Kapitel 32: Nate
Zeitgleich als Sean das letzte "more" von "Rebel Yell" mehr oder weniger schreit, beende auch ich die Bassline.
Ruckartig streiche ich mir eine Haarsträhne von der schweißnassen Stirn. Fast hatte ich vergessen, wie scheiße warm es meistens bei Konzerten, aber ganz besonders im Live Wire, werden kann.
Während Ethan und Henry in ein kurzes abschließendes Solo übergehen, werfe ich nochmal einen Blick ins Publikum.
Den Gesichtern und der gelassenen Stimmung nach zu urteilen, haben wir uns ganz gut geschlagen. Aber eigentlich gleitet mein Blick nur flüchtig über das restliche Publikum hinweg, weil ich nach Farley Ausschau halte.
Ihr Anblick, als sie in der Menge stand und lächelnd einen Daumen nach oben zeigte, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich kann mich an keinen Moment jüngster Vergangenheit erinnern, der eine elektrisierendere Wirkung auf mich gehabt hätte. Wann immer ich Farley während dem Konzert im Publikum gesehen habe, hat mich eine tiefe Lebendigkeit erfüllt, ein Gefühl, als wären alle Schatten von mir gewichen. Es waren Momente, an die ich mich erinnern werde.
Aber noch gehört das Gefühl nicht der Vergangenheit an, denn da sehe ich sie, wie sie beinahe ganz vorne an der Bühne steht und gemeinsam mit den anderen Leuten applaudiert, als das Solo zum Ende kommt.
Mein Lächeln vertieft sich, sobald ich sie dort sehe, und ich achte nicht wirklich auf Sean's Abschlussrede, in der er sich beim Publikum bedankt.
Ihr Blick fängt meinen und ich sehe in ihren Augen, dass es ihr gefallen hat. Das freut mich mehr als alles andere.
Unter dem Applaus und vereinzelten Rufen gehen wir schließlich von der Bühne, und das unwirkliche, adrenalingelandene Gefühl, das ich während der Show hatte, ist noch nicht vollständig abgeklungen. Mir wird klar, dass ich mich seit einer langen Zeit nicht mehr so gut gefühlt habe.
"Wuhu! Wir haben gerockt, Leute!", ruft Henry in einen Sturm der Euphorie.
Seine Haare sind jetzt nach dem Auftritt noch ungeordneter als sonst schon und stehen in alle Richtungen ab.
"Ja man, ich hätte nicht gedacht, dass es so gut läuft!", stimmt Ethan zu, gibt erst ihm ein High Five und hält mir dann ebenfalls die Hand in. Grinsend schlage ich ein.
Wir waren zwar nicht überragend, das ist wahrscheinlich auch den anderen klar, aber die Leute waren nachsichtig genug, sich von den doch sehr bekannten Liedern mitreißen zu lassen.
Ich halte nach Sean Ausschau, der ziemlich schnell aus meinem Blickfeld verschwunden ist, und sehe, wie er mit einer Wasserflasche zurückkommt, die er beinahe in einem Zug leert.
Er wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und meint dann:
"Akzeptable Leistung. Ihr habt es ja doch noch einigermaßen hinbekommen. Auch wenn ihr Glück hattet, dass das Publikum nicht sonderlich kritisch war."
Genervt verdrehe ich die Augen und sehe, wie Ethan bloß den Kopf schüttelt, während Henry sich lieber zurückhält.
Diese Aussage von Sean war mal wieder typisch und holt mich nach den wahnsinnigen Momenten auf der Bühne wieder ein Stück weiter in die Realität zurück.
Ich stelle meinen Bass neben Ethan's Gitarre ab, als es plötzlich an der Tür klopft. Da ich denke, dass es vielleicht Farley sein könnte, drehe ich mich erwartungsvoll in die entsprechende Richtung.
Doch das Mädchen, das jetzt den Raum betritt, ist nicht sie. Ich muss sie nur kurz mustern, um mir sicher zu sein, dass das Madison ist - das Mädchen, auf das Ethan steht und von der er dementsprechend viel erzählt hat, weshalb ich sie auch sofort erkenne. Allein diese unnormal großen Tunnelohrringe sind ein sicheres Merkmal.
