Kapitel 40: Nate

"Nur, weil sie nicht an ihr Handy geht, heißt das nicht, dass ihr was passiert ist. Apropos, fahr verdammt nochmal endlich an den Rand, Mann!"
Jake's energische Stimme versucht schon die ganze Zeit, sich einen Weg durch den Schleier zu bahnen, der sich über mein rationales Denken gelegt hat. In meinem gesamten Körper gibt es inzwischen nichts anderes mehr als Angst. Und das zur Überdehnung angespannte Warten, endlich etwas tun zu können.
Sobald ich ins Auto gestiegen war, habe ich es natürlich zunächst bei Farley versucht. Nur die Mailbox sprang an - eine Tatsache, die mich in dieser Spirale der zunehmenden Aussichtslosigkeit nur noch weiter nach unten befördert hat. "Like a demon I rise / From station to station." Dabei habe ich es ja gottverdammt nochmal erwartet, befürchtet. Wie ein Albtraum, aus dem man nicht aufwachen kann.
Und dann habe ich in einem Moment von logischer Klarheit Jake angerufen, zunächst nur, weil ich alle Details hören wollte, wie Farley mit Bradley weggefahren ist. Hat er sie bedroht? Laut Jake sah es nicht danach aus. Sind sie in Richtung des Flusses gefahren? Nein, zumindest nicht auf direktem Weg. Aber die Panik in meiner Stimme hat Jake sofort ahnen lassen, dass ich gerade nicht aus Eifersucht oder derartigem handle. Und so habe ich ihm ohne lange abzuwägen von den kürzlichen Ereignissen erzählt und von meiner Überzeugung, dass Bradley der Mörder ist und Farley sein nächstes Opfer.
Und wahrscheinlich habe ich mich dabei eher nach einem Verschwörungstheoretiker wie Howard als nach sonst etwas angehört. Und schon gar nicht nach besorgt auf einer vernünftigen Ebene.
Meine verkrampften Hände, von denen eine das Handy am Ohr und die andere das Lenkrad ungelenk umklammert hält, zittern wie die Blätter der Bäume am Straßenrand, die von dem Regen wieder und wieder nach unten geschmettert werden. Das schnelle Klopfen auf der Windschutzscheibe macht mich mit jeder Sekunde nervöser, obwohl das meinen Zustand nicht mal annähernd beschreiben kann.

"Hallo? Nate, bist du noch dran oder schon gegen irgendwas gefahren?"
Jetzt klingt Jake wirklich besorgt. Und überfordert. Ich hätte ihn da nicht mitreinziehen sollen. Es war mein verzweifelter Mitteilungsdrang, der mich dazu geführt hat. Die verspürte Hilflosigkeit.
"Tut mir leid", presse ich durch zusammengebissene Zähne hindurch, ohne dass mir klar wäre, wie zusammenhaltslos das für Jake klingen muss.
Ich höre sein Seufzen.
"Okay, Nate, hör mir zu. Hör mir zu! Ich werd' ja versuchen, dir zu helfen, aber du darfst jetzt nicht ausrasten. Fahr einfach an den Rand und wir finden eine Lösung. Okay? Atme tief durch."
Ich tue, was er sagt, aber es bringt nichts. Es ist, als wäre jegliche Atemluft sauer. Genau wie der fucking Regen. Endzeit, das ist es. Aber selbst in diesem Zustand sehe ich ein, dass mein Versuch, so schnell wie möglich zur Polizeistation zu fahren und gleichzeitig zu telefonieren mich möglicherweise umbringt. Ebenfalls?? Scheiße. Hilfe. Und dann gäbe es niemanden mehr, der Bradley stoppen könnte. Und Farley retten.
"Ja. Ja, mach' ich."
Also fahre ich bei der nächsten Gelegenheit rechts ran. Ich halte vor einer Apotheke, daneben ist ein beschissener Starbucks.
Meine Lippen sind so stark aufeinander gepresst, dass jegliche Farbe aus ihnen gewichen sein muss.
"Gut. Hast du angehalten?"
"Ja, verdammt."
Wieder ein Seufzer seinerseits, diesmal etwas erleichtert.
Verzweifelt fahre ich mit der Hand, die inzwischen nicht mehr um das Lenkrad verkrampft ist, über mein Gesicht. Meine Augen brennen. Schon bereue ich es angehalten zu haben. Ich muss doch etwas tun! Ich schlage mit der Handfläche gegen das Lenkrad. Das höllenhafte Klopfen des Regens ist in der Stille noch penetranter geworden. Diese plötzliche Stille, das ist das eigentlich schreckliche. In meinen Ohren surrt und klingelt es paradoxerweise außerdem geradezu.

