Kapitel 33: Farley
In Momenten wie diesen würde ich am liebsten Macey im Jenseits aufsuchen und sie nochmals umbringen.
Endlich einmal dachte ich, dass sich Nate auf etwas anderes als ihren Mörder konzentriert hätte. Doch das hat sehr kurz gewährt. Wenigstens diesen Abend hätte er doch seine Gedanken ein bisschen abschweifen lassen können und sich nicht mit Macey quälen müssen. Wenigstens für ein paar Stunden. Dass ihn Macey zu keinem Zeitpunkt in Ruhe lässt, muss ich wehmütig feststellen, als ich ihm nachschaue, wie er zu Eve geht, während ich immer weiter zurückfalle. Viel lieber würde ich jetzt mit ihm zu den Leuten, die er mir vorstellen wollte, gehen und ein entspanntes Gespräch führen. Doch unsere Abmachung war es, dass ich ihm helfe, alles in meinem Möglichem zu tun, um ihm bei seinem wahnwitzigen und irrationalen Vorhaben, den Mörder zu finden, zu unterstützen. Es wäre ein Bruch dieser Abmachung, ihn nun davon abzuhalten, mit Eve zu reden. So sehr ich mir wünsche, dass er sich für einen Moment nicht wegen Macey quälen würde, weiß ich auch, dass nur er allein für sein Glück oder Unglück verantwortlich ist.
Als Nate sich umdreht, um zu sehen, wo ich bleibe, erliege ich dem Schicksal und folge ihm weiter.
Ich mustere Sean, den Jungen, mit dem er spricht, und natürlich Eve. Während Sean ungeniert auf den beistehenden Jungen einredet, der - um es mal anzumerken - gar nicht begeistert davon wirkt, steht Eve etwas verloren und in ihre Gedanken vertieft daneben. Ohne darauf zu achten, dass Sean gerade etwas zu seinem Gesprächspartner sagen will, da er gerade den Mund aufmacht, sagt Nate ohne Begrüßung zu ihm:
"Und, schon dabei, einen neuen Gitarristen anzuwerben?"
Langsam klappt Sean seinen Mund wieder zu, während sich Nate doch wieder daran erinnert, dass Begrüßungen höflich sind und deswegen dem beistehenden blonden Jungen neben Sean kurz zunickt.
"Nein, ich erkläre ihm gerade netterweise nur, wie ich gelernt habe, Töne so gut zu treffen. Schließlich muss ich gar nicht um einen Gitarristen werben, da sich sicherlich schon bald welche freiwillig melden werden."
Ich ziehe skeptisch eine Augenbraue hoch.
Er denkt, dass sich Leute freiwillig melden werden? Also das ist auf jeden Fall ziemlich optimistisch, auch wenn ich nicht denke, dass dies jemals eintreten wird. Bekräftigt wird dies noch dadurch, dass der Junge sich gerade langsamen Schrittes zurückzieht, offensichtlich die Chance nutzend, dass Sean von Nate angesprochen wurde. Seine mangelnde Begeisterung, dass Sean ihm so viel Zeit gekostet hat, kann man klar in seinem Gesicht ablesen. Und als Nate sich wieder vorbeugt um anscheinend etwas zu sagen, entfernt er sich möglichst unauffällig von Sean.
"Himmel! Ich wollte doch nur höflich sein und sagen, dass der Auftritt gut war", höre ich ihn leise murmeln, bevor er außer Hörweite gerät.
Den Abgang des Jungen ganz ignorierend fokussiert sich Nate auf seine Aufgabe, mit Sean zu reden, weswegen er auf seinen vorherigen Kommentar mit leicht sarkastischem Unterton antwortet:
"Ja, da stimme ich dir absolut zu."
Sean, offensichtlich denkend, dass Nate wegen nichts besonderem hergekommen ist, will sich gerade wieder an seinen ehemaligen Gesprächspartner wenden, als ihm auffällt, dass dieser bereits eilig gegangen ist. An seinem verwirrten Gesichtsausdruck kann ich klar erkennen, dass er überhaupt nicht versteht, warum der Typ nun abgehauen ist. Ob ihn mal jemand aufklären sollte, dass nicht jeder nur darauf wartet, einen Blick von ihm zu bekommen? Vermutlich würde es aber nichts bringen, und selbst wenn, ist es nicht meine Aufgabe.
