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Ich wusste nicht mehr was ich tat. Mein Kopf schrie förmlich danach es nicht zu tun. Mein Verstand versuchte mich zu überreden vernünftig zu denken, doch mein Wille dominierte. Er pflichtete mir bei es nicht zu tun, denn so war es besser und das nicht nur für mich, es war ebenfalls besser für alle, die etwas mit mir zu tun haben würden.

Mit diesen Gedanken unterdrückte ich die Vernunft und rannte los. Ich zählte meine Schritte, denn insgesamt trennten mich lediglich 12 von der eisigen Unbarmherzigkeit des freien Falls. 10 Schritte noch. Eine Angst machte sich in mir breit. Eine Angst, die man nicht unterdrücken konnte. Zwei Schritte weniger und zu der Angst gesellte sich eine nervenzehrende Nervosität, die sich mit der Angst vermischte. Dies führte dazu, das mir übel wurde. So langsam machte sich Panik in breit, noch 4 Schritte. Ein Gedanke kam mir; es ist bereits zu spät zum Anhalten oder zum Umkehren. Mein Schicksal stand fest, ich musste springen. Ich hatte keine andere Wahl mehr, nicht mehr wie vor ca. 2 Minuten. Ich hätte einfach zurückgehen können, als ich die Wahl dazu noch gehabt hatte. Doch wenn ich zurückgegangen wäre, wäre ich nach wie vor der kleine schüchterne Nerd geblieben. Jedoch hatte ich mich dazu entschieden mein Leben zu ändern und nun erkannte ich meinen schwerwiegenden Fehler. Erkannte, dass ich nicht hätte versuchen sollen mein Leben zu ändern. Ich hätte es hinnehmen sollen von niemanden gemocht zu werden.

Bilder von meinen Eltern stiegen in meinen Gedanken auf. Wie mein Vater immer kränker und kränker wurde und meine Mutter, die weinend auf dem Bett saß, während mein Vater bei Untersuchungen war oder neue Medikamente holte. Wie meine zärtliche und empfindliche Mutter jeden Tag versuchte unserer kleinen Familie Mut zu machen. Wie sie versuchte für uns alle stark zu sein. Wie sie sich immer vor uns stellte und auch wie sie mir sagte, dass alles wieder in Ordnung kommen würde und, dass ich nur daran glauben musste. Ich habe ihr diese Vorstellung nie abgenommen. Ich habe meine Mutter geliebt und ich liebe sie immer noch, aber ich konnte mir diese Art und Weise zu leben nie ausmalen, konnte mir nie begreiflich machen, wie es sein soll in einer perfekten Welt zu leben.

Die meisten Leute, die sich gezwungener Maßen mit mir abgeben müssen denken, dass ich ein Freak bin. Es stimmt und das gebe ich auch offen und ehrlich zu. Für sie bin ich entweder der Freak oder der Nerd. Für sie alle ist das die einfachste Erklärung für mein Verhalten, sie alle versuchen gar nicht erst mein Verhalten zu verstehen oder gar zu akzeptieren. Das verlange ich auch gar nicht von ihnen. Ich finde es nur schade, dass die Menschen versuchen sich die Welt schön zu reden. Und dennoch verstehe ich ihr Verhalten, verstehe das sie gewisse Dinge nicht verstehen können, weil ihnen die Erfahrungen fehlen. Verstehe, dass ihnen der Grund fehlt die Dinge zu hinterfragen. Allerdings bin ich auch der Meinung sie umzustimmen, aber dazu müsste ich zuerst ihr Vertrauen gewinnen und das konnte mir nur gelingen, indem ich Teile meines Lebens preisgab. Doch war es das wirklich wert? Würde es sich lohnen alles wieder auszusprechen nur damit ein paar Jugendliche sahen, dass die Welt nicht nur aus Abenden an Lagerfeuern bestanden?