"Okay, also, Nate - Ich weiß, dass dir das jetzt wahrscheinlich schwer fällt, aber versuch bitte mal, diese Sache von außen zu betrachten."
"Du glaubst mir nicht", stelle ich sofort bitter fest. Ich kann das nicht gebrauchen, dass er mich aufhält, wenn er nicht ernsthaft vorhat, mir zu helfen.
"Nein, nein, nein. Bitte. Ich glaube dir ja, was passiert ist. Aber versuch auch mal, es aus einem anderen Winkel zu sehen. Du musst das ganze ja nicht sofort so schwarzmalen. Vielleicht gibt es eine andere Erklärung."
"Und was für eine, bitte?!"
Jetzt schreie ich fast.
Leise höre ich Jake etwas murmeln, ohne verstehen zu können, was es ist, dann meint er:
"Glaub mir, ich hasse es, derjenige sein zu müssen, der dir das jetzt mitteilt, aber es ist doch viel wahrscheinlicher, dass zwischen den beiden wieder was läuft. Sagtest du nicht vorhin was davon, dass ihr euch gestritten habt, oder so? Da hast du's. Tut mir leid."
Ich zweifle keine Sekunde daran, dass er damit im Unrecht liegt. Auf gar keinen Fall hat Farley wieder etwas mit Bradley, diesem Wichser, angefangen. Das ist unmöglich.
"Nein, so ist es nicht, Jake, da bin ich mir sicher! Und ich habe dir doch erzählt, was mir die Psychologin gesagt hat: Es war Bradley!"
"Ja, das ist auch so 'ne Sache", erklärt er langsam, "Denn vielleicht - nur vielleicht - hast du das ein wenig überinterpretiert?"
Ein besonders großer Regentropfen knallt gegen die Scheibe und für einen Moment bricht auch etwas in meinem Inneren. Vielleicht hat Jake recht und ich bilde mir das alles ein. Vielleicht bin ich verrückt. Aber ... ich kann das nicht glauben. Möglicherweise ist es Intuition oder so etwas. Ich habe nie an so einen Kram geglaubt. Aber jetzt weiß ich doch, was ich zu tun habe. Ich weiß, was auf dem Spiel steht: Farley's Leben. Alles. Macey ist damals ermordet worden, ohne dass ich es verhindern konnte. Aber für Farley ist es nicht zu spät. Ich kann Bradley noch stoppen, sie retten.
Diese Erkenntnis - zu wissen, was man vorhat - macht mich nur einen Ticken ruhiger. Oder aufgeregter. Ich kann es nicht mal mehr auseinanderhalten.
Anstatt Jake auf jeden Fall ein rastloses "Fick dich" entgegenzubrüllen, erkläre ich ihm jetzt fast klar und deutlich, soweit das unter meiner schüttelnden Anspannung möglich ist, was ich davon halte.
"Nein, Jake, ich weiß es. Und selbst wenn es nicht so wäre, würde ich kein Risiko eingehen. Ich fahre zur Polizei und lasse gottverdammt nochmal nichts unversucht!"
Kurz sagt er nichts und ich kann vor meinem geistigen Auge direkt sehen, wie er ratlos schaut und mit zwei Fingern seine Brille dabei nach oben schiebt.
"Gut, mach das. Aber glaub mir, das wird sich alles klären", erwidert er schließlich, "Und bitte, Mann, mach einfach nichts Unüberlegtes."
Die Sorge in seiner Stimme ist unüberhörbar.
"Natürlich."
Dann lege ich auf, fahre wieder los, mit klopfendem Herzen, diesem widerlichem Rauschen in meinem Kopf, dem Gefühl, vollständig auf mich allein gestellt zu sein und dem zeitbombenartigen Wissen, dass ich in der Tat auch etwas Unüberlegtes tun würde, wenn es nur hilft, Farley da lebend rauszuholen.

"Ich muss mit dem Kommissar sprechen, der für die Morde an Macey Simmons und ..." Scheiße, wie war noch sein Vorname? Ah ja. "... Oliver Winters zuständig ist. Es ist dringend!"
Der Mann am Empfang wirft seinem Kollegen neben ihm kurz einen Blick zu, der genau dieselbe höflich kaschierte Genervtheit ausstrahlt wie dann sein Tonfall, als er wieder zu mir sieht, nachdem von dem anderen nur ein müdes und resigniertes Lächeln gekommen ist.
"Es ist nicht so einfach, mit dem Kommissar zu reden. Sie müssen wissen, dass er ein viel beschäftigter Mann ist. Vielleicht findet sich in zwei Wochen ein Termin. Wie ist denn Ihr Name und wie alt sind Sie?"
Mir war klar gewesen, dass es nicht so einfach sein würde, aber dennoch regt er mich auf. Vor Allem seine ekelhaft monotone Sprechweise, wo es doch um so etwas verfickt wichtiges geht!
Meine schweißnassen Finger krallen sich hilflos auf der glatten Holzfläche der Empfangtheke fest, als ich mich aufgewühlt weiter vorbeuge. Zeitgleich weiß ich, dass ich vernünftig wirken muss, wenn ich Erfolg haben will.
"Hören Sie, dafür habe ich keine Zeit! Es ist ein Notfall. Ich glaube nämlich, dass..."
"Wieso sind Sie dann hier und haben nicht 911 gewählt?"
Sein Blick wird mit jeder Silbe skeptischer. Sein Kollege am Computer neben ihm betrachtet währenddessen die Szenerie milde interessiert und nippt an seiner Kaffeetasse.
"Weil es nicht so einfach ist, lassen Sie mich doch ausreden!"
Atmen, ich muss atmen. Und plausibel klingen. Mit Nachdruck erkläre ich gestikulierend: "Ich glaube, der Täter hat bereits sein nächstes Opfer entführt. Ich weiß nur nicht, wo er sie hingebracht hat. Sie müssen mir helfen!"
Mir ist zum Heulen zumute. Was, wenn sie es nicht tun?
Wieder ein Wechsel von Blicken zwischen den Polizisten, dann erklärt mir der andere mit der Kaffeetasse:
"Hören Sie, das ist zwar eine vertrauliche Information, aber wenn es hilft, dass Sie sich beruhigen: Der Fall ist so gut wie dicht. Sie haben folglich nichts zu befürchten. Wenn Sie trotzdem eine Aussage machen wollen, findet sich sicher..."
"Nein, eben nicht! Sie haben den falschen, der wahre Mörder ist noch..."
"Was ist hier los?"