Ich stehe nur da und lächle, während ich mir überlege, wie Nate irgendetwas aus Eve rausbringen will. Also bei mir haben meine Fragen rein gar nichts gebracht und sie hat mich auch nicht angerufen.
Und plötzlich fällt es mir wieder ein: Ich war auf der Polizeistation, ohne Nate davon zu erzählen. Wie würde er darauf reagieren, wenn Eve es nebenbei erwähnen würde? Ich will es mir gar nicht ausmalen, da er bei allem, was mit den Ermittlungen zu tun hat, wie ein Pulverfass ist. Eigentlich hätte ich ihm laut unserer Abmachung alles über Howard erzählen müssen. Er wäre vermutlich außerordentlich sauer auf mich.
Ich versuche, mir diese Erkenntnis nicht anmerken zu lassen, indem ich ein möglichst entspanntes Lächeln aufsetze, doch innerlich fängt mein Kopf an, sich alle möglichen Ausgänge auszudenken.
Als Sean sich, mich und Nate ignorierend, in Bewegung setzt, denke ich bereits, dass die Gefahr gebannt sei, da Eve ihm sicherlich folgen wird.
Doch bevor Eve auch nur einen Schritt macht, spricht Nate sie direkt an:
"Hi. Du bist Eve, richtig? Sean's Schwester?"
Erschrocken schaut sie zu Nate hoch. Unsicher blickt sie immer wieder zwischen Nate und den weggehenden Sean hin und her, anscheinend nicht wissend, ob sie dem Schutz ihres Bruders folgen oder höflich zu Nate sein und seine Frage beantworten sollte. Gelegentlich wirft sie auch mir einen skeptischen Blick zu. Ich hoffe wirklich, dass sie mich nicht mehr für die Mörderin hält. Auch wenn sie, wenn sie mich tatsächlich verdächtigt, wahrscheinlich nicht mit Nate reden wird und somit nicht ausplappern kann, dass ich auf eigene Faust ins Polizeipräsidium gegangen bin.
Nach gefühlten Stunden ihres Überlegens hat sie sich endlich erschieden. Und zwar für das falsche.
Sie senkt nämlich ihren Blick und macht keine Anstalten, Sean hinterher zu gehen.
"Ja, genau. Du bist Nathaniel, oder?", haucht sie leise, beinahe wegen der Musik nicht hörbar.
"Ja. Du kannst aber auch nur 'Nate' zu mir sagen", antwortet er.
Ihr Blick huscht immer wieder umher, an keiner bestimmten Person hängenbleibend, bevor er doch bei Nate verweilt.
Sie nickt kurz und meint dann:
"Okay, also Nate."
Danach fängt ihr Blick wieder an zu wandern und bleibt dann auf mir liegen. Ich sehe, dass sie mich immer noch skeptisch anschaut, und das zerreißt mich beinahe innerlich. Offensichtlich will sie doch wieder ihrem Bruder folgen und ich freue mich bereits, weil somit das Gespräch nie darauf gelenkt werden kann, dass ich alleine bei der Polizei war, allerdings redet Nate weiter, bevor sie auch sich nur ein bisschen bewegen kann:
"Und das ist Farley. Du hast wahrscheinlich gehört, was die Leute in der Schule über sie sagen. Vielleicht glaubst du mir nicht, wenn ich dir versichere, dass sie unschuldig ist, aber ... ich vertraue ihr. Und, keine Ahnung, ob du das weißt, aber Macey Simmons war meine beste Freundin. Eventuell ist das ein Beweis für dich, dass ich Farley gegenüber absolut keine Zweifel hege."
Ich merke, wie er sich seine Wortwahl vorsichtig überlegt, vermutlich um vor Eve nichts falsches zu sagen.
Ich nicke Eve kurz als Begrüßung zu, während er mich vorstellt. Auch wenn in meinem Inneren gerade meine Gedanken wild umherspringen. Ich finde es ja nett, dass Nate mich vorstellt, aber es wäre schlimm, wenn sie anfangen, über mich zu reden. Nein, nein! Bitte hört auf über mich zu reden, es wäre katastrophal, wenn Nate gerade jetzt, an einem Abend, den ich einfach glücklich verbringen wollte, davon erfährt.
"Ich weiß doch, dass sie Farley ist. Und danke, dass du es nochmal bekräftigst", meint sie etwas verwirrt, bevor sie mir mir ungewohnt fest in die Augen schaut und fortfährt:
"Aber man darf nicht immer jedem trauen."