Ich bin bereits zu weit gegangen um jetzt einfach aufzugeben und genau aus diesem Grund rannte ich auf das nichts zu. Ich würde von einer Klippe springen. Sehr oft hatte ich Jugendliche dabei beobachtet, wie sie genauso wie ich Anlauf nahmen und dann mehr oder weniger den freien Fall genossen. Mit einem letzten kräftigen Schritt trat ich auf den Felsen und sprang mit der Bewegung des anderen ab. Täte ich das nicht, würde mein Körper gegen den gleichen Felsen prallen, von dem ich gerade sprang.

Als ich bemerkte, dass mein Körper sich nun in der Luft befand, hoffte ich, dass der Absprung kräftig genug war, damit ich gleich unversehrt in dem klaren Wasser ankam.

Lauter Jubel ertönte, als nun für alle klar war, dass ich mich in der Luft befand. Ich wusste nicht wieso, doch ich musste lächeln. Es war ein Gefühl der Geborgenheit und der Anerkennung. Es war ein Gefühl, dass ich schon eine sehr lange nicht mehr verspürt habe. Es war schön wieder etwas zu haben, dass diese Gefühle auslöst. Damals als ich kleiner war gab mir meine Mutter immer das Gefühl der Anerkennung und auch der Geborgenheit, doch dann konnte sie es nicht mehr. Sie musste für meinen Vater kämpfen, bis sie daran zerbrach und das langsam und schwerfällig.

Allerdings zwang ich mich genau daran nicht zu denken, ich durfte diese wundervollen Momente nicht in Traurigkeit tränken, dazu hatte ich kein Recht. Ich hatte kein Recht dazu, diese einzigartigen Augenblicke durch meine Gedanken zu verunreinigen. Hatte kein Recht dazu, mögliche Fehler an ihren Charakter zu suchen. Ich durfte es nicht und ich konnte es auf eine bestimmte Art und Weise gar nicht. Jeden Augenblick habe ich genossen, seitdem ich bemerkt habe, dass mein Vater schwer krank war und meine Mutter dadurch ebenfalls unterging.

Die scharfe, schwüle Luft, die an meinem Körper vorbei glitt rief mich zurück in die Realität. Ich lächelte immer noch, allerdings änderte sich das zu einem schiefen Grinsen und wenige Augenblicke später zu einem ebenso schiefen Freudenschrei. Schon immer habe ich das Risiko und auch die Geschwindigkeit geliebt, doch ich habe es aufgegeben. Ich hatte den Zwang mich meinen Eltern voll und ganz zu verschreiben. Ich musste es nicht, doch ich wollte es. Denn ich wusste schon früher, dass ich bald allein sein würde und wenn das schon der Fall sein würde, wollte ich die Zeit genutzt haben. Ich wollte mich auf meine ganz eigene Weise von meinen Eltern verabschieden.

Die meisten Jugendlichen in meinem Alter sind ständig von ihren Eltern genervt. Sie regen sich über ihre Erziehungsmaßnahmen auf. Stellen sie so hin, als wären sie die schlechtesten Menschen auf der ganzen Welt. Sie rennen zu ihren Freunden und beschweren sich ununterbrochen, oder sind auf Mitleid aus, weil die Eltern ihr Kind anscheinend zu schlecht behandeln. All diese Kinder werden irgendwann verstehen, dass sie die Zeit hätten nutzen sollen. Sie werden die Vorgehensweise ihrer Eltern verstehen.

Rein aus Instinkt bewegten sich meine wild ruderten Arme blitzschnell an meinen Oberkörper. Aber nicht an meine Seite, denn das ist nicht korrekt. Die meisten Menschen denken sie würden es richtig machen und dennoch verspüren sie Schmerzen. Wenn man allerdings seine Arme überkreuzt an seinen Oberkörper presst, sieht die ganze Sache schon wieder komplett anders aus. Nicht umsonst sollte man bei Rutschen ab einem gewissen Neigungswinkel diese Position einnehmen. Warum also sollte man sie nicht auch bei einem Sprung von einer Klippe anwenden?