Oh nein. Nein, nein, nein, nein.
Die Stimme kenne ich. Und würde sie immer wiedererkennen. So viel hat er schon zerstört. Das ist das Ende. Von der Polizei ist keine Hilfe zu erwarten. Farley, es tut mir so leid. So verdammt leid. Aber in mir weiß ich, dass ich sie nicht so leicht aufgeben kann. Ich würde nicht mit dem Wissen leben können, nicht alles in meiner Macht und darüber hinaus stehende versucht zu haben. Anders als bei Macey habe ich noch eine Chance. Es tut mir immer noch so leid.
Aufgeben wäre keine Lösung. Und so stelle ich mich zitternd und festentschlossen dem, was jetzt kommt, während ich langsam echt das Gefühl habe, vor einem mentalen Zusammenbruch zu stehen. Farley darf verdammt nochmal nicht sterben!
"Ah, Officer Colby. Gut, dass Sie hier sind. Der junge Herr hier glaubt, dass der Fall Simmons und Winters noch nicht abgeschlossen sei."
Sein eigenes Unglauben ist darin erkennbar. Er will vor seinem Boss nicht als leichtgläubiger Idiot dastehen. Ein Fehler, er macht einen gewaltigen Fehler! Warum unterstützt mich niemand?! Der Kaffeetassen-Kerl schweigt auch nur wieder.
Der schattige Blick des ekelhaften Arschlochs, das Colby ist, wandert langsam in meine Richtung. Für eine Millisekunde ist dann Überraschung zu sehen, als er mich erkennt, die aber sofort in das grausame Grinsen eines Sadisten übergeht. Seine Bulldoggenwangen schwenken nach oben und irgendwie erinnert er mich an Jack Nicholson's Performance in "The Shining".
"Sieh an - Nathaniel Revely." Er lässt sich meinen Namen langsam auf der Zunge zergehen. Er hält sich für die Spinne in ihrem Netz, mich für die dumme Fliege, die nun erfreulicherweise schon zum zweiten Mal so gut wie absichtlich hineingeflogen ist. "Was für eine Überraschung. So, du denkst also schon wieder, mehr Ahnung von unserem Job zu haben? Na, ich höre mir gern an, was du zu sagen hast." Sein zynisches Lachen ist schauderhaft.
Jetzt wird auch den beiden Typen am Empfang wahrscheinlich klar, dass das ganze viel zu schnell und unabsehbar in etwas viel zu persönliches ausgeartet ist. Sie wissen, dass mein Problem sie nun nichts mehr angeht.

Colby hat sich umgedreht und steuert auf eine Treppe zu, die in ein oberes Stockwerk führt.
Er erwartet ganz klar, dass ich ihm folge, und was für eine Wahl habe ich denn? Ich folge ihm also mit ein paar Stufen Abstand nach und die Zeit kommt mir dabei endlos vor und viel zu langsam, während es sich anfühlt, als würde ich auf ein Höllenfeuer zulaufen.
Wir halten vor einer Tür zu einem Büro an, in welchem fünf Tische stehen, wie ich sehe, sobald ich eintrete. Nur einer in der hinteren linken Ecke ist besetzt und zwar von einer relativ jungen, schwarzhaarigen Polizistin. Es dauert einen Moment, bis ich mich erinnere: Sie ist wirklich diejenige, die sich damals bei den Kontrollen in der Schule auf die Seite von uns Schülern und gegen Colby gestellt hat. Und als ich vor Ewigkeiten wegen Macey verhört wurde, war sie auch dabei.
Sie sieht nur kurz auf, als wir eintreten, und ich glaube nicht, dass sie sich erinnert. Aber ihre Anwesenheit beruhigt mich etwas, denn falls diese Sache mit Colby eskalieren sollte, ist jemand da, der mich möglicherweise unterstützt. Und ich habe die ungute Vorahnung, dass es so weit kommen wird.
Colby führt mich zu dem größten der Tische, der so gestellt ist, dass man von dort aus die anderen überblicken kann und somit seine höher gestellte Position bestätigt.
Genüsslich lässt er sich mit einem unangenehmen Quietschen auf seinen abgeranzten Bürostuhl fallen und ich nehme ihm gegenüber unwohl Platz.
Er sagt erstmal kein Wort, blättert nur in irgendwelchen Unterlagen und tippt später etwas in seinen Computer. Es ist eine Folter für mich, das weiß er. Er tut es, um mich zu quälen. Es ist als würde er die Finger der Hand, durch welche unablässig die Zeit rinnt, nur noch weiter spreizen. Und er hat Erfolg mit dieser Taktik.
Ich kriege seit ich Jake's Nachricht im Aufzug gelesen habe schon zu wenig Luft. Meine Hände schwitzen. Mir ist richtig gehend übel. Meine Gesichtsmuskeln schmerzen bereits, weil ich mich so anspanne. Meine Gedanken rasen. Was, wenn Bradley Farley bereits etwas angetan hat? Was, wenn er sie foltert, verstümmelt, vergewaltigt? Ihr das Messer unzählige Male in die Brust rammt, wie er es bei Macey getan hat?
Meine Finger in den Manteltaschen malträtieren inzwischen schon die neuen Kopfhörer, aber auch das leistet mir keine Abhilfe. Jede andere Situation, in der ich je aufgebracht, wütend oder angespannt war, kommt mir jetzt so nichtig vor. So wie alles, das ich je gesagt habe, aber vor allem bei diesem elenden Streit mit Farley.
Nur müssen auf diese gedanklichen Aussagen endlich Handlungen folgen.

"Worauf warten wir eigentlich? Hören Sie sich zumindest an, was ich zu sagen habe. Sie verschwenden wertvolle Zeit!", platze ich nach wenigen Momenten hervor, die sich für mich wie mehrere Stunden angefühlt haben, vielleicht aber auch nur Sekunden waren.
"Ja, ja", winkt Colby genervt ab, fügt aber kurz darauf spöttisch an, weil er wahrscheinlich insgeheim inzwischen neugierig ist: "Na, was haben wir denn heute für ein Problem?"
Ich hole einmal tief Luft, obwohl es für meine Worte nicht genug davon geben kann. Dann sprudelt alles aus mir hervor: Dass es Bradley Johnson gewesen ist, dass ich es von seiner zu Verschwiegenheit verpflichteten Ärztin erfahren habe, welche Motive sie genannt hat, dass Howard nur ein harmloser Verrückter ist. Nach all diesen Hintergründen gehe ich zu Farley's Entführung über, dass sie in seinem Auto weggefahren wurde und sich nicht mehr meldet. Dabei versuche ich nicht nur so schnell wie möglich alles wiederzugeben, sondern auch möglichst überzeugend. Und mit viel Nachdruck. Es muss doch möglich sein, selbst ihn zu überzeugen. Schließlich gefährdet er seinen Job, wenn sich meine Aussagen zu spät als richtig herausstellen.

