Kapitel 37: Farley
Ich bin alleine. Ganz alleine. Und es ist meine Schuld.
Ich dachte, es wäre das beste für uns beide gewesen, wenn ich ihm nichts von Howard erzähle. Ich dachte, dass das Gespräch noch gut ausgehen könnte, als Nate mich plötzlich mit der Frage nach Howards Aufzeichnungen attackiert hat. Das war natürlich ein Fehler. Ich hätte wissen müssen, dass keiner von uns nachgeben kann. Ich hätte wissen müssen, dass es so eskaliert. Ich hätte wissen müssen, dass ich am besten meinen Mund geschlossen hätte. Und vielleicht hätte ich wissen müssen, dass Nate eines Tages herausfinden wird, dass ich bei der Polizei war, ohne ihm davon zu erzählen. Aber dem war nicht so. Und deswegen, wegen meiner eigenen Inkompetenz, bin ich einsam.
Dieses Gefühl drückt mich nieder in mein Bett, lässt meine Gliedmaßen erschweren und meine Gedanken wertlos erscheinen. Diese plötzliche Leere verbietet mir, irgendetwas anderes zu tun als dazuliegen und mein Dasein zu fristen. Eigentlich hätte ich schon vor einer dreiviertel Stunde aufstehen sollen und meine Mum ruft vom unterem Geschoss schon wieder hoch, dass ich mich beeilen soll, da ich sonst kein Frühstück haben kann, doch das einzige was ich machen kann, ist meine Beine näher an mein Kinn zu ziehen und mich der dumpfen Leere in mir zu ergeben.
"Wo bleibst du?", fragt meine Mum, während sie die Tür ohne anzuklopfen aufreißt. Sie schaut mich erstaunt an, als sie sieht, dass ich hellwach im Bett liege und nicht mal angezogen bin.
"Du willst doch nicht im Schlafanzug in die Schule gehen. Zieh dich endlich an", ist ihr einziger Kommentar.
"Mum, mir geht es nicht so gut. Kann ich zu Hause bleiben?", frage ich vorsichtig.
"Kommt nicht in Frage. Du ziehst dich so schnell wie möglich an und sei doch so nett und benutze wenigstens noch einen Concealer", antwortet sie knapp, bevor sie mein Zimmer wieder verlässt.
War ja klar, dass das ihre Antwort sein würde.
Vorsichtig versuche ich, mich aufzurappeln. Ich brauche mehrere Ansätze, um endlich aufrecht zu sitzen, ohne mich sofort wieder unter die Bettdecke zu verkriechen. Vorsichtig schwinge ich meine Beine über die Bettkante, um mir dann lustlos die erstbesten Klamotten anzuziehen.
Ich setze mich an meinen Schminktisch und sehe all die offenen Tuben und Paletten rumliegen. Dafür habe ich heute definitiv keine Zeit, weswegen ich demonstrativ alles zur Seite schiebe und nur nach meinem Kamm greife. Während ich mir vorsichtig durch die Haare kämme, blicke ich in den Spiegel und zwei müde Augen starren mir entgegen.
Ich presse meine Lippen zusammen. Ich will nicht sehen, was aus mir geworden ist. Mit einem Ruck ziehe ich den Kamm nach unten und reiße durch die schnelle Bewegung eine Strähne raus. Ich will in meinen Augen die Realisation, dass ich ganz alleine bin, nicht sehen. Um mich abzulenken gehe ich mit der nächsten Strähne genauso wenig zimperlich um wie mit der vorherigen. Als ich wieder den ziehenden Schmerz in der Kopfhaut verspüre, atme ich tief ein.
"Es ist in Ordnung! Es ist alles in Ordnung!", sage ich atemlos zu mir selbst, während ich mich verzweifelt an die Tischkante klammere.
"Vielleicht bin ich jetzt im Stande, einen neuen Anfang zu machen. Vielleicht bin ich im Stande, alles negative hinter mir zu lassen. Ich bin mir sicher, dass ich das auch alleine schaffe. Ich bin mir sicher, dass ich mich ändern kann."
