.

„Sue, würdest du für uns weiterschreiben?", fragte die sanfte Stimme der Nieserin, die neben dem Mittelgang saß.

Verstehend nickte ich und wendete mich wieder der Tafel zu.

Die ganze Aktion verlief anders als erwartet und war sowohl schwer, als auch erleichternd.

Auf eine seltsame Weise schien das Erzählen mir zu helfen – zumindest soweit, dass ich weiter schreiben konnte.

Ich hasse Sonntage.

Ich hasse Mittwoche.

Alles bagann an einem Mittwoch, Maddy starb an einem Mittwoch, an dem Sonntag danach wurde sie beerdigt.

Ich hasse Sonntage.

Ich hasse Mittwoche.

Aber vor allen hasse ich die Farbe schwarz, da ich sie zu oft in den falschen Zusammenhängen gesehen habe.

Bei Maddys Beerdigung trugen alle, einschließlich mir, schwarz. Eine hoffnungslose Farbe für ein hoffnugsloses Event an einem hoffnugslosen Tag. Alles passte wie die Faust aufs Auge.

Schlimm.

Mir wird schlecht, wenn ich mich daran erinnere.

Noch nie zuvor hatte ich einen Sarg 'live' gesehen und schon gar keinen, der mit meiner besten Freundin befüllt war.

Ein Grauen.

Jeder, sogar die fremde Verwandschaft, die soweit weg wohnte und so wenig verwand war, dass man sie nie zu Feierlichkeiten einlud und eigentlich nicht kannte, war angereist und heulte wie ein Schlosshund.

Zurecht.

Grausamkeit verdient Tränen. Grausamkeit braucht Tränen.

Maddys Tod war und ist eine Grausamkeit.

Erstmals erntönte ein lautes Schluchzen hinter mir. Durch eien kleinenSchreck fuhr ich zusammen, denn mir war bis dato nicht bewusst gewesen, welche Auswirkungen meine Geschichte auf gleichaltrige und ungeschulte Menschen haben musste. Schließlich waren die Leute in diesem Raum normale Schüler, keine Therapeuten, Psychologen, Seelsorger oder Pflegekräfte.

Unsicher drehte ich mich zur Klasse und suchte gespannt nach der Herkunft des Schluchzers.

Zwei Plätze hinter dem Lockenkopf in der letzten Reihe fand ich sie eindlich. Ein Mädchen meines Alters, glasige Augen und ein nasses, vom verlaufenen Augen-Make-up teils schwarz gefärbtes Gesicht. Ihre wilden, pechschwarzen Haare schienen in alle Richtungen abzustehen, was sehr fröhlich wirkte, aber einen Gegensatz zu ihrer Mimik bildete.

Ich fühlt etwas ungewöhnliches, Mitleid.

Doch diesemal war es nicht das gewöhnte Bedauern meiner selbst, sonderndem Mädchen gewitmet.

Mit einem unbehaglichen Gefühl warf ich Frau Paulsen einen hilfesuchenden Blick zu, aber sie nickte mir nur zu.

Was meinte sie nur?

Da war es wieder, das Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Wie ich es hasste!

Wie es mir Angst einjagte!

Nach einem tiefen Atemzug fasste ich mich wieder, legte das sich stetig verkleinernde Kreidestück auf dem Leherpult ab und schlängelte mich durch die Reihen zu der Schluchzerin.

Ich konnte nicht gut mit Menschen, nie.

Durch ein Wunder hatte ich damals eine beste Freundin gefunden und meine Eltern dazu gebracht mich zu lieben, aber das ist als Säugling mit übergroßen Augen wohl nicht so schwer.

Angespannt blieb ich vor ihr stehen und das Mädchen vom Nachbarplatz lehte sich zurück auf ihren Stuhl, von dem aus sie die Schluchzerin bis eben noch getrößtet hatte. Vermutlich waren die Beiden befreundet.

Zögerlich beugte ich mich zu dem Mädchen runter, welche mich ansah als wäre ich ihr Idol oder irgendeine Berühmtheit, die unerwarteter Weise seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Nur die Tränen passten nicht ins Bild, überhaupt nicht, weil es keine Freudentränen waren, sondern von purem Entsetzen, Angst und Trauer zeugten.

Behutsam legte ich ihr meine Hand auf das rechte Knie, sobald ich mich vollends vor sie gehockt hatte.

Sie starrte mich an und ich konnte nicht zwischen Angst und Freude differenzieren.

Dann wendete sie sich ab, kramte aus ihrem knallig pinken Etuie einen Bleistift hervor und reichte ihn mir zusammen mit dem Schreibblock von ihrem Tisch.

„I-Ich heiße-e a-auch M...M...Mad-ddy.", brachte sie stockend hervor.