Aber Colby's Stirn hat sich mit so ziemlich jedem meiner Worte mehr gerunzelt. Als ich geendet habe, sieht er mich eine Weile nur so an, und zum ersten Mal kann ich seinen Blick nicht deuten. Da ist kein offenherziges Lachen oder Spott. Irgendwie sieht er aber auch nicht so aus, als würde er mich für voll nehmen. Aber vielleicht hat er die Dringlichkeit der Lage erkannt und lässt sich überzeugen?
"Was werden Sie also tun? Nach ihr fahnden, oder?"
Ich klinge wie ein naives Kind, das noch an das Gute in jedem Menschen glaubt.
Aber natürlich enttäuscht Colby jede Art von Hoffnung, die sowieso unter meiner Panik und Angst begraben liegt. Was hatte ich denn erwartet.

Er rümpft nämlich schließlich seine Nase und schimpft verächtlich, wenn auch ernster und nicht so spöttisch wie sonst, dafür viel düsterer und bedrohlicher:
"Was fällt dir ein, einfach so - ohne eine realistische Begründung - derart schwerwiegende Verdächtigungen anzustellen und meine Zeit zu vergeuden?" Er beugt sich vor und ich rieche seinen widerlichen Atem. "Ich würde dir dringend raten, deinen Hass gegen deine erfolgreicheren Mitschüler zu zügeln. Das, ja das wäre eine Bereicherung. Also dann, du weißt, wo es hinausgeht, Junge."
Er klingt richtig gehend wütend.

Natürlich kämpfe ich sofort gegen seine Anschuldigung an und versuche, ihm zu erklären, dass ich mir das ganze nicht nur ausgedacht habe, weil ich Jocks hassen und meinen ebenfalls verrückten Freund entlasten wollen würde. Aber er lässt sich nicht überreden, so sehr ich es auch versuche. Er will mich auch nicht mit einem anderen seiner Kollegen sprechen lassen. Mein Reden wird immer erhitzter und aufgebrachter.
Das Klackern der Computertasten im Hintergrund hat schon lange aufgehört, aber einmischen will sich die junge Polizistin dieses Mal anscheinend nicht und als ich einmal hilfesuchend zu ihr schaue, weicht sie schnell meinem Blick aus. Und als Colby dann nach einer Weile zu seinem Telefon greift, wahrscheinlich um mich herausbefördern zu lassen, drängt sich die Erkenntnis zu mir durch, dass mir hier wirklich niemand helfen wird. Aber wenn es die Polizei nicht tut, wer, bitte wer, wird es denn dann? Ich kann nichts tun.

Ich wehre mich nicht, als ich schließlich von zwei anderen Polizisten flankiert aus dem Gebäude gebracht werde. Ich schreie auch nicht mehr, wozu es in der Diskussion mit Colby in der Tat noch gekommen ist. Aber ich habe es glücklicherweise vermieden, ihn zu beleidigen, denn sonst hätte man mich vielleicht nicht einfach so gehen lassen. Und schließlich hängt es an mir alleine, jetzt irgendetwas zu tun. Aber ich schwöre, sollte Farley etwas zustoßen oder bereits zugestoßen sein, dann werde ich eigenhändig dafür sorgen, dass Colby, dieses gottverdammte Arschloch, dafür büßen wird, genauso wie Bradley. Alleine seinen Namen zu denken löst eine Welle des Hasses in mir aus.
Inzwischen fühle ich mich jedoch eher taub. Und fast müde. Jede Faser meines Körpers schmerzt vor Anspannung, meine Kehle tut weh und Atmen ist sowieso keine Selbstverständlichkeit mehr. Die verspürte Taubheit in diesem Moment ist wahrscheinlich ein nächstes Stadium meiner Verzweiflung, die immer noch brodelt. Was soll ich tun? Was soll ich tun? Was soll ich tun?!
Der Regen prasselt auf meinen Körper nieder, ich verschränke die Hände hinter dem Kopf, beiße verzweifelt die Zähne zusammen und irgendwo, ganz in der Ferne, donnert es. Ich bin gerade mitten auf dem Weg zum Wagen zurück, als ich von unfassbarer Wut - auf Bradley, Colby, jeden anderen und mich selbst - erfüllt in einem selbstzerstörerischen Reflex mit der geballten linken Faust einmal heftig auf einen nahestehenden Baum einschlage und anschließend sofort an seinem Fuß kraftlos zusammensinke. Für eine friedvolle Sekunde kann ich mich nur auf den Schmerz in meiner Hand konzentrieren und muss nicht über Farley's Zustand nachdenken. Der Regen durchnässt meine Haare, meinen Mantel, und es ist mir egal.

Für eine Weile bleibe ich einfach dort sitzen, doch nach wenigen Sekunden habe ich das Gefühl, weitermachen und genau das einfach können zu müssen. Für Farley.
Es dürfte nicht so schwer sein, über ein paar Ecken herauszufinden, wo Bradley wohnt, die ungefähre Gegend kenne ich schon, weil Macey damals davon erzählt hat. Ich kann dann dort hinfahren, obwohl ich bezweifle, dass er mit Farley dort ist, aber vielleicht kann ich etwas herausfinden, irgendwie. Genaueres sehe ich, wenn ich dort bin.
"Hey", höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir.
Ich habe mich inzwischen wieder aufgerappelt und drehe mich um, während mir die ganze Situation inzwischen nur noch surreal vorkommt.
Hinter mir steht die junge Polizistin unter einem schwarzen Regenschirm. Ich bin immer noch wütend, weil sie mir drinnen nicht geholfen hat. Aber schon wieder überwiegt meine naive Hoffnung, befeuert von der Tatsache, dass sie mir nach draußen gefolgt ist.
"Was?", frage ich sie.
Sie macht noch ein paar Schritte in meine Richtung, bis sie ungefähr einen Meter vor mir steht. Sie streckt die Hand aus und reicht mir einen Zettel. Ich nehme ihn ihr ab und sehe, dass auf ihm eine Telefonnummer steht.
"Das ist die Nummer des County Jails, in dem sich Howard Cort zur Zeit befindet. Du kannst da anrufen und mit ihm telefonieren. Ich dachte mir, dass dich das vielleicht weiterbringt", erklärt sie. Sie verstummt für einen Moment, dann fügt sie hinzu: "Aber denk daran, dass die Gespräche aufgezeichnet werden."
Ich starre von dem unwirklichen Zettel wieder zu ihr zurück. Daran, dass Howard etwas wissen könnte - schließlich hat er Macey und somit auch Bradley monatelang beobachtet - habe ich gar nicht gedacht. Obwohl das ganze auch nur wieder ein Strohhalm ist, nach dem ich greife, bin ich für eine Sekunde fast erleichtert.
"Danke. Danke", bringe ich hervor, stecke den Zettel ein und reiche ihr geistesgegenwärtig die Hand. Sie schüttelt sie und meint:
"Keine Ursache. Ich werde auch nochmal mit meinen Kollegen über das sprechen, was du gesagt hast. Es mag zwar anders gewirkt haben, aber nur weil Officer Colby dir nicht geglaubt hat, ist die Angelegenheit nicht automatisch abgeschlossen."