Meine Stimme wird immer hektischer, bis ich am Ende nur noch laut nach Luft schnappen kann. Ich wünschte, dass das, was ich mir versuche einzureden, wirklich wahr wäre, doch die Tränen, die sich in meinem Augenwinkel bilden, verraten mich. Das sind alles Lügen, denen ich mich zu gerne hingeben würde.
Ich kann das aber nicht. Die letzten Monate haben mir gezeigt, dass die Wahrheit ein wichtiges Gut ist. Und wegen meiner Lüge wurde ich auch bestraft. Ich sollte einen neuen Weg gehen und ich fange am Besten an, indem ich nicht mehr mich selber anlüge.
Ich atme tief durch und lasse alles auf mich einströmen, was ich versucht habe zu verdrängen.
Ich liebe Nates Stimme. Ich liebe seine seine Gesten. Ich liebe sein Gesicht, wenn er lächelt. Ich liebe seine Art zu sprechen. Ich liebe seine Denkweise. Ich liebe es, wie er mich in meiner dunkelsten Phase akzeptiert hat.
Je mehr ich es in Worte fasse, desto mehr fange ich an, die Schwere des Verlusts, meines Fehlers zu spüren.
Und als ich wieder in den Spiegel schaue ist mir so, als ob ich Nates Silhouette sehen würde, wie er mich von hinten umarmt. Da merke ich, dass ich für den letzten Schritt noch nicht bereit bin. Ich will noch nichts davon wissen, dass Nate vermutlich nicht auf dieselbe Art über mich denkt. Ich will noch nichts davon wissen, dass ihm der Kuss egal war, so kalt, so gleichgültig wie er reagiert hat. Ich will noch nicht akzeptieren, dass meine einseitigen Gefühle endlich aufhören müssen.
Mit gesenktem Kopf steige ich aus dem Bus aus. Ich weiß jetzt schon, dass ich spätestens in der zweiten Stunde merken werden, dass ich nichts gefrühstückt habe und nicht zumindest daran gedacht habe, mir etwas Obst mitzunehmen. Warum bin ich überhaupt in die Schule gegangen? Ich hätte so tun sollen, als ob ich krank wäre. So wie ich aussehe hätte es mir meine Mum vielleicht sogar noch abgenommen. Doch nun bin ich schon mal hier, da muss ich wohl den Tag durchstehen. Wie, weiß ich noch nicht, aber ich fange damit an, indem ich einfach einen Fuß vor den anderen setze.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, greift eine Hand nach meinem Oberarm.
Mit einem Keuchen springe ich einen Satz zur Seite. Ich blicke nach oben und muss erstmal einige Sekunden nachdenken, bevor ich Greg erkenne. Ich hatte schon fast die Begegnung mit ihm vergessen. Damals haben Nate und ich zum ersten Mal etwas zusammen gemacht. Auch wenn es war, dass wir zu Howards Freund gefahren sind, um mehr über ihn zu erfahren.
Greg lässt mir aber keine Zeit, über die verlorenen Geschehnisse zu trauern, da er mich mit erstaunlicher Kraft packt und zur Seite zieht. Mehrere Fragen stellen sich mir sofort. Was macht er an der Schule? Warum ist er hier? Wieso muss er ausgerechnet auch mich losgehen? Doch ich habe keine Gelegenheit, ihn all das in Ruhe zu fragen, weil ich mich schon bemühe, nicht hinzufallen, da er mich so fest zieht.
"Was ist denn los?", bringe ich gerade so hervor, während ich ihm hinterher stolpere.
Anstatt mir zu antworten schenkt er mir einen grimmigen Blick.
Als er weit abseits von der Schülermenge stehenbleiben, fängt er an, mit zorniger Stimme zu reden: "Du weißt also nicht einmal, was los ist?"