Die gewaltige Wucht des Wassers traf meinen Körper. Doch mit dem Aufprall kam keinerlei Schmerz. Das kalte Nass umringt mich. Meine Beine, meinen Oberkörper alles wurde umhüllt. Ich spürte wie mein Mund sich schlagartig mit Wasser füllte. Panik stieg in mir auf, aber nicht nur, weil ich keine Luft mehr bekam, sondern weil ich das wichtigste vergessen hatte. Ich hatte vergessen mich darauf vorzubereiten. Ich hatte den Fehler begangen in den Sommerferien bei einer Außentemperatur von etwa 35°C in einen See mit der eventuellen Wassertemperatur von 21° zu springen.

Ich hätte wissen müssen, dass mein Körper mit einer Wahrscheinlichkeit von 85% einen Schock durchlaufen würde. Mir war für wenige Sekunden nicht bewusst, dass mein Körper sich in solch einen Zustand versetzen würde, wenn er auf eine solch niedrige Temperatur treffen würde. Aber genau das war nun der Fall. Akutes Kreislaufversagen mit ungenügender Sauerstoffversorgung lebenswichtiger Organe, das ist die offizielle und einfachste Erklärung, die man im Internet finden kann.

Die Synkope ist in der Medizin definiert als vorübergehender, selbst endender Bewusstseinsverlust infolge einer kurzzeitigen Minderversorgung des Gehirns mit Blut. Etwa 40 % aller Menschen erleiden in ihrem Leben zumindest einmal eine Synkope. Bis zu 50 % der Patienten ändern ihre Lebensgewohnheiten aus Angst vor erneuten Situationen. In bis zu 20 % gehen Kollapse mit Verletzungen einher. Und bis zu 20 % der Patienten versterben im Verlauf eines Jahres nach einer kardialen Synkope am plötzlichen Herztod. Wer dabei ist, zu ertrinken, hat in der Regel keine Kraft mehr, die Arme hochzureißen und zu winken. Eher wird er versuchen, die Arme flach auf dem Wasser zu bewegen, um ein Untergehen zu verhindern. Im Versuch, den Kopf über Wasser zu halten beziehungsweise wiederaufzutauchen, wird er die Momente über Wasser benötigen, um Luft zu holen. Für Hilfeschreie reicht die Luft dann oft nicht. Der Ertrinkende nimmt zudem keine schwimm ähnliche Position ein, sondern wird sich eher aufrecht im Wasser befinden. Wird der Betroffene bewusstlos, treibt er leblos auf oder unter dem Wasser.

Ich merkte, dass mir schlagartig schwarz vor den Augen wurde. Hätte ich gestanden würde ich vermutlich anfangen zu taumeln, doch unter Wasser fing es nur an zu kribbeln. An den Händen, an meinem Hals, einfach überall. Aber am stärksten konnte ich die Kopfschmerzen wahrnehmen. Schon als ich klein war, hatte ich einen sehr niedrigen Blutdruck. Meine Mutter und ich waren deswegen sogar beim Arzt. Ich hatte tagelang mit ihr diskutiert, dass es nichts bringen würde, dass er nur das sagen würde was wir eigentlich schon wussten. Aber meine Mutter war zuversichtlich, wie immer. Ihr ganzes Leben hatte sie an das gute geglaubt. Jedem Menschen gab sie immer wieder eine Chance. Sie war so unglaublich sensibel und dennoch die stärkste Frau, die ich in meinem verkümmerten Leben getroffen habe. Ich konnte mich noch daran erinnern, wie wir im Auto saßen und ich ihr sagte, dass ich Recht hatte. Ich verstand erst Jahre danach, was genau sie mir mit dem nächsten Satz sagen wollte. Sie meinte damals, dass ich immer Recht haben würde, wenn ich es wollte.