Sobald ich im Auto sitze, wähle ich energisch die Nummer auf dem Zettel.
Ich werde mit einem zuständigen Beamten des Gefängnisses verbunden und für einen Moment überlege ich, ob es sinnvoll wäre, mich für einen Verwandten von Howard auszugeben, damit man mich auch sicher mit ihm reden lässt. Doch da das ziemlich nach hinten losgehen könnte halte ich mich an das, was der Wahrheit wohl irgendwie noch am nächsten kommt, und behaupte mal, dass wir Freunde wären.
Es läuft alles viel unproblematischer als ich auch unter normalen Umständen erwartet hätte und ziemlich bald habe ich wirklich Howard in der Leitung.
Am Anfang sagt keiner von uns etwas und ich höre nur sein Atmen, das genauso gehetzt klingt wie es das meistens tut und außerdem so wie ich mich gerade fühle. Ich merke, dass ich das Gespräch initiieren muss und zwar schnell, damit ich mögliche Informationen über Farley's Aufenthaltsort bald erfahre.
"Hey, Howard. Wie geht's dir? Hör' mal, es tut mir leid, wie sich die Sache entwickelt hat. Ich glaube nicht, dass du schuldig bist."
Ich wähle meine Worte vorsichtig, schließlich weiß ich, dass höchstwahrscheinlich jemand zuhört oder es zumindest aufzeichnet. Da will ich nichts sagen, das irgendwie falsch interpretiert werden könnte. Dennoch versuche ich auch, schnell auf den Punkt zu kommen und nicht um irgendwas rumzureden.
Auf der anderen Seite höre ich erst irgendein knacksendes Geräusch, dann Howard's viel zu erfreute Stimme, dafür, dass er im Knast ist:
"Ich wusste immer, du würdest eines Tages die Lügen durchschauen. Du magst geblendet erschienen haben, aber mir war stets klar, dass sie dich nicht täuschen können."
Oh man.
Aber ich bin einfach erleichtert, dass er mir anscheinend noch gut gestimmt ist und nicht sauer, weil ich ja an seiner aktuellen Situation nicht ganz unschuldig bin.
Ich beschließe, auf seine Aussagen einzugehen.
"Ja, ja, ich habe es jetzt begriffen", behaupte ich, ohne genau zu wissen, was ich da eigentlich zustimme, "Aber eine Sache musst du mir noch erklären, Howard, es ist wirklich wichtig. Und ich glaube, du bist der einzige, der etwas diesbezüglich weiß."
"In der Tat, gut möglich, ich observiere und ich analysiere. Um welche Verschleierung durch die bösen Entitäten geht es?"
Er klingt interessiert und ganz in seinem Element. "Böse Entitäten" - klingt ja spannend. Ist ja schön, dass er im Gefängnis seiner Selbstverwirklichung noch am nächsten kommt.
"Es betrifft Farley. Erinnerst du dich noch, als du auf dem Friedhof davon geredet hast, dass jemand einen schrecklichen Fehler begangen hat? Ich bin mir sehr sicher, dass diese Person drauf und dran ist, wieder einen zu machen. Ich muss wissen, wo er sich mit Farley aufhält. Hast du irgendeine Idee, was für ein Ort das sein könnte?"
Während ich auf Howard's Antwort warte, kneife ich fest die Augen zusammen und umgreife mit der zitternden und eiskalten Hand, in der ich nicht das Handy halte, meine angespannte Stirn. Das hier muss zu irgendeiner Erkenntnis führen! Bitte. Bitte. Bitte.

Ausholend erklärt er mir schließlich wirklich von Orten, an denen die betreffende Person - alias Bradley, denn es wird in seiner Aufzählung deutlich, dass auch er über ihn spricht - sich zumindest zu Zeiten von seiner Beziehung mit Macey oft aufgehalten hat. Es ist echt gruselig, dass er das alles weiß, und es lässt ihn noch mehr wie einen Stalker wirken. Außerdem scheint er die ganze Zeit sicher gewesen zu sein, dass Bradley der Mörder ist, ohne dass er es gemeldet hätte. Er hätte all das hier verdammt nochmal verhindern können! Aber andererseits hätte man ihm vermutlich genauso wenig geglaubt wie mir heute. Und er denkt ja immer noch, dass der Staat an eine Verschwörung geknüpft ist. So weit ist mein geistiger Verfall zwar noch nicht vorangeschritten, aber auch ich bezweifle nicht mehr, dass zumindest Colby mehr Dreck am Stecken hat, als nur ein verurteilendes Arschloch zu sein.

Die Community Gärten am Stadtrand. Dort muss Bradley Farley hingebracht haben. Von allen Orten, die Howard genannt hat, an denen Bradley sich zumindest in der Vergangenheit gelegentlich aufgehalten hat, ist das derjenige, der am abgelegensten ist. Dort, wo höchstwahrscheinlich keine Leute sind, schon gar nicht an einem verregneten Tag wie heute. Dort, wo er nicht auffällt. Dort, wo man keine Schreie hört ... Ich trete fester aus das Gaspedal. Sobald ich aus dem belebteren Teil der Stadt raus bin, rase ich regelrecht. Ich habe Angst, zu spät zu sein. Die Belastung, die ich auf mir liegen fühle, ist immens. Ich muss es schaffen, Bradley darf Farley nichts antun. Für Macey ist es zu spät, aber diesmal werde ich ihn aufhalten.