"Nein, es tut mir leid, ich weiß nicht, was du meinst", antworte ich, defensiv meine Hände hochhebend.
Sein Griff verstärkt sich sofort wieder. Das wird auf jeden Fall einen blauen Fleck machen.
"Ich werde auch nicht Gedanken lesen lernen, wenn du mich gröber behandelst. Du musst mir schon sagen, was du meinst", sage ich ironisch, ihn genervt auschauend.
Eigentlich habe ich keinen Nerv für Gregs Probleme, aber er hat mich bereits neugierig gemacht.
"Wegen dir - dir und deinem manierenlosen Freund - ist Howard im Gefängnis."
Moment. Wie ist das passiert? Erzählt er mir gerade irgendeine Lüge? Oder hat Nate etwa Howard an die Polizei verraten? Und ist das nun etwas Gutes?
"Was?", frage ich verdutzt, immer noch erstaunt über diese plötzliche Entwicklung der Ereignisse.
"Kannst du etwa nicht hören? Howard sitzt im Gefängnis und hat nicht einen, sondern zwei Mordfälle am Hals."
"Wie ist das passiert?", frage ich.
"Nun er hat selber bei der Polizei ein Tagebuch abgegeben, dass die Bullen wohl als Anlass genommen haben, ihn hinter Gitter zu setzen. Verstehst du langsam?", erklärt er gedehnt.
Tagebuch? Meint er damit Howards Geschriebenes über Macey? Nette Wortwahl.
"Nicht wirklich", erwidere ich schüchtern.
"Es ist eure Schuld. Deine Schuld. Er hat mir alles davor erzählt."
"Was denn?", frage ich, langsam genervt, weil er endlich auf den Punkt kommen soll.
"Howard hat gestern dich und deinen Freund streiten gehört. Er hat sich daraufhin schuldig gefühlt. Weil, soweit ich es verstanden habe, es um ihn ging und darum, was ihr mit seinem Tagebuch machen wollt. Da er nicht wollte, dass seine 'Freunde' sich weiter streiten, entschied er sich, selbst zur Polizei zu gehen."
Mich interessiert es nicht, dass Greg Anführungsstriche in die Luft macht, als er "Freunde" sagt, da die Realisation, dass Howard mich als Freundin gesehen hat und das für uns gemacht hat, direkt meinen wunden Punkt trifft. Verzweifelt versuche ich, einen Satz zu formulieren, aber es kommt nichts aus meinem Mund.
"Du brauchst nichts zu sagen. Sei dir einfach bewusst, was Howard für deinen nutzlosen Seelenfrieden getan hat und bekomm' deinen Arsch hoch und bring ihn da raus", erklärt er mir grimmig.
"Aber was ist, wenn er tatsächlich nicht ganz unschuldig ist. Dann ist es doch etwas Gutes?", frage ich schüchtern.
Sein Blick sagt mir sofort, dass ich das besser nicht hätte sagen sollen.
"Denkst du wirklich, dass er das dann für euch gemacht hätte? Aber wenn du willst, kannst du dir das natürlich weiterhin einreden, damit sich dein zartes Gewissen nicht schuldig fühlt", antwortet er mit einem von mir angeekelten Gesichtsausdruck.
"Man sieht sich", verabschiedet sich Greg und stößt mich von sich weg.
Das waren so viele Informationen auf einmal, dass ich nur verwirrt dastehen kann.
Was soll ich nur machen? Warum hat Howard das gemacht?
Ich hab keine Antwort darauf.
Warum kann ich zur Zeit nichts richtig machen?
Schwungvoll stoße ich die Tür zur Bibliothek auf. Mit einem kurzen Blick über die Tische erkenne ich, dass Howard an keinem von ihnen sitzt. Eilig haste ich die Reihen entlang, aber leider finde ich ihn dort auch nicht. Als ich an einem Tisch einige Schüler sehe, gehe ich auf sie zu und frage geradeaus: "Habt ihr zufälligerweise Howard aus dem Junior-Jahr gesehen?"