Ethan hat sie auch bemerkt und geht auf sie zu, während ich mich neben Henry auf so einer kleinen Couch, die im Raum steht, niederlasse und mir ebenfalls eine Wasserflasche nehme. Sean steht etwas abseits und tippt desinteressiert irgendwas auf seinem Handy.
Jetzt bin ich ja mal gespannt, ob Ethan's Hoffnungen erfüllt werden.
"Hey, Maddy. Schön dich zu sehen", begrüßt er sie, und man kann deutlich die unterschwellige Nervosität in seiner Stimme heraushören.
"Klar, du hast mich ja eingeladen", entgegnet sie, bevor sie mit ihrem Kaugummi eine Blase macht. Sie wirkt ein wenig gelangweilt, aber laut Ethan ist das einfach ihre Art. Ja, er hat wirklich viel von ihr erzählt.
Er lacht leicht, und fragt dann:
"Und, hat es dir gefallen?"
Irgendwie ist es interessant zu beobachten, wie viel unsicherer er in ihrer Gegenwart ist, im Vergleich zu sonst. Sie scheint ihm wirklich wichtig zu sein. Deshalb hoffe ich echt für ihn, dass ihre Antwort eine positive sein wird.
"Ja, hat es total", meint Maddy.
Henry, der ebenso gespannt wie ich das Geschehen verfolgt, fängt an zu grinsen, sich offensichtlich für seinen Kumpel freuend und wohl auch ein bisschen stolz auf unsere Band als gesamtes.
Doch da redet Maddy schon weiter:
"Also, nochmal danke, dass du mir davon erzählt hast. Das war ein toller Abend. Du bist echt ein klasse Kumpel."
Oh scheiße. Ethan wurde gerade in bester Manier gefriendzoned.
Sein höchst erfreutes Lächeln kippt innerhalb von Sekunden nach unten, und ich höre, wie auch Henry neben mir scharf die Luft einzieht und dann den Kopf wegdreht, als könnte er es nicht ertragen, die Demütigung im Gesicht seines Freundes weiterhin zu sehen.
Fuck, der arme. Das hat Ethan echt nicht verdient.
Er braucht ein paar Augenblicke, um sich einigermaßen zu fangen, bevor er krächzend hervorbringt:
"Ja, natürlich. Gerne. Man sieht sich."
Die gespielte Gelassenheit in seiner Stimmlage ist eindeutig dazu da, um seinen Schmerz zu verbergen.
Aber anscheinend hat Madison nicht genug Menschenkenntnis oder es ist ihr schlichtweg egal, denn sie lächelt nur freundlich, bevor sie sich verabschiedet.
"Natürlich. Tschüss!"
Letzteres ist anscheinend auch an uns andere gerichtet, denn sie winkt dabei in die Runde, bevor sie sich abwendet und aus dem Raum stolziert.
Ethan steht immer noch wie versteinert an der gleichen Stelle, seine Augen fassungslos auf die rote Tür, durch die Maddy gerade verschwunden ist, gerichtet.
Hilflos werfe ich Henry einen Blick zu, nicht sicher, was man in dieser Situation am besten zu Ethan sagen sollte, aber ich weiß, dass ich irgendetwas sagen will.
Ihm scheint es ähnlich zu ergehen, denn er zuckt nur ratlos mit den Schultern.
Aber es wäre besser gewesen, hätte einer von uns zumindest irgendetwas gesagt, denn nun durchbricht auf einmal Sean die betroffene Stille im Raum:
"Was hast du erwartet."
Gelangweilt drückt er seine leere Wasserflasche zusammen und wirft sie in den nahestehenden Mülleimer.
Ungläubig starre ich ihn an.
Dieses Arschloch. Er könnte zumindest einen Funken Mitgefühl mit Ethan haben, immerhin ist er ja wirklich kein Fremder für ihn, sondern sein fucking Bandkollege.
"Sean...", fängt auch Henry an, jedoch ohne den Satz, der in einem ermahnenden Tonfall begonnen hatte, zu beenden.
Gott, wie sehr ich dieses Drama hasse. Ich wünsche mir bereits jetzt, dass wir einfach wieder zurück auf die Bühne gehen und alles außenrum vergessen könnten. Abgesehen davon will ich unbedingt mit Farley reden. Aber ich kann jetzt nicht einfach gehen, das ist mir klar.