Verdammt. Hat Nate gemerkt, dass wir uns kennen? Offensichtlich ist er auf jeden Fall gerade dabei, es herauszufinden, da er verwirrt zwischen Eve und mir hin und her schaut.
Ungemütlich wende ich meinen Blick ab, in der Hoffnung, dass er mein Unwohlsein nicht bemerkt, als er fragt:
"Kennt ihr euch bereits?"
Ich ziehe scharf die Luft ein.
Jetzt muss ich schnell handeln. Ich muss Eve mit einer Antwort zuvorkommen. Aber was sage ich?
Eilig beuge ich mich zu ihm rüber und flüstere:
"Bitte, frag so etwas nicht. Ich will nicht nochmals hören, dass ich das Gespräch in der ganzen Schule bin. Ich will nicht hören, wie jeder negativ über mich denkt. Und woher soll sie mich kennen als von Schulgesprächen."
Ich hoffe, das reicht für den Moment. Auch wenn mir Sekunden später auffällt, wie viel schlimmer ich meine Lüge gemacht habe, indem ich sie nochmals bekräftige.
Nate schaut mich zwar skeptisch an, fragt aber nicht weiter. Und zum Glück steht Eve auch nur mit gesenktem Blick und Schultern wortlos da.
Nachdem weder Eve noch ich etwas weiteres sagen, entscheidet sich Nate, Eve wieder anzusprechen:
"Okay ... Also, Eve, hast du vielleicht etwas Zeit, um ein paar Fragen von mir und Farley zu beantworten?"
"Worüber?", fragt sie vorsichtig.
Anscheinend will Nate zumindest dieses Mal nicht mit dem Problem taktlos herausplatzen, da er Eve ziemlich ratlos anschaut und immer wieder davor ist, etwas zu sagen, sich aber dann doch wieder zurückhält. Was prinzipiell ein Fortschritt ist, wenn er nicht jetzt mich fragend anschauen würde. Also ich werde ihm definitiv nicht helfen. Das wäre, sich sein eigenes Grab zu schaufeln. Deswegen zucke ich bloß ratlos tuend mit den Schultern und setze ein entschuldigendes Lächeln auf.
Er sieht nicht gerade erfreut von der Situation aus, als er sich wieder zu Eve dreht und tief einatmet.
"Den Tag, an dem es passiert ist. Wir versuchen nämlich seit einiger Zeit, die Sache aufzuklären. Und du kannst uns helfen", versucht er zu erklären.
Ich weiß, dass er es so formuliert hat, um Begriffe wie 'Mord' oder 'töten' nicht zu verwenden, trotzdem wirkt die Erklärung deswegen sehr gezwungen. Allerdings war es eine gute Idee, dass er es so angesprochen hat, dann selbst jetzt zieht Eve scharf die Luft ein und fängt an, fahrig mit ihrer Rockfalte zu spielen, während sie auf den Boden schaut. Leider kann ich deswegen nicht wirklich erkennen, was sie davon hält, dass wir sie wegen Mr. Winters ausfragen wollen.
Angespannt beobachte ich, ob sie uns nun Antworten gibt. Weil wenn sie es tun würde, wäre das ein großer Fortschritt für uns, und solange das Gespräch sich nicht um mich dreht, sollte doch alles gut gehen.
Endlich zeigt Eve eine Reaktion und schaut wieder hoch, direkt in Nates Augen, und fragt:
"Würdest du über Macey reden?"
Ich bin zugegebenermaßen wirklich erstaunt über diese direkte Frage.
Nate muss erstmal stark schlucken und sieht sichtlich nicht wohl in seiner Haut aus, als er fragt:
"Meinst du das jetzt rein hypothetisch oder willst du tatsächlich irgendwas diesbezüglich wissen?"
"Beides", meint Eve, "Würdest du jedem sofort über Macey erzählen? Nein. Also ist es ziemlich unverschämt und anteilnahmslos, mich danach zu fragen. Allerdings sitzen wir immerhin auch im selben Boot, und da muss man doch zusammenhalten."
Ich bin wirklich erstaunt, dass sie Nate als 'unverschämt' betitelt hat, und anscheinend ist sie das selber auch, denn sobald sie das ausgesprochen hat, macht sie einen entgeisterten Gesichtsausdruck und verdeckt mit einer Hand ihren Mund, während sie wieder zum Boden schaut.