Fakt ist, dass ich mein ganzes Leben Zeit hatte mich an diese kurzen Blackouts zu gewöhnen. Vielleicht ist das ein Vorteil. Vielleicht wird die Spanne der Synkope dadurch kürzer, oder ich habe eine geringe Chance, dass ich noch weiß was um mich herum geschieht. Mir ist bewusst, dass das ganze hier tödlich ausgehen könnte und, dass es sogar sehr wahrscheinlich ist. Ich konnte nur hoffen, dass ich das alles halbwegs kontrollieren kann. Könnte ich es nicht würde ich weiter sinken, hinein in den süßen Ruf des Todes.

Es reichte ein blinzeln und schon war ich weg.

Dadurch, dass es ein sonniger Tag war, war der See recht klar. Ich hatte früher gelesen, dass dieser See wohl nur 5 Meter tief sein soll. Es war ein so unglaublich wundervoller Ort. Die Sonne durchbrach das Wasser. Man sah Konturen der Steine, die am Boden lagen. Sah man genau hin, konnte man sogar erkennen, dass der See kein normales Ufer hatte. Es ist so, dass das Wasser noch ungefähr einen Meter weiter in die Erde hinein geht. Die Erde um den See war sozusagen etwas ausgehöhlt. Man hatte vor ein paar Jahren eine kleine Stelle entdeckt in der man aus dem See herausklettern konnte, die Steine an der Stelle sind meines Wissens nach mit der Zeit etwas verrutscht. Die Menschen in dem See konnten also auf die Steine treten und hinaussteigen. Ich konnte demzufolge hoffen, dass jemand einen Blick auf den See tat. Denn ich dürfte noch in dem sichtbaren Bereich sein. Hoffte ich.

Ich sah meine Eltern, die lachend über eine Wiese rannten. Sie beide sahen so aus, als hätten sie vergessen, dass sie Probleme haben. Schon seit Jahren hatte ich es nicht mehr gewagt an diesen Moment zu denken. Es war in den Sommerferien. Wir waren in unseren Garten und mein Vater kam zu mir und meinte, dass es Zeit wäre meine Mutter etwas zu ärgern. Ich fing an zu grinsen. Ich wusste, dass er genau deswegen lachte. Ich fand es damals lustig, wie er dastand mit seinem Strohhut, der schon etwas nassen Hose und unserem Gartenschlauch. Wie er mir lächelnd einen Eimer mit Wasser gab. Wir hatten uns gemeinsam an meine Mutter herangeschlichen, ich weiß bis heute nicht, ob sie geschlafen hat, aber das war uns beiden in dem Moment egal. Als wir bei ihr waren nickte mein Vater mir zu und ich fing an den Eimer über ihren Kopf zu heben und ihn langsam zu senken. Ich kann nicht mehr sagen warum, aber ich fing an zu lachen und so kippte ich den ganzen Eimer über sie. Als sie quiekte trat ich zurück und mein Vater fing an immer wieder etwas Wasser auf sie zu spritzen. In diesem Moment sah mein Vater so aus, als wäre er nicht krank. Als wüsste er nicht, dass er in ein paar Jahren sterben würde. Mir tat meine Mutter etwas leid, sie sah mich zuerst wütend an, bis sie grinste und aufsprang um meinen Vater den Wasserschlauch wegzunehmen. Alle wussten, dass sie es nicht schaffen würde, doch sie versuchte es. Meine Mutter war eine Kämpferin und eine miserable Verliererin. Ich liebe diesen Tag bis heute. Aber nicht nur, weil es für einen kurzen Moment so war, als wäre alles in Ordnung, sondern weil ich sah, dass meine Mutter niemals aufgeben würde egal was passieren würde. Durch diesen Gedanken gewann ich Kraft. Ich erinnere mich immer an diesen Zeitpunkt, wenn ich Kämpfen muss. Dieser Gedanke lässt mich nicht aufgeben, er lässt mich unbesiegbar werden. 

Es reicht ein blinzeln um das Bewusstsein zu verlieren, aber ebenso reichte ein Wimpernschlag um wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen.