Besorgt beobachte ich, wie Ethan langsam aus seiner Erstarrung erwacht und sich in einer dezent aggressiv wirkenden Körperhaltung zu Sean umdreht. Der Schmerz und die Enttäuschung über Madison's Worte scheinen sich in unfassbare Wut auf Sean gewandelt zu haben - was ja auch mehr als verständlich ist.
Kurzzeitig mache ich mir Sorgen, dass jetzt gleich eine Schlägerei oder so zwischen den beiden entstehen könnte, aber Ethan dringt nicht weiter in Sean's Richtung vor, sondern verkündet nur mit zorniger Stimme:
"Weißt du was, Sean, mir reicht's. Ich habe deine ganze beschissene Art sowas von satt! Du kannst mich mal - ich verlasse die Band."
Mit diesen Worten packt er ruckartig seine E-Gitarre und geht mit entschlossenen Schritten auf die Türe zu.
Von Sean erntet er nur einen unbeteiligten Blick. Das alles scheint ihm nicht wirklich groß etwas auszumachen.
Ich merke, dass Henry neben mir schnell aufspringt, doch bevor er etwas sagen kann - den Mund hat er bereits geöffnet - schneidet Ethan seine Worte ab.
"Vergiss es, Hen. Ich hab' dich gewarnt."
Damit spielt er wohl auf seine Aussage von unserer ersten Bandprobe an, von wegen, dass er austreten würde, sollte der Gig ein Desaster werden. Und auch, wenn das im objektiven Sinne vielleicht nicht einmal der Fall war, ist es dennoch für ihn sicher nicht gut gelaufen. Ich kann seine Entscheidung absolut verstehen, doch es ist schade, da ich ihn wirklich gut leiden kann.
Ethan reißt die Türe auf und verabschiedet sich mit einem an mich und Henry gerichteten "Wir sehen uns, Leute", bevor er endgültig verschwindet und die Türe hinter ihm laut ins Schloss fällt.
Das war's dann wohl mit der kurzen glorreichen Zeit der Metalheads in the Hood.
"Sag mal, dir ist schon klar, dass wir gerade unseren Gitarristen verloren haben?!", wendet Henry sich ungläubig an Sean, der immer noch gelangweilt an die Wand gelehnt dasteht.
"Na und? Es gibt genug Leute, die Gitarre spielen können. Wir finden jemand anderen."
Ich schüttele nur resigniert den Kopf. Der Kerl ist echt ein hoffnungsloser Fall.
Sprachlos starrt Henry ihn an und holt dann zu einem langen Vortrag aus:
"Wir können doch nicht jede Woche einfach die Besetzung wechseln! Außerdem ist Ethan ein Kumpel - musste dein Kommentar wirklich sein? Ich meine..."
Ab irgendeinem Punkt klinke ich mich aus und beschließe, trotz oder gerade wegen diesem plötzlichen Drama in der Band Farley zu suchen. Irgendwie will ich immer noch wissen, ob es ihr auch wirklich gefallen hat.
Aber ich muss mich gar nicht auf die Suche nach ihr machen, denn sobald ich durch die Türe trete, sehe ich sie schon, wie sie etwas abwesend wirkend an die Wand gelehnt dasteht.
Anscheinend hat sie auf mich gewartet.
Ich gehe auf sie zu und meine lächelnd:
"Du hättest auch reingehen können."
"Echt? Ich dachte, man könnte hier nicht einfach so rein", antwortet sie verwundert, wobei sie auf das "Staff Only"-Schild deutet.
Überrascht folge ich ihrem Blick, da das wahrscheinlich das erste Mal in der Geschichte des Live Wire's ist, dass sich jemand um dieses Schild schert.
"Doch, eigentlich schon. Im Grunde interessiert diese Regelung niemanden. Es kommen ständig Leute, die die Mitglieder der auftretenden Band kennen, in den Backstage-Bereich."
"So etwas habe ich mir schon gedacht, als dieses andere Mädchen rausgekommen ist. Ich wollte allerdings auf Nummer sicher gehen. Ist Ethan ihr eigentlich nachgestürmt? Weil er ist so eilig herausgegangen, dass er mich gar nicht bemerkt hat", antwortet sie.