Mein Kopf ratterte und erst jetzt fiel mir auf, dass immer, wenn ich mich umgedreht hatte, neugieriege Blicke der Mitschüler zu ihr gehuscht waren.

Wie lautet dein voller Name? Maddy ist doch ein Spitzname, richtg?

Sie nickte.

„J-Ja, ei-eigentlich h-heiße ich M-madison, aber s-so nennt mi-ich k-keiner, w-weil d-das besch-scheuert k-klingt.", strotterte sie mir entgegen und zwang sich ein gequältes Lächeln ab.

Stimmt wohl, schrieb ich auf den Zettel und erwiederte ihr Lächeln.

Tut mir Leid, ergänzte ich dann noch.

Wenn du möchtest, dann kann ich erstmal eine Pause einlegen. Du bist hier nicht die Einzige, der alles ein bisschen zu schnell geht und zu viel wird.

„Nein!", wiedersprach Madison mit fester Stimme.

„I-ich m-meine b-bitte schreib w-weiter. S-sonst lässt s-sich die Spannung kaum a-aushalten."

Doch ich schüttelte den Kopf.

Andere zu verletzen war das Letzte, was ich wollte und dabei waren mir sämtliche fremde Meinungen komplett egal.

Freude erreichte mich nur schwer, doch Trauer und Schmerz jeder Art fand auf eine wundersame Weise von der negativen Art immer einen Draht zu mir.

Dann verkoch ich mich, begann meine Außenwelt außzugrenzen, beschränkte meine Kontakte auf ein Minimum und wurde noch stiller.

Zugegeben aus eine immerzu schweigende Person, die nicht in einem Schweigekloster einsaß oder ihre Stimme verloren hatte, war es auf den ersten Blick komliziert in der 'richtigen Welt' zu leben. Allerdings erleichterte mir dieses Leben – wenn ich so wollte – noch stiller zu werden und mich nicht zu verlieren.

So hatte es sich schon des Öfteren begeben, dass ich mich komplett isolierte und besorgte Pfleger mich täglich zum Seelenklempner zerrten, da man mich einfach nicht verstand oder verstehen wollte.

Aber ich darf ihr Verhalten nicht verurteilen. Generell sollte man nie über seine Mitmenschen urteilen, was zugegeben ziemlich schwer ist, aber eine Notwendigkeit für ein respektvolles Miteinander darstellt.

Zum Zweiten retteten sie mir so einmal wohl das Leben, obwohl ich mich kaum daran erinnere und diesen Schmerz bis heute zu verdrängen versuche. Manche Fehltritte gehören vergessen.

Manche Fehltritte müssen vergessen werden.

In meinem Fall gilt Letzteres, da alles in einer Zeit spielte wo ich mehr als nur Liebe und Menschen verloren hatte, sondern auch mich selbst.

Kopfschüttelnd griff ich erneut nach Madisons Schreibzeug, welches ich bereits auf dem Tisch abgelegt hatte.

Weißt du, dass das Leben manchmal scheiße ist?

Verwirrt schaute sie mir in die Augen.

Weißt du auch, dass verdammte Wunder geschehen?

Jetzt nickte sie mir zögerlich zu.

Zufälle sind in diesem Punkt wie Wunder – sie geschen unaufhaltsam. Nur sind sie mal gut und willkommen oder sie sind so richtig mies und machen dir das Leben schwer.

Madison nickte energischer.

Aber Zufälle sind nicht wie Wunder, denn über Wunder können wir nicht entscheiden, aber über Zufälle schon. Es liegt an uns, ob sie gut oder schlecht sind, willkommen oder gehasst, lang erseht oder eine plötzliche Eingebung – lass dich nicht runterziehen.

Das hier ist dein Zufall, also liegt die Entscheidung an dir, was füre in Zufall das hier ist.

Ermutigend lächelnd stand ich auf und ging wieder nach vorne.

Hatte ich das Richtige getan?

Hoffentlich, denn Madison war zwar immer noch am Lesen, doch zeichnte sich ein zaghaftes Lächeln auf ihre Lippe und als sie ihren Kopf wieder hob strahlte sie mir eintgegen.

Ihr Zufall und sie hatte sich von dem schmerzenden Leid umentschieden zu neuen Chancen, die mit Zuversicht gefüllt waren.

Ich liebte diese Leute irgendwie, Optimisten. Natürlich schafften manche von ihnen es mir stets mit deutlich zu viel Lebensfreude gegenüberzustehen und hatten mir schon so manchen Nerv geraubt, aber insgesammt bewunderte ich sie.

Zuversicht, Hoffnung, Lebensfreude – drei Dinge, an denen es mir mangelte und die ich zeitweilig komplett aus mir verbannt hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top