Wie viel Zeit war wohl schon vergangen? Wie tief war ich wohl schon gesunken? Ob die anderen sich schon wunderten, weshalb ich so lange unter Wasser blieb? Jedoch gab es da noch eine weitere Frage, die mir im Kopf herumschwirrte. Würde ich das hier überleben? Ich wollte nicht sterben, jetzt noch nicht. Ich wünschte mir wenigstens den nächsten Tag noch zu erleben. Ich wollte nicht ertrinken, weder heute noch morgen. Laut den Regeln der Wasserwacht, sollte man in einem Bad immer warten, bis derjenige bewusstlos ist. Natürlich sollte man nicht untätig daneben stehen, aber wenn die Person anfängt zu sinken rieten die meisten sich zwar zu beeilen, doch auch vorsichtig zu sein. Denn das Wohlergehen des eigenen stand über dem des Betroffenen. Nun ist die Frage, ob die ganzen Jugendlichen da draußen die Vorgehensweise kannten. Wenn ich schätzen müsste verweilen ungefähr 20 Jugendliche auf der Wiese, die neben dem See liegt. Das würde heißen, dass mindestens einer davon ein Rettungsschwimmer sein dürfte.

Ich empfand ein Gefühl von Glück, doch ich konnte es nicht zulassen. Ich hätte lächeln können, doch ich konnte es nicht. Hier unten war es so friedlich und ruhig. Man hatte das Gefühl als würde man schweben. Würde man alles andere ausblenden, wäre es sogar ein Gefühl der Geborgenheit. Man könnte sich in der eigentlichen kalten Letalität verlieren.

Ich versuchte die Kontrolle über meinen Körper wiederzugewinnen, doch es gelang mir nicht ganz. Es ist als würde mich etwas festhalten. Qualvoll tat ich ein paar Schwimmzüge. Ich versuchte mich zu zwingen weiterzumachen. Doch mit der Zeit ging mir der Sauerstoff in meiner Lunge aus und mit jeder verstreichenden Sekunde wurde ich müder und müder. Immer mehr wollte ich nachgeben. Ich versuchte mich an jeden glücklichen Moment in den ganzen 16 Jahren zu erinnern. Ich versuchte mich daran festzuhalten. Mit Mühe bewegte ich meine Arme, jeder Zentimeter war die reinste Hölle. Ich hob den Kopf etwas, öffnete meine Augen und versuchte einzuschätzen, wie weit es noch war. Ob es realistisch war, noch an die Wasseroberfläche zu gelangen. Es waren etwa noch 90 Zentimeter. Nur ein paar Zentimeter trennten mich von dem süßen Ruf von Sauerstoff und auch von der Sicherheit. Nur noch wenige schmerzhafte Schwimmzüge und schon wäre für einen kurzen Moment alles gut. Wichtig war jedoch der Moment. Es würden nur wenige Momente sein, in der das Gefühl von Glück und vor allem Erleichterung walten würde. Folgen würden jedoch wahrscheinlich nur Fragen.