Ein Mädchen hebt den Kopf und antwortet knapp: "Nein."
Und auch von den anderen kommt nur ein Kopfschütteln.
Ich bedanke mich eilig, während ich bereits weiterhaste. Plötzlich steht die Bibliothekarin vor mir und schaut mich streng an.
"Es ist ja schön, dass du so enthusiastisch bist, aber das ist eine Bibliothek. Deswegen bist du nun entweder ruhig, oder ich muss dich darum bitten, die Bibliothek zu verlassen", belehrt sie mich.
Ich entschuldige mich und erkläre, dass ich sowieso gehen wollte, bevor ich in Richtung Tür eile.
Ich wirke also enthusiastisch. Interessant. Ich bin einfach verzweifelt. Ich will nicht, dass Gregs Geschichte wahr ist. Ich will es nicht und deswegen klammere ich mich daran, dass er vielleicht gelogen hat und Howard irgendwo in der Schule ist. Ich hätte das gleich vor Unterrichtsbeginn machen sollen. Allerdings hatte ich keine Zeit mehr, weswegen ich nun gehetzt duch die Schulkorridore renne. Doch niemand hat ihn gesehen. Was nicht so schlimm wäre, weil er schließlich auch krank sein könnte, hätten sich nicht insbesondere die Lehrer so verschwiegen dem Thema gegenüber verhalten. Letzten Endes konnte oder wollte mir niemand etwas über Howard verraten.
Ich muss schlucken, als ich an den Musikräumen vorbeikomme. Die Erinnerungen an den Streit mit Nate sind noch zu präsent. Ich schaue durch die die Glasscheiben in den Türen, bis mir an der dritten das Herz stehenbleibt. Eine dunkle Silhouette zeichnet sich ab und ich erkenne sofort diese Haare, diese Statur. Es ist Nate. Ich hatte gehofft, dass genau das nicht passieren würde. Ich wollte Nate noch nicht begegnen und an das Opfer denken, dass Howard anscheinend gemacht hat. Doch ich bleibe zur Zeit wohl vor nichts verschont. Einerseits will ich nicht mit Nate reden, weil ich zu viel Angst habe, etwas falsches zu sagen. Andererseits bin ich es Howard schuldig und insgeheim will auch ich von mir aus mit ihm reden.
Ich richte meine Haare etwas und atme tief ein und wieder tief aus, bevor ich die Türklinke runter drücke und die Tür aufmache.
Nate sitzt mit geschlossenen Augen und Köpfhörern im Ohr gegen die Wand gelehnt.
Leise gehe ich zu ihm hin und gehe einige Meter vor ihm in die Hocke, um auf gleicher Höhe mit ihm zu sein.
"Hey, hast du was von Howard gehört?", frage ich ihn so emotionslos wie möglich. Ich möchte mir einfach nicht anmerken lassen, wie fertig ich innerlich bin, auch wenn mein Aussehen mich, glaube ich, verrät.
Nate öffnet die Augen und zuckt deutlich zusammen, als er mich vor ihm sieht. Langsam nimmt er seine Kopfhörer raus und mustert mich. Ich schenke ihm nur ein etwas gezwungenes Lächeln und warte auf seine Antwort.
"Was ist?", fragt er, während er seine Augenbrauen skeptisch zusammenzieht.
Ich kann gerade noch einen Seufzer unterdrücken, bevor ich meine Frage wiederhole: "Hast du etwas von Howard gehört?"
"Warum, stalkt er noch jemanden?", erwidert er sarkastisch.
Ich höre seinen wütenden Tonfall, trotzdem muss ich kurz stutzen, weil noch eine andere, schwere Emotion mitschwingt.
Aber jetzt, wo er es ausspricht, realisiere ich, dass dem tatsächlich so ist. Howard hat uns - mich und Nate - tatsächlich gestalkt. Wie sonst hat er von unseren Streit erfahren. Ich sollte wohl geschockt darüber sein, doch nachdem er mir seine Aufzeichnungen gegeben hat, wundert es mich nicht mehr.