"Ich glaube nicht, dass er ihr gefolgt ist. Sie hat ihn gerade gefriendzoned", erkläre ich nachdenklich, "Und weil Sean daraufhin einen, sagen wir, nicht sonderlich sensiblen Kommentar abgelassen hat, hat Ethan spontan die Band verlassen. Nicht mal eine halbe Stunde nach unserem ersten Gig."
Irgendwie ist diese Ironie so bitter, dass ich die Gelegenheit, das ganze in einem aufgesetzt fröhlichen Tonfall zu erzählen, nicht ungenutzt verstreichen lassen kann.
Ungläubig zieht Farley die Augenbrauen nach oben.
"Also irgendwie verschwinden die Bandmitglieder wie die Gletscher in den letzten paar Jahren."
Ihr schwarzer Humor bringt mich leicht zum Grinsen.
"Stimmt. Keine Ahnung, wie Sean das wieder gerade biegen will. Vielleicht beschließt er, selbst das Gitarre spielen zu übernehmen. Bei seinem Ego könnte ich mir das durchaus vorstellen."
Wie aus den Nichts schlägt plötzlich ein beunruhigender Gedanke blitzartig in meinem Kopf ein: Sollte die Band jetzt wegen Ethan's Austritt dauerhaft auseinanderbrechen, dann habe ich keine Chance mehr, mit Eve zu reden. Fuck, wie konnte ich das vergessen. Wie konnte mich diese ganze Sache mit dem Gig - und Farley - so ablenken, dass ich für eine Weile nicht mehr das eigentliche Ziel vor Augen hatte?! Es geht um Macey. Meine beste Freundin. Die verdammten Morde. Scheiße, was für ein unfassbares Arschloch bin ich eigentlich - ich genieße den Auftritt mit der Band, der ich nur mit dem Ziel, den Täter zu finden, beigetreten bin, so sehr, dass ich das für eine Weile vollständig verdrängt habe? Fuck, es tut mir so leid, Macey, es tut mir so leid. Wie konnte ich das nur aus den Augen verlieren.
Ich merke, wie ich leicht panisch werde.
Farley sieht mich musternd an, mein plötzliches Unwohlsein scheint nicht unbemerkt an ihr vorbeigegangen zu sein.
"Ist irgendetwas passiert? Was ist auf einmal los?", fragt sie dann.
Kurz ringe ich mit mir, ob ich ihr die Wahrheit sagen soll. Aber ich kann es nicht. Ich will nicht zugeben, was ich gerade denke und fühle, weil ich nicht riskieren will, dass sie mich nicht verstehen würde und weil es in jedem Fall zu beschämend ist.
"Gar nichts", antworte ich zu schnell, als dass es wie die Wahrheit rüberkommen würde, und hänge noch als Ablenkungsmanöver an:
"Wie fandest du eigentlich den Auftritt?"
Mich interessiert ihre Antwort immer noch, auch wenn das erneut dafür sorgt, dass ich ein schmerzhaft schlechtes Gewissen habe.
Ich bin mir sicher, dass sie merkt, dass dieser Themenwechsel in erster Linie ablenken soll, aber sie beschränkt sich auf einen prüfenden Blick und antwortet:
"Dafür, dass ihr erst seit kurzem zusammen spielt, wart ihr nicht schlecht."
Ich lächele etwas gequält, auch wenn der Ursprung ehrlich ist.
"Zusammengespielt habt, wäre wohl der richtige Ausdruck. Aber danke. Es freut mich, dass es dir gefallen hat, obwohl es ja nicht gerade das ist, was du normalerweise hörst", meine ich - in einem verzweifelten Versuch, dass das Reden mich vor dem aufbrechenden Schmerz bewahren könnte.
"Stimmt, ich vergaß. Und ja, ich denke das dies nie ein Genre sein wird, das ich ganz besonders mag. Also muss es doch wohl etwas heißen, wenn selbst ich es ganz gut fand."