Ich parke das Auto in genug Entfernung und verborgen von einigen Hecken, sodass man es von den Gärten aus nicht sieht. Dann muss ich erstmal wieder kurz innehalten, meinen keuchenden Atem sammeln und alle geistigen Reserven anspannen, um mein weiteres Vorgehen zu überlegen. Der Garten, der Bradley's Familie gehört, ist laut Howard Nummer 14, aber zu einer richtigen Erkenntnis bringt mich das auch nicht. Panisch klemme ich den Kopf zwischen die Hände.
"Denk nach, Nate, denk nach", murmele ich zu mir selbst.
Und dann stehen die beiden Optionen, die ich habe, plötzlich ganz klar vor meinem geistigen Auge: Ich kann entweder nach einer Bestätigung suchen, dass Farley hier von Bradley gefangen gehalten wird - wenn das denn überhaupt der Fall ist und sie nicht doch woanders sind - und dann wirklich per Notruf die Cops holen. Oder ich mache einen Alleingang, indem ich Bradley irgendwie überwältige. Wie ich es in meiner Vorstellung in Bezug auf den Mord an Macey so oft getan habe. Für letzteres spricht, dass ich weniger Zeit riskiere, in der er Farley etwas antun kann. Das Ding ist jedoch, dass ich ihm physisch unterlegen bin, was ja nicht zuletzt die Prügelei gezeigt hat.
Ich beschließe, mich spontan, wenn auch mit diesem wagen Plan im Hinterkopf, zu entscheiden - wie ich es meistens tue - und verlasse nach dieser nur sehr kurz andauernden Überlegung den Wagen.

Gerade als ich die Straße überquert habe und auf einem gepflasterten Weg stehe, der durch die Gärten hindurchführt und sich in schmalere Schotterwege verzweigt, fällt mein hektischer Blick auf ebendiesen Boden. Er ist alt und mitgenommen, der Regen sammelt sich in den Rillen. Und ein paar der Pflastersteine, die die Größe von Ziegeln haben, sind locker. So locker, dass ich einen von ihnen problemlos aus dem Boden lösen kann. Er liegt schwer in meiner Hand und er gibt mir einen Hauch von Sicherheit. Ich werde eine Waffe gebrauchen können.

In gebeugter Haltung und abseits des Hauptweges, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, bahne ich mir meinen Weg durch die Gärten und in jeglicher anderen Situation würde ich mir lächerlich vorkommen. Aber in mir ist nichts als Angst, Wut und Entschlossenheit. Bald habe ich die ersten paar Gärten passiert und ich bin wirklich froh, dass die Nummer an den meisten Zäunen mehr oder weniger groß ausgeschrieben steht. Dann sehe ich auch schon die Zahl 14 an einem eisernen, hüfthohen Tor. Dieser Garten sieht runtergekommener aus als viele der anderen außen herum. Ich steige über den ebenfalls niedrigen Zaun von Nummer 13 und im Schutz der Hecke, die sich an ihm entlang spannt, betrachte ich das Gartenhaus der Johnsohns. Howard's Worte von wegen "analysieren und observieren" kommen mir wieder in den Sinn. Ich muss bedächtig vorgehen, ich darf nicht aus purer Emotion einen fatalen Fehler begehen. Nicht dieses Mal.
Das Häuschen hat vorne nur eine Tür, aber kein Fenster. Äußerst sorgfältig darauf bedacht, dass man mich von dort aus nicht sehen kann, wate ich im Matsch des anderen Gartens mit Blick auf die rechte Wand aus ihrem morsch erscheinenden Holz weiter. Die Wand wird von Efeu überwuchert.
Ich muss mich nicht sonderlich anstrengen, leise zu sein, weil der Regen und gelegentlicher Donner alles übertönen. Mein Mantel ist unangenehm vollgesogen von dem ganzen Wasser und da mich das Gewicht nur noch belästigt streife ich ihn kurzerhand ab und verberge ihn sicherheitshalber unter der Hecke, um keine offensichtlichen Zeichen meiner momentanen Anwesenheit zu hinterlassen. Dann gehe ich weiter und mir fällt auf, dass jetzt, wo ich mich so stark fokussiere, ich zumindest insoweit ruhiger bin, dass meine Hand, die den rauen Pflasterstein umgreift, nicht mehr ganz so stark zittert. Ich habe wohl verinnerlicht, dass ich hier keine Fehler machen darf.

Mein Atem geht flach, als ich wieder über die Hecke blicke. Von dort aus, wo ich jetzt bin - inmitten des Schlamms eines bepflanzten Beetes von Garten Nummer 13 - kann ich sowohl die rechte als auch die hintere Seite des Gartenhauses von Bradley's Familie sehen. In ersterer ist genauso wenig ein Fenster wie in der Vorderseite. Aber hinten, da gibt es in der Tat eines. Es befindet sich in der Mitte der Wand, etwas über Hüfthöhe. Aber irgendetwas scheint falsch daran. Ich strenge meine Augen an, doch es ist schwer, etwas durch den Regen zu erkennen. Wohl oder übel mache ich noch ein paar weitere Schritte, fast bis zum Ende des Gartens, in den ich eingedrungen bin.
Und dann fällt mir in einem Schockmoment auf, was an dem Fenster nicht stimmt: Jemand hat die Glasscheibe zerschlagen. Am Rahmen sind noch einige Zacken zu sehen, aber der Großteil liegt zerbrochen auf dem Fensterbrett und im matschigen Gras darunter.
Ich fühle das beschleunigte Pochen meines Herzens sowohl in meiner Brust als auch in Form eines ekelhaften Klumpens in meiner Kehle. Mir wird schlecht und ich bilde mir ein, Blut auf den verbliebenen Zacken des Glases zu sehen, jetzt wo ich es genauer anstarre. Für einen Moment muss ich mich abwenden und hinknien, um mich wieder von meinem durchdringenden Schrecken zu sammeln. Es besteht kein Zweifel mehr an dem, was eigentlich wirklich wie eine verdammte Lotterie gewirkt hat: Bradley ist wirklich hier. Mit Farley. Wahrscheinlich hat sie versucht zu fliehen.