"Ist egal", erwidere ich steif, "Denn das kann er wohl erstmal nicht mehr, weil er fürs erste im Gefängnis sitzt."
Zwar habe ich noch die kleine Hoffnung, dass Greg vielleicht doch gelogen hat, allerdings glaube ich nicht, dass er das getan hat. Er schien mir ernsthaft aufgebracht.
Ich beobachte Nate und warte gebannt auf seine Reaktion. Ich sehe, wie er erstmal einige Momente braucht, um zu verarbeiten, was ich gesagt habe.
"Dann warst du also erneut bei der Polizei?", fragt er erstaunt, aber mit hoffnungsvollen Blick.
Denkt er etwa, dass er mich gestern überzeugt hat?
"Nein", erwidere ich spitz, "Er selber ist hingegangen. Und weißt du auch, warum? Man hat mir gesagt, dass er uns gehört hat."
"Dann dachte er wohl, dass es für ihn besser ist, wenn er sich selbst stellt. Oder es zeigt wieder nur seine Verrücktheit. Egal wie, es löst eindeutig das Problem", meint er herzlos.
Wieder höre ich eine andere Emotion raus. Könnte es Hoffnung sein? Aber wegen was?
"Denkst du das wirklich? Ich weiß ja nicht, aber ich glaube nicht, dass er der Schuldige ist. Er mag zwar nicht immer rational handeln, trotzdem denke ich, dass er uns eigentlich beweisen wollte, dass er unschuldig ist. Nur ist es ein bisschen schief gelaufen", erkläre ich.
Jetzt wo ich es ausformuliert habe, denke ich, dass das wirklich seine Absicht war. Hoffe ich zumindest, denn dann sind meine Schuldgefühle ihm gegenüber berechtigt.
Abrupt springt Nate auf.
"Du kannst es einfach nicht lassen, oder? Sie haben endlich den verdammten Mörder - also hör auf, ihn weiter zu verteidigen!", meint er zornig.
Er sieht siemlich bedrohlich aus, wie er sich über mir aufbaut.
Ich bleibe aber ruhig und stehe langsam auf.
Möglichst sachlich schildere ich ihm meine Sicht: "Ich denke, es ist einfach wichtig, verschiedene Seiten zu betrachten. Vielleicht denkst du, dass alles gelöst sei und das ist auch dein gutes Recht. Aber denk einfach mal darüber nach."
"Mit reicht's, ich hab' genug gehört. Wir sind fertig."
Energisch schüttelt Nate seinen Kopf, trotzdem macht er keine Anstalten, sich zu bewegen.
Ich stelle fest, dass ich wohl gehen sollte. Ich glaube nicht, dass, wenn ich weiter mit Nate rede, sich etwas bessert. Und Howard zuliebe sollte ich mich definitiv bemühen, mich wieder mit Nate zu verstehen. Doch nun weiterzureden würde das Gegenteil bewirken.
Ich nicke knapp, während ich ein sanftes Lächeln auf meine Lippen zwinge. Bevor ich mich ganz von Nate weg wende, strecke ich meine Hand aus und streiche ihn ganz kurz an der Schulter, einfach um emotionale Unterstützung zu zeigen. Ich kann schließlich erkennen, dass ihn die ganze Situation seit langem überfordert. Doch so schnell, wie ich mich für die Geste entschieden habe, ziehe ich meine Hand zurück. Ohne Nates Reaktion abzuwarten, gehe ich durch die Tür raus und verschließe sie mit einem Aufatmen hinter mir.
Howard bleibt auch den restlichen Tag unauffindbar und meine Hoffnung auf mehr Informationen schwindet. Nur, weil ich vor Nate sicher aufgetreten bin, bedeutet das nicht, dass ich nicht doch Zweifel an Gregs Aussage habe.