"Damit magst du Recht haben, aber ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen. Und - wie du gerade gesagt hast - wir sind auf derselben Seite. Du willst doch sicher auch, dass der Täter gefasst wird. Wenn du uns hilfst, könnte das einen großen Teil dazu beitragen", versucht Nate es nochmals.
"Das sollte euch helfen? Also ein bisschen gutgläubig ist das ja schon", antwortet sie mit einer Verbitterung, die anscheinend auch ihr ganz neu ist. Nach kurzem Überlegen fährt sie aber hoffnungsvoll fort:
"Allerdings, wenn du auch nur ein bisschen Recht hast..."
Sie bricht ab, vermutlich weil sie gemerkt hat, dass sie viel zu viel Hoffnung in Nate steckt, und atmet erstmal kurz ein, bevor sie gelassener fortfährt:
"... sollte es mein Ziel sein, dazu beizutragen."
Ich merke, wie Nate plötzlich ganz erleichtert seine angespannten Schultern fallen lässt.
"Danke. Du wirst es nicht bereuen", erwidert er.
Sie nickt nur und schaut dann mich skeptisch an. Sie runzelt ihre Stirn und zuckt kurz mit den Schultern, bevor sie mich anspricht:
"Farley, du kannst auch hier bleiben, wenn du möchtest. Nicht, weil du nicht mehr als Verdächtige in Frage kommst, sondern weil wenn du die ..."
Sie muss hart schlucken und dreht sich kurz von mir weg, vermutlich um nicht zu zeigen, dass sie kurz davor ist, zu weinen, bevor sie fortfährt:
"... Mörderin bist, du sowieso alles bereits wüsstest."
Ich schenke ihr ein Lächeln und nicke.
Ich bin froh, dass ich da bleiben kann, so kann ich aufpassen, dass das Gespräch nicht in die falsche Richtung gerät, und dass Nate keinen zu direkten Kommentar abgibt.
"Also, was willst du wissen? Aber lass uns davor irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist", flüstert sie Nate zu, dabei die umstehenden Menschen auschauend.
"Wohin sollen wir gehen?", frage ich, doch Eve zuckt nur mit ihren Schultern.
"Nach draußen?", schlägt sie unsicher vor.
"Nein, es ist richtig kalt draußen, da erfrieren wir ja", erwidere ich nachdenklich und füge dann meine Idee an:
"Aber was haltet ihr davon, wenn wir in den Backstage-Bereich gehen? Die Tür schien noch nicht abgesperrt worden zu sein. Wenn jemand vorbeikommen sollte, könnten wir ja behaupten, dass du, Nate, dort einfach etwas vergessen hast."
"Klar. Ich bin mir sicher, das wird niemanden sonderlich stören", stimmt mir Nate zu.
Mit einem Nicken manche ich mich auf den Weg zum Backstage-Bereich.
Mich umschauend, ob uns jemand misstrauisch beobachtet, stoße ich die Tür auf und warte, bis Nate und Eve hindurch gegangen sind, bevor ich sie sorgfältig schließe.
"Du meintest ja, dass du auch etwas über Macey wissen möchtest. Wenn du willst, beantworte ich dir zuerst deine Fragen", fängt Nate einfach an, nachdem wir alle uns umgeschaut haben, ob nicht doch irgendwelche Leute in der Nähe sind.
Kurz denkt Eve über Nates Angebot nach, doch schüttelt dann ihren Kopf.
"Ich sollte nicht das Unweigerliche herauszögern", antwortet sie, und jetzt, da die Musik nicht mehr so laut ist, kann ich sie auch endlich verstehen. Ich würde sie am liebsten umarmen, wegen dem Eifer, der ihr ins Gesicht geschrieben steht, und für ein bisschen die Traurigkeit ablöst. Allerdings bin ich so weise und halte mich zurück.
Nate nickt nur zufrieden und fängt möglichst behutsam mit dem Thema an:
"Okay. Wie wäre es, wenn du uns erzählst, was du an diesem Tag gemacht hast und warum du zum Lehrerzimmer gegangen bist?"
Ich sehe, wie Eve sich sichtlich wegen der Frage windet, und ich lehne mich nach vorne, teils weil ich gespannt bin, was sie sagen wird, teils weil ich mir Sorgen mache, wie sie diese Fragerei wohl übersteht.