Immer weiter zwang ich mich meine Arme zu bewegen. Mir war egal, wie sehr ich leiden müsste um zu leben. Ich wollte einfach nur raus aus diesem See. Was jedoch das wichtigste ist, dass ich es mit etwas Glück zwar an die Oberfläche schaffen könnte, aber mich wahrscheinlich nicht über Wasser halten kann. Ich konnte nicht beantworten, ob entweder gleich jemand in das Wasser gesprungen kommen würde oder vielleicht auch außerhalb des Wassers, aber dennoch in der Nähe des Wasserrandes auf mich warten würde. Natürlich wäre es erleichternd oder sogar schön, wenn jemand auf mich warten würde. Jedoch wäre es auch in Ordnung, wenn sich niemand Sorgen gemacht hätte. Es ist klar, dass der letzte Fall etwas enttäuschend wäre, aber es wäre nicht schlimm. Es wäre nicht problematisch, weil ich diesen Umgang bereits gewöhnt bin. Ich verstehe die Abneigung der anderen Menschen, die etwas mit mir zu tun haben. Ich verstehe es, wenn Menschen in meinem Umfeld kein Interesse an mir, oder meinem Charakter haben. Ich verstehe sehr viel, auch das selbst die meisten Familienmitglieder nicht viel mit mir zu tun haben wollen. All das kann ich vollkommen nachvollziehen. Man muss wissen, dass ich kein Wunschkind war, dass ich überhaupt keine einfache Kindheit hatte und das alles wegen mir stressiger wurde. Und trotz der Pläne, die ich zerstört hatte, haben mich meine Eltern immer beschützt und vor allem auch geliebt. Und dafür bin ich ihnen immer noch dankbar. Man glaubt mir immer nicht, wenn ich sage, dass es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als mit seinen Eltern etwas zu unternehmen. Viele verstehen nicht, dass es das schönste ist geliebt zu werden. Ich spreche nicht von einer ganzen Gruppe von Menschen. Nein, es reicht, wenn dir nur eine Person ihre Liebe schenkt. Es genügt, wenn dir eine Person das Gefühl vermittelt wichtig zu sein. Der menschliche Körper braucht diese eine Person. Er ist im Grunde genommen von diesem Menschen abhängig. Natürlich können jetzt alle Einzelgänger sagen, dass was ich sage nicht stimmt. Menschen sind verschieden, ja sogar einzigartig. Jeder Mensch in diesem Universum ist etwas Besonderes. Jede Person ist perfekt so wie sie ist. Es ist selbstverständlich, dass sich nicht jeder mit jedem verstehen kann. Aber für jeden unter uns gibt es Grenzen, sei es die Grenze der Angst oder der Furcht, sei es der Charakter oder die Grenze des Vertrauens. Jeder Mensch hat seine individuellen Grenzen. Im Laufe des Lebens entwickeln sich genau diese Grenzen. Sie entstehen durch Probleme in der Familie, durch schlechte Erfahrungen oder auch zum Beispiel durch Enttäuschungen. Niemand kann demzufolge abschreiten, dass der menschliche Körper von etwas abhängig ist. Es kann niemand verneinen, dass jeder etwas hat wofür er kämpft, dass jeder ein Ziel hat. Ich meine damit keine alltäglichen Ziele. Glück zum Beispiel könnte solch ein Ziel sein. Zufriedenheit, Frieden oder eine Familie an einem wundervollen Ort. Es sind meistens die einfachen Dinge die genau genommen am schwersten zum Erfüllen sind. Die meisten Probleme allerdings liegen nicht an der Konstruktion, sie liegen in dem Auge des Betrachters. Denn dieser Betrachter wird mit der Zeit lernen, die Perfektion zu lieben. Das Lebensziel soll perfekt, rein und richtig sein und genau darin liegt das Problem. Ein Lebensziel kann nicht unbedingt perfekt sein, Aber warum? Warum kann am Ende des Lebens selten etwas perfekt sein? Genau diese Frage habe ich mir eine sehr lange Zeit selbst gestellt. Bis ich eines Tages erkannt habe, dass ich die Antwort bereits wusste. Die Antwort ist das Leben selbst. Denn ich habe festgestellt, dass man womöglich das Problem haben könnte, dass man sich fragt; Was wäre, wenn? Was wäre, wenn man sich am Ende anders entschieden hätte? Selbst durch die kleinste Entscheidung könnte sich das ganze Leben von einem verändern. Aber es sind auch die Vorwürfe. Ich denke, dass man im Alter immer mehr nachdenkt und sich die Fragen stellt, die man sich selbst früher nicht beantworten konnte. Ich denke genau darin liegt das Problem. Ich denke, dass man selbst wenn man im Reinen mit sich selbst ist, immer die eigene Geschichte hinterfragt. Denn Menschen wollen doch letztendlich immer mehr oder immer das, was sie in diesem Moment nicht haben können.