In einer ruckartigen Bewegung ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und tue das, was mir der Polizist am Empfang von Anfang an geraten hat: Ich wähle 911.
"911, was ist ihr Notfall?"
Ohne Punkt und Komma erkläre ich der Frau in der Notrufzentrale alles nötige: Wer und wo ich bin, was hier gerade passiert und wie viele Personen beteiligt sind. Als sie ansetzt, mir danach zu sagen, wie ich mich zu verhalten habe - ruhig zu bleiben und so - lege ich in einem spontanen Impuls auf, ohne es mir anzuhören.
Denn mir wird klar, dass ich meine Entscheidung bereits gefällt habe, was ich jetzt noch tun werde.
Den schweren Stein in meiner Hand umgreife ich fester, voller Entschlossenheit.
Vielleicht weiß ich, dass mein Vorhaben idiotisch ist. Dass gerade höchstwahrscheinlich hervorbricht, dass ich insgeheim an einem gottverdammten Heldenkomplex leide. Dass ich immer noch Schuldgefühle habe, Macey nicht helfen haben zu können. Dass das alles gewaltig schiefgehen könnte, weil ich nicht wie in einem Film durch Plot Armour geschützt bin.
Aber in Anbetracht meiner Wut auf den fucking Mörder und im Gedanken an die Person, deren Leben auf dem Spiel steht, ist es mir schlichtweg egal. Ich muss es für Farley tun. Etwas anderes würde ich mir auch nie verzeihen.

Im Schutz des Regens, der keine Hoffnung auf Sonnenlicht verheißt, aber dennoch eher beruhigend als bedrohlich wirkt, steige ich in geduckter Haltung wieder über die Hecke und den Zaun des Gartens Nummer 13 nach draußen. Ich lande mit den Füßen in einem gewaltigen Schlammloch, das sich am Rand des Schotterweges gebildet hat, und bleibe dann vor dem hüfthohen Zaun des Gartens der Johnsons stehen. Vorsichtig steige ich auch über diesen und stehe nun ebenfalls in dem, was wohl mal ein Blumenbeet gewesen ist, inzwischen aber vollkommen verwildert zurückgeblieben ist.
In schnellen, gebeugten Schritten, bei denen ich darauf bedacht bin, dass man mich auf keinen Fall durch das Fenster sehen kann, bin ich beim Gartenhaus angekommen und presse mich flach an seine efeubedeckte Wand, die überraschend stabil wirkt, aber auch kalt und irgendwie ekelhaft in meinem Rücken.
Ein nervöser Sturm tobt in meinem Inneren und ich strenge jede Faser in meinem Körper an, meine Zähne fast zu stark aufeinandergepresst. Ich bin mir sicher, dass Schweißtropfen auf meiner Stirn stehen würden, würde der Regen sie nicht sofort wegspülen.
Es geht jetzt um alles.
Mit langsamen, vorsichtigen Seitwärtsschritten nähere ich mich flach und panisch atmend dem Fenster und muss Zeuge davon werden, wie das, was ich zuvor noch als eine paranoide optische Täuschung abtun konnte, sich als wahr herausstellt: Die spitzen Glaszacken, die noch lose im Rahmen hängen, sind von Blut überzogen. Blut, das noch nicht getrocknet ist.
Meine Hände und dann mein ganzer Körper fangen wieder an, rabiat zu zittern und ich fühle schwere Übelkeit in meinem Magen.
Aber hier geht es nicht um mich, und im Versuch, meine Angst zu ignorieren, mache ich weitere Schritte bis ich am äußersten Rand des Fensters stehe und fast Einblick habe in dieses Haus, das in seinem Grauen alle "Mörderhäuser" übertrifft. Alles, was noch fehlt, ist eine Drehung um ein paar Grad und ich blicke in den tiefen Abgrund dieser weltlichen Hölle, in der Farley gefangen ist.
Auf einmal höre ich durch das Prasseln des Regens hindurch Geräusche nach außen dringen. Eine menschliche Stimme, männlich. Ich werde von einer Welle des Hasses erschlagen, denn das muss Bradley sein. So viel zu "menschlich". Was er sagt, kann ich jedoch nicht verstehen.
Langsam, ganz langsam, aber dennoch entschieden, mich dem Horror zu stellen, drehe ich mich nach links. Mein Atem ist nur noch ein schmerzhaftes Pfeifen, aber nichts kommt der Pein gleich, die meine Augen in der nächsten Sekunde wahrnehmen.
Zuerst sehe ich ein dunkelblaues T-Shirt, beziehungsweise den Rücken, der davon bedeckt wird. Dann die erwarteten blonden Haare.
Bradley Johnson.
Ich fühle ein gewisses Maß an Erleichterung, weil er schon mal mit dem Rücken zum Fenster steht und mich nicht sehen kann. Das Gefühl hält aber nicht lange an, sobald ich mich weiter drehe. Denn auf dem Boden unter ihm, teilweise von ihm verdeckt, liegt eine zusammengekauerte Gestalt vor ihm. Ich sehe die unverkenntlichen roten Haare. Und mehr rotes, rotes Blut überall um ihr Gesicht herum.
Farley.
Und dann geht alles ganz schnell, ausgelöst von einem kurzen Aufblitzen, das meinen Augenwinkel erreicht.
Es handelt sich um eine blank polierte Klinge, die Bradley über Farley erhoben hat, in einer ausholenden Haltung, kurz davor, sie in ihre Brust zu bohren.
Da ist kein Zögern und kein Gefühl mehr in mir, als ich einen aggressiven Schritt vor das Fenster mache - ohne den rettenden Regen würde man sicher das Klirren des kaputten Glases unter meinen Schuhen hören -, mich soweit vorbeuge, dass ich mit den Armen und dem Oberkörper in das Häuschen hineinreiche.
Und dann entlade ich all meine angespannte wütende Energie, die die Grenze zum Zerstörungswahn überschritten hat und sich in mir seit Macey's grausamen Tod angesammelt hat, in einem einzigen, weit ausgeholten Schlag mit der Hand, die den Pflasterstein umklammert hält.