Doch gerade als ich das Schulhaus verlassen will, höre ich eine Lehrerin Howards Namen erwähnen. Abrupt bleibe ich stehen und tue so, als würde ich interessiert die Aushängetafel für die verschiedensten AGs betrachten.
"... nicht zu fassen, das jemand in so jungen Jahren zu so etwas fähig ist", höre ich die Lehrerin sagen.
"Ich denke, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen", antwortet eine andere, mir bekannt vorkommende Stimme.
Verwundert blicke ich auf und sehe den Lehrer. Ich brauche erst einmal ein paar Minuten, um mich zu erinnern, aber schnell erkenne ich, dass es sich um den Lehrer, der Nate aus der Schülerzeitung rausgeschmissen hat, handelt.
"Das sind keine voreiligen Schlüsse. Eigentlich sollte allen Schülern mitgeteilt werden, dass der Tatverdächtige festgenommen wurde. Man sollte wirklich an das Wohlergehen der Kinder denken", erwidert die Lehrerin, während sie den anderen Lehrer abwertend anschaut.
"Ja, ja. 'Denkt an die Kinder' - ein Argument, dass immer zieht. Aber hast du nicht daran gedacht, dass derjenige im Gefängnis auch dazugehört?"
"Howar-", fängt die Lehrerin an, wird aber harsch von ihrem Gesprächsparter mit einem "Shhh! Nicht so laut" unterbrochen.
Doch mir ist das egal. Ich habe meine Information. Es ist nicht mehr leugbar: Howard hat wegen mir ein ganz großes Problem am Hals. Das ist keine Vermutung mehr, sondern eine Tatsache.
Mit einem Seufzer stelle ich fest, dass es angefangen hat, wie in Strömen zu regnen. Und da ich heute in der Früh aus dem Haus hasten musste, habe ich selbstverständlich keinen Regenschirm dabei und regenfeste Jacken besitze ich auch nicht. Das bedeutet, dass ich dem Regen schutzlos ausgeliefert bin und somit, bis ich bei der Bushaltestelle angekommen bin, komplett durchnässt sein werde. Ich seufze laut und schiebe einen Fuß vorsichtig aus dem Schutz des Schuldaches hinaus in den strömenden Regen.
"Hey, brauchst du einen Regenschirm?", höre ich plötzlich eine tiefe Stimme.
Ich drehe mich um und blicke genau in Bradleys strahlende Augen.
"Ähm ... Nein", stottere ich unwohl.
Misstrauisch beobachte ich ihn von oben bis unten, wobei mein Blick an seiner Nase hängen bleibt, auf welche er zwei Verbände geklebt hat. Ob das Gerücht wohl wahr ist, dass seine Nase gebrochen ist? Ich versuche, etwas unter den Verbänden zu erkennen, kann aber kein sicheres Urteil fällen. Außerdem ist das ziemlich nebensächlich. Viel wichtiger ist eine andere Frage: Warum kommt er her und verhält sich so nett mir gegenüber, nachdem das letzte, was ich von ihm gesehen habe, war, wie er Nate eine reingehauen hat? Nicht zu vergessen, wie meine Reaktion darauf gewesen ist.
"Aber du wirst sonst nass", schmunzelt Bradley, "Außerdem wollte ich mich kurz mit dir unterhalten."
Ich runzele verwirrt die Stirn, bevor ich frage: "Worüber denn?"
Bradley spannt seelenruhig seinen Schirm auf und geht einige Schritte in den Regen, während ich ihn gespannt beobachte.
"Komm mit und ich sag es dir", erklärt er, während er seine Hand in meine Richtung ausstreckt und mich anlächelt.
Ich denke kurz darüber nach, seine Aufforderung zu ignorieren, aber letztendlich gewinnt doch meine Neugierde. Außerdem werde ich so nicht nass.
"Na gut", erwidere ich frostig, um noch meinen Stolz zu wahren, während ich unter den Regenschirm gehe und wir loslaufen.