Wenige Zentimeter noch und ich hätte es geschafft. Für einen Moment zumindest. Bis jemand mich sah und mich hoffentlich hier rausholen würde. Raus aus meiner persönlichen Hölle.

Ob in diesem See bereits jemand sein Leben verloren hatte? Ob am Untergrund ein Skelett auf seinen Fund wartete? Ob jemand in diesem See bereits in dieser Situation war?

Dieser Kampf erinnerte mich an einen Ausdauer Lauf in der Schule. Man hat die Strecke fast geschafft, es fehlen vielleicht noch etwa 30 Meter und man weiß, dass man sprinten müsste, weil man dadurch eventuell eine bessere Note bekommen würde, aber man kann es nicht. Es ist dieser verzweifelnde Moment, in dem man bemerkt, dass man eigentlich am Rande seiner Grenze ist. Dass man mehr gegeben hat, als man eigentlich hätte geben können.

Wärme, ich spürte Wärme. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so sehr über dieses einzige Gefühl gefreut. Ich hatte gekämpft und das war meine Belohnung, ich durfte Wärme an meinen Fingerspitzen fühlen. Mir wurde erlaubt, dass ich eventuell ein letztes Mal den Moment genießen könnte, in dem das Wasser langsam auf der Haut trocknete.

Jeder von uns Menschen hat ein Ziel. Dieses Ziel muss den Menschen noch nicht mal bewusst sein. Aber jeder von uns entwickelt in den Jahren eine Traumvorstellung. Für die meisten ist es ein Haus, eine Familie, Glück, Liebe und Gesundheit. Ich hingegen wollte seitdem Tot meiner Eltern nur eines, jemanden der mich versteht. Mein ganzes Leben habe ich nach jemanden gesucht, der mir bei all dem hilft. Dem es nicht nur um das eigene Wohlergehen geht, jemanden der einen liebt. Vielleicht habe ich mir erhofft, dass ich hier an diesen Ort genauso einen Menschen finde. Dass ich hier Freunde finde. Ich denke, ich wollte dazugehören. Mir wurde bewusst, dass ich nicht hier war, weil ich den Menschen die Augen öffnen wollte, ich war hier wegen mir selbst. Mein Wunsch war Normalität. Es war schrecklich peinigend zu wissen, dass ich es nicht erreicht hatte. Den einzigen Wunsch, den ich jemals in meinem Leben hatte. Ich würde sterben. In einem See, umgeben von Menschen. Mein Tod würde sich meinem Leben anpassen. Man könnte schon fast meinen er wäre theatralisch. In meinem Leben war es immer so, dass ich alleine stand, umgeben von Menschen, die mich nicht sahen. Sie ignorierten mich. Ich war wahrscheinlich nicht interessant genug um sich mit mir abzugeben. Genau wie jetzt. Ich würde allein sterben, denn das war es, was ich schon immer war. Es musste es musste so sein.

Ein letztes Mal holte ich Luft. Es würde der letzte Sauerstoff in meinen Lungen sein. Meine Nase ragte gerade so aus dem Wasser heraus. Aber ich hatte keine Kraft an der Wasseroberfläche zu treiben, hatte keine Kraft mehr mich in eine waagerechte Position zu bewegen. Es wäre meine Rettung gewesen und doch dachte ich daran, dass es so wahrscheinlich besser wäre. Es würde mich niemand vermissen. Mein Leben wäre endlich beendet. Es ist nicht so, dass ich unbedingt sterben wollte, aber ich wusste, dass mein Wunsch hoffnungslos war. Es war gut so, dass das Leben, dass auf mich wartete, mich verschonte.

Mit einem Lächeln im Gesicht gab ich mich der Schwerelosigkeit hin. Ich schloss meine Augen und sank, langsam und friedlich. Alles was ich spürte war Zufriedenheit, kein Schmerz in meinen Lungen, nichts außer reiner Vorfreude.

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