"Also", fängt sie ganz langsam an, "Ich bin zu Mr. Winters' Sprechstunde gegangen. Wie ich es bereits seit fast fünf Monaten mache. Immer freitags, immer am Nachmittag."
"Ah. Und wieso hast du dich so oft mit ihm getroffen?", fragt er, eindeutig verwirrt, da er nicht weiß, wie er es einordnen soll.
"Hattet ihr Mr. Winters im Unterricht? Dann müsst ihr doch wissen, wie fürsorglich er gegenüber seinen Schülern war. So eben auch zu mir."
"Ja, hatten wir, aber ... Vielleicht kannst du konkretisieren, was du damit meinst?", erwidert Nate.
Meine Güte, ist dieser Kerl absolut inkompetent, wenn es um soziale Feinfühligkeiten geht. Jeder sollte inzwischen gemerkt haben, dass Eve vermutlich einfach Probleme mit anderen Schülern hat. Durch ihre Art aufzutreten, durch ihre wagen Andeutungen, sollte man das doch gemerkt haben. Und warum will Nate das konkreter wissen? Es hat keinerlei Mehrwert, wenn Eve darüber redet, außer, dass sie sichtlich unwohl erscheint. Ungemütlich verlagert sie immer wieder das Gewicht von einem Bein auf das andere, offensichtlich nicht wissend, was sie antworten soll.
"Ja, wir haben immer sehr unterhaltsame Gespräche über die Schule insgesamt geführt", antwortet sie letztendlich.
"Okay", kommentiert Nate etwas befremdet, anscheinend immer noch nicht darauf kommend, worüber sie sich unterhalten haben, und sich deswegen vermutlich bereits allerlei Zenarien ausdenkend, was zwischen ihnen vorgefallen sein könnte.
"Und was genau ist an diesem Tag passiert? Hast du irgendjemand anderen dort gesehen?", fragt Nate, nachdem er sich mit dem Gedanken abgetan hat, dass er sich nicht zu lange mit dem Verhältnis zwischen Eve und Mr. Winters aufhalten sollte.
"Ich bin wie immer um Punkt halb vier zum Klassenzimmer gekommen, wo ich mich sonst immer mit Mr. Winters treffe."
Sie hält kurz inne und fügt dann leise an:
"Ich meine, getroffen habe. Auf dem Weg dorthin ist mir nichts ungewöhnliches aufgefallen. Obwohl, dieser eine Junge, welcher sich in der Pause angeblich auf den Tisch gestellt und angefangen hat, Ansagen zu machen, ist mir entgegengekommen. Aber ansonsten niemand. Ich dachte, Mr. Winters würde wie immer verschiedene Arbeiten von Schülern kontrollieren und mich anlächeln, sobald ich in das Zimmer betrete. Doch dann habe ich die Tür aufgemacht und-"
Sie bricht abrupt ab und fängt an, leicht zu zittern, während sie auf den Boden schaut. Nicht wissend, was ich tun soll, trete ich ein paar Schritte näher und lege eine Hand auf ihre Schulter, um sie etwas zu beruhigen. Und dieses Mal schlägt sie sogar meine Hand nicht sofort weg.
Währenddessen werfe ich Nate einen bedeutsamen Blick zu, da wir beide wissen, dass Howard ihr entgegengekommen ist. Und das kann nichts Gutes bedeuten. Gerade schaut Nate mir mit aufgewühltem Blick in die Augen, sich vermutlich fragend, warum Eve ausgerechnet Howard angetroffen hat. Und mich bestärkt es nur in meiner Vermutung, dass er tief in der Sache drinsteckt. Warum musste Colby so ein Arschloch sein? Selbst die Polizei will uns nicht helfen.
"Wie hat er auf dich gewirkt? Und hast du der Polizei davon erzählt?", fragt Nate Eve.
"Ich weiß nicht, wie er sich gegeben hat, weil ich nicht auf ihn geachtet habe. Ich weiß fast gar nichts mehr von meinem Weg zum Lehrerzimmer", sagt sie verzweifelt, "Und der Polizei habe ich es auch erzählt. Allerdings meinten sie zurecht, dass sie dort zwar nachforschen werden, das allerdings kein handfester Hinweis sei."
Und wieder hilft die Polizei nicht. Von wegen "dein Freund und Helfer". Mit wagen Antworten speisen sie uns ab.
Mit leichter Verzweiflung in seiner Stimme fährt Nate mit seinen Fragen fort:
"Okay. Fällt dir sonst noch irgendetwas ein, das wichtig sein könnte?"