Es ist unangenehm, so nah an Bradley gedrückt zu sein, mit dem Regen um uns herum trommelnd und keiner Menschenseele weit und breit. Die meisten hatten früher Schulschluss und der Rest ist wahrscheinlich vor dem Regen geflüchtet.
Früher hätte ich die Szene vermutlich romantisch gefunden, jetzt ist mit es einfach nur unangenehm.
"Also, ich wollte nur sagen, dass ich das letztens ziemlich mutig von dir fand", fängt Bradley plötzlich an.
"Wie bitte?", frage ich verdutzt.
"Ja, ja", antwortet Bradley, "Ich war erstaunt, dass du für deinen..."
Er hält kurz inne, bevor er fortfährt: "...Freund eingestanden bist."
Meine Munkwinkel sinken nach unten, als er Nate erwähnt. Insbesondere im Zusammenhang mit einer Beziehung. Doch da ich weiß, dass ich im Moment nichts an diesem Thema ändern kann, schiebe ich schnell jeglichen Gedanken daran zur Seite.
Ich weiß nicht, ob ich eher erstaunt sein soll, dass mich nicht wegen meiner Aktion hasst, sondern es sogar positiv auffasst, oder irritiert von der ganzen Situation sein sollte.
"Ah, ja", antworte ich gedeht, ihm klarmachend, dass zweites definitiv überwiegt.
"Doch, doch. Nachdem ich erstmal den Schock überwunden habe, dass du tatsächlich körperliche Gewalt angewandt hast, kann ich dies tatsächlich bewundern. Ich fand es echt stark von dir. Hätte ich das gewusst, wäre ich niemals so verletzend zu dir gewesen. Es tut mir Leid."
"Ach ja", lache ich zynisch auf, "Es tut dir leid. Das kaufe ich dir nicht ab. Du hast mich als Schlampe betitelt und damit fortgefahren, Nate, verdammt nochmal, zu schlagen. Denkst du wirklich, dass ein 'Tut mir Leid' irgendetwas bringt?"
Ich verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust.
"Ich weiß, dass ich nicht wirklich nett war", ist Bradleys einzige Antwort.
"Ist dir das erst jetzt aufgefallen?", meine ich provokant, "Ich denke, von hier kann ich alleine laufen."
Ich streiche meine Haare nach hinten und drehe mich weg, denn ich muss anerkennen, dass dieses Gespräch zu nichts führen wird.
"Warte", ruft Bradley, "Ich glaube, ich konnte mich noch überhaupt nicht erklären. Könntest du bitte mitkommen, wo wir nicht in dem nassen, kalten Regen stehen?"
Ich sitze schweigend in Bradleys Auto und lausche, wie der Regen gegen die Fensterscheibe tropft. Dieses schnelle, monotone Geräusch beunruhigt mich und ich fange an, unwohl auf meinem Sitz zur Seite zu rutschen.
Nach langem Zögern habe ich mich doch entschieden, mit Bradley mitzufahren. Einfach, um den vergangenen Zeiten ein letztes Mal nachzutrauern.
"Wir sind da", teilt mir Bradley mit, während er sein Auto an einer Reihe von kleinen Gärten stoppt.
Als wir noch zusammen waren, haben wir oft viele Nachmittage hier verbracht. Es ist eine Reihe von Gärten, die Leute mieten können. Viele entscheiden sich dafür, wenn sie in der Stadt keinen Garten aufgrund des fehlenden Platzes haben, oder noch eine separate bepflanzbare Fläche besitzen möchten. So hat auch Bradleys Familie einen und mir rutscht beinahe ein Lächeln über das Gesicht, als ich an die hier verbrachten Nachmittage denke.
Ich nicke und steige aus, als Bradley bereits mit dem Regenschirm neben mir steht.
"Komm, beeil dich", fordert er mich auf, "Ich will nicht nass werden."