Eigentlich ist es eher ein Glückstreffer. Mein Schlag hätte auf vielen verschiedenen Ebenen schiefgehen können.
Aber so trifft er mit einem widerlichen dumpfen Geräusch sein angestammtes Ziel: Bradley's Hinterkopf.
Die Wucht des Schlages mit dem schweren Stein haut ihn direkt um. Er gibt nicht mal irgendein schmerzergülltes Stöhnen von sich, bevor er in sich zusammensackend vor Farley auf den Boden fällt.
Auch mich lässt die entladene Kraft nach vorne fallen und schmerzhaft bohren sich die Glassplitter des Fensterrahmens durch das T-Shirt in meine Haut. Ich verziehe das Gesicht, aber noch in derselben Sekunde schwinge ich mein Bein durch das Fenster, hinein in das Innere des Häuschens.
Und dann erst sehe ich Farley richtig. Bradley hat sie übel zugerichtet. Über ihre Wange zieht sich ein langer Messerschnitt, überall in ihrem Gesicht und am Hals sind Spritzer des Blutes, als hätte er sie danach heftig geschlagen. An der Wand ist ebenfalls Blut, genauso wie Erbrochenes am Boden. In der Luft liegt ein chemischer Gestank. Von all dem wird mir mehr als nur schlecht und ich übergebe mich fast selber.
Ein kurzer Blick zu Bradley, der mir versichert, dass er handlungsunfähig ist, mich aber auch nicht erkennen lässt, wie schwer seine Verletzung ist, und dann bin ich mit einem schnellen Schritt bei Farley.
Sie sieht mich an und in ihren Augen ist Unglauben zu vernehmen. Das, und Erleichterung.
In diesem Moment weiß ich, dass alles irgendwie gut werden kann. Sie lebt. Das ist alles, was zählt.
Ich brauche nichts zu sagen. Ich beuge mich zu ihr nach unten und streiche ihr sanft ein paar blutverklebte Haarsträhnen aus dem Gesicht, während ich ihr voller Entlastung in die Augen sehe. Aber solange wir noch hier sind, ist ein Gefühl von Sicherheit weit entfernt.

Obwohl ich Farley extrem ungern dort am Boden zurücklasse, stehe ich rapide auf, die Tür ist in dem kleinen Gartenhaus nicht weit entfernt und nach einem schnellen Versuch sie zu öffnen, weiß ich, dass sie abgeschlossen ist.
In einem neuen Adrenalinrausch drehe ich mich zur Horrorszene des Inneren dieses Häuschens um und betrachte Bradley, der im hinteren Bereich liegt. Er bewegt sich leicht und stöhnt leise, scheint also nicht von mir bewusstlos geschlagen worden zu sein. Das Messer hat er im Sturz verloren und liegt außerhalb seiner Griffweite.
Das Blut rauscht in meinen Ohren, als ich rasch auf ihn zugehe, denn ich gehe davon aus, dass er den Schlüssel bei sich hat. Kurzfristig ziehe ich in Erwägung, mit Farley durch das Fenster zu entfliehen, aber in ihrem Zustand wäre das nichts als eine Tortur. Und ich will nicht, dass wir hier drinnen - bei ihm - warten, bis die Polizei da ist.
Ich beiße mir auf die Lippen und in einer ruckartigen Entscheidung hebe ich das Messer auf, bevor ich mich Bradley nähere.
Er liegt auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gewandt. Erst von meinem jetzigen Standpunkt aus kann ich die Wunde an seinem Hinterkopf sehen. Es sieht sehr übel aus, übler als es wahrscheinlich ist in Anbetracht der Tatsache, dass es ihn nicht komplett ausgeschalten hat. Dennoch erwarte ich nicht, dass er wie der Antagonist jedes Slasher-Films auf einmal wieder aufsteht. Nein, es sind eigentlich abgesehen von hilflosen Versuchen, sich irgendwie noch mit den Armen aufzurichten, nur seine Augen, die sich bewegen und mir folgen, als ich mir das Messer auf ihn gerichtet hinknie und den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche ziehe.
Seine Augen, deren Ausdruck viel zu kühn und undeutbar ist, dafür, dass er von Schmerz verschleiert sein sollte, mögen mir unablässig folgen, aber meine eigenen sind genauso fokussiert wie seine. Ich lasse seinen Blick nicht los und beobachte jede seine verzweifelten, kleinlichen Bewegungen. Mein Blick ist voller Hass und Abscheu.
Er hat verloren. Es ist vorbei.
Farley lebt. Macey kann Rache und ein Hauch von Gerechtigkeit zuteil werden. Er wird nie wieder jemandem schaden können.
Wäre nicht alles so grausam, würde ich vielleicht Triumph verspüren.

Auf einmal bewegt sich aber noch etwas mehr in seinem Gesicht. Es sind seine Mundwinkel, die sich leicht nach oben krümmen, weiter und weiter, während ein Tropfen seines Blutes von einer blonden Haarsträhne auf ebendiese amüsiert verzerrte Wange tropft.
Er öffnet den Mund und zuerst sind das, was herauskommt, keine Worte, sondern nur ein stummes Keuchen. Aber dann formt sich ein Sinn daraus, ein Sinn, der mir wie eine kalte Messerspitze selbst durch das Mark stößt und all das schreckliche verkörpert, das ich selbst nach allem, was passiert ist, nie von dieser Welt erwartet hätte:
"Du allein bist der Grund, dass ich es getan habe, Revely. Ihr Blut klebt an deinen Händen."

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