"Also ich weiß nicht, ob das wichtig ist, allerdings verstand sich diese abscheuliche Person, die das Mr. Winters angetan hat, auf ihre Handlungen. Also eine Polizistin hat es mir erzählt, dass es zwei Gründe gibt, warum die Polizei keinerlei Beweise durch Spuren des Täters finden kann: Entweder der Täter hinterlässt keinerlei Spuren von sich, was aber meistens nicht möglich ist, da einem eigentlich immer irgendwie Haare oder Hautschuppen herunterfallen. Der andere Grund wäre, der Täter hinterlässt noch Hinweise auf ganz andere Personen oder einfach Staub oder Deck. Somit hat die Polizei keine Möglichkeit, durch die Untersuchung auf DNA-Überreste handfeste Beweise zu finden. Und genau das war auch bei Mr. Winters so. Nehmt euch deswegen bitte in Acht. Der Täter weiß, was er tut", erklärt uns Eve.
Für eine Weile sagt Nate nichts und scheint dafür angestrengt nachzudenken. Doch als er sich dann zu mir dreht, fragt er:
"Hast du noch Fragen?"
Perplex schaue ich ihn an.
Ich? Ist ja nett von ihm, dass er mich das fragt, aber ich habe kein Interesse, noch länger mit Eve zu reden, wenn Nate in der Nähe ist. Schließlich gibt es Dinge, die er nicht erfahren sollte. Deswegen tue ich kurz so, als ob ich nachdenken würde, und schüttle dann den Kopf, während ich es verneine:
"Also mir fällt auf die Schnelle gerade nichts ein."
Nate nickt langsam und wendet sich dann wieder an Eve:
"Okay, Eve, dann wirklich vielen Dank, dass du uns das alles erzählt hast."
Sie nickt langsam und meint dann mit leiser, zitternder Stimme:
"Jetzt bist du dran. Wie hast du es ausgehalten, dass Macey plötzlich weg ist?"
Ich kann klar und deutlich die Verzweiflung aus ihrer Stimme hören, und nur zu gerne würde ich ihr helfen. Aber hier bin ich machtlos.
Man sieht Nate an, wie unwohl er sich fühlt, das ansprechen zu müssen, doch anscheinend merkt er, dass er es Eve schuldet, denn er beantwortet ihre Frage:
"Keine Ahnung. Übertrieben laute Musik gehört. Versucht, es zu verdrängen und mich an dem Gedanken festgehalten, dass noch nicht alles aussichtslos ist, da zumindest der Täter noch gefasst werden kann, schätze ich. Obwohl sie das natürlich nicht zurückbringt."
Ich fühle mich zum ersten Mal fehl am Platz. Das ist kein Gespräch, zu dem ich etwas beitragen kann. Das ist auch kein Gespräch, bei dem ich dabei sein sollte. Ob ich wohl gehen sollte? Aber das käme schon ziemlich seltsam.
Ich sehe Eve an, wie wenig es ihr geholfen hat, allerdings setzt sie ein Lächeln auf und bedankt sich mit einem Nicken bei Nate.
"Ist es besser mit der Zeit geworden?", fragt Eve weiter, immer verzweifelter.
Ich merke, wie ich bei diesem Gespräch eigentlich nichts mehr zu suchen habe.
Das sind Probleme, mit denen sie sich beide spezifisch auseinander setzen müssen. Da habe ich nichts verloren.
Aber ich habe Angst, dass Eve ausplappert, dass ich bei der Polizei gewesen bin, obwohl sie gerade über ein anderes Thema reden. Andererseits erscheint mir Eve nicht wie eine Person, die über andere redet. Ich sollte ihnen definitiv ihre Privatsphäre gönnen. Vielleicht tut es beiden gut. Ich muss einfach vertrauen, dass Eve nicht über mich redet.
"Hey", unterbreche ich ganz kurz, "Ich muss jetzt langsam nach Hause."
Nachdem ich mich kurz verabschiedet habe, husche ich schnell aus dem Backstage-Bereich.
Ich hoffe, sie können sich über ihre Probleme austauschen.
Mein Dad kommt leider erst in einer halben Stunde, die ich wohl abwarten muss. Dafür hoffe ich, dass Nate Eve etwas helfen kann, und das ist wichtiger, als mein Sträuben, dass ich alleine sein werde.
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