Eilig nicke ich und wir gehen schnellen Schrittes den Schotterweg entlang, bis wir an einem schmiedeeisernen, hüfthohen Tor angekommen sind, welches Bradley sogleich aufstößt.
Vorsichtig, sodass ich nicht in eines der entstandenen Schlammlöcher trete, folge ich Bradley ins Gartenhaus.
Mit einem Quietschen schließt er die Tür des Gartenhauses hinter uns und ich atme erleichtet auf, da ich mich endlich nicht mehr an Bradley drücken muss, um vor dem Regen geschützt zu sein.
Während dieser den Regenschirm zuklappt, schaue ich mich in dem erstaunlich geräumigen Häuschen um. Als ich hier früher war, lagen immer die genauen Gegenstände vom Vortag rum. Doch als Bradley und ich Schluss gemacht haben, hat wohl jemand aufgeräumt und nie wieder irgendetwas benutzt. Es riecht nach Erde und irgendwie so ein bisschen wie das Chemie-Labor in unserer Schule, doch woher genau das stammt kann ich nicht sagen. Vielleicht irgendein Insektenspray?
Als ich mich von Bradley wegdrehe und aus dem Fenster blicke, sehe ich, wie verkümmert der ganze Garten aussieht. Früher habe ich immer die Pflanzen regelmäßig gegossen, geschnitten und gedüngt, doch das scheint seit langem niemand mehr gemacht zu haben. Besonders stolz war ich auf meine Canna Lilies. Doch dort, wo diese einmal standen, rankt sich der Efeu weiterhin ungestört die Wand des Gartenhauses hoch. Ich habe Efeu nie gemocht und mein Bestes gegeben, diesen zu entfernen. Doch Efeu ist Unkraut, lebt davon, dass er allen anderen zarten Pflanzen den Platz streitig macht, selbst unter schweren Bedingungen weiterwächst und sich an der Schwäche der anderen ergötzt. Deswegen hasse ich ihn. Und trotzdem ist es eine der wenigen Planzen, die in diesem Garten nicht verkümmert ist.
"Du wolltest dich noch erklären und erzählen, warum dir das alles inzwischen Leid tut", fange ich die Konversation mit Bradley an.
"Rein gar nichts tut mir Leid. Aber dir wird es gleich leidtun, dass du es gewagt hast, dich mit mir anzulegen", antwortet mir eine tiefe Stimme wie aus dem Nichts ganz nahe an meinem Ohr.
Ich japse erschrocken auf, will mich umdrehen.
Doch da wird mir bereits ein Arm um den Hals geschlungen. Verzweifelt versuche ich mich loszumachen, strample mit den Beinen. Vergeblich. Ich spüre, wie meine Lunge nach Luft lechzt, doch der feste Griff um meinen Hals hindert mich daran, frei zu atmen. Ich fange an, hektischer zu werden. Verzweifelter. Der Druck, die Atemnot ist kaum noch auszuhalten und ich versuche, mit meinen Zähnen in das Fleisch meines Angreifers zu beißen.
"Keine Sorge. Du wirst noch früh genug aufhören zu kämpfen", murmelt wieder die unheilvolle Stimme in mein Ohr, als mir ein feuchtes Taschentuch auf Mund und Nase gelegt wird. Der Würgegriff lockert sich etwas. Erleichtet hole ich tief Luft. Ein starker süßlich-chemischer Geruch umhüllt mich.
"Loslassen! Sofort!", versuche ich mit meinen letztes Enegiereserven zu japsen. Doch es sind nur ein paar unverständliche, durch das Tachentuch unterdrückte Worte zu hören. Ein letztes Mal versuche ich mich loszureißen. Ein letztes Mal versuche ich zu verstehen, was vor sich geht, bevor mich schwärzeste Dunkelheit umhüllt und das letzte, was ich sehe, der Efeu ist, der mich daran erinnert, dass nur die stärksten überleben.
Und ich gehöre nicht zu den Gewinnern. Ich gehöre zu den Canna Lilien, den Schwachen.
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