Ich habe das Gefühl, zwischen zwei Welten gefangen zu sein. Einerseits freut mich ihre simple Aussage wahnsinnig, aber andererseits fühle ich überwältigende Schuld in Hinblick darauf, wie sehr ich meine Aufgabe, Macey Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, verdrängt habe, nur um selbst kurzfristig glücklich zu sein. Ich habe kein Recht darauf. Nicht zwangsläufig weil Macey tot ist, nein, ich weiß, dass sie etwas derartiges - dass ich mein Leben nicht nicht mehr auf die Reihe kriege - sicher nicht wollen würde. Es geht mir viel eher darum, dass ihr Mörder noch in Freiheit ist. Dass er wieder zuschlagen und ein weiteres Leben nehmen kann, jeden Augenblick. Ihn zu finden ist die einzige Gerechtigkeit, die es für Macey jetzt noch gibt, auch wenn sie ihr Leben verloren hat. Ich bin es ihr schuldig, sonst hat jeder Augenblick, den ich mit ihr verbracht habe, seit wir uns in der Junior High kennengelernt haben, keine Gewichtung mehr. Und dafür war und ist mir Macey zu wichtig. Verdammte Scheiße, ich vermisse sie so. Mir fehlt ihre Anwesenheit mehr, als ich in Worte fassen könnte.
Ich muss wirklich alles in meiner Macht stehende tun. Und danach kann ich solche Dinge, wie einen Auftritt mit einer Band, genießen.
Aber was ich auf gar keinen Fall zu diesem Zeitpunkt aufgeben könnte, ist Farley's Gesellschaft. Keine Ahnung, woran das liegt. Doch ich würde sie sicher nicht missen wollen.
Auf einmal höre ich das Knarren der Tür in meinem Rücken, und bevor ich Farley noch antworten kann, steht Henry vor mir.
"Ah, hier bist du. Wir müssen noch das ganze Zeug wegräumen. Kommst du?"
Ich habe gerade so gar kein Bedürfnis, mich jetzt in der Gesellschaft von Sean aufzuhalten und Henry's Kommentare zu hören, während ich den ganzen Shit, den wir erst vor ein paar Stunden hergerichtet haben, wieder aufräumen soll. Das kann Sean - der sich durch seine Beschwerden zuvor schön davor gedrückt hat - mal gerne selbst erledigen.
Ich brauche nur schnell eine spontane Ausrede, die Henry überzeugt.
"Ja, klar, ich muss davor nur noch kurz was mit Farley klären", meine ich, wobei ich einen Schritt in ihre Richtung mache und ihr ohne groß darüber nachzudenken meinen Arm leicht um die Schulter lege.
Verwundert schaut sie mich an, und erst da realisiere ich, wie willkürlich diese Geste gerade ist.
Während ich den Arm schnell wieder runternehme und mich frage, was zum Teufel das eben sollte, fängt Farley an zu reden:
"Nein. Ich denke, du solltest wie ein jeder hilfsbereite Mensch sofort deine Unterstützung anbieten."
Verdammt. Ihr inzwischen prüfender Blick verrät mir, dass sie meine Absicht klar erkannt hat und mir bewusst einen Strich durch die Rechnung macht.
"Wir können ja immer noch später reden", fügt sie an und gibt mir einen sanften Schubs in Richtung Henry, der die ganze Szene etwas irritiert mitverfolgt hat.
"Na dann", meint er und zieht sich in den Gang zurück.
"Super. Du bist zu gnädig, Farley", wende ich mich höchst ironisch an sie, während ich meinem Schicksal ergeben die Türe offen halte, um ebenfalls zurückgehen zu können.
Mein Kommentar erntet nur ein verschmitztes Lächeln von ihr.
Zum Glück dauert der Aufräumprozess nicht so lange, wie erwartet. Nach knapp zwanzig Minuten sind wir komplett fertig, und ich folge meinen - noch verbleibenden - Bandkollegen aus dem Backstage-Bereich, wobei ich meinen Mantel wieder anziehe.
Im Grunde war es vielleicht doch ganz gut, dass ich mich durch die stupide Beschäftigung des Aufräumens wieder etwas beruhigen konnte.
Ich habe unleugbar einen Fehler gemacht, indem ich den Sinn meiner Tätigkeiten zu weit verdrängt hatte, aber das wird sich nicht wiederholen.
Farley ist nicht mehr dort, wo sie vorhin stand, aber ich bin mir sicher, dass sie irgendwo im eigentlichen Bereich des Clubs wartet.
Und ich habe Recht, denn ich sehe sie ziemlich bald auf einem der grauen Stühle sitzen. Mühsam bahne ich mir einen Weg durch die ganzen Menschen, und als Farley mich sieht, winkt sie mir zu.
Ich lasse mich auf dem Stuhl rechts neben ihr nieder.
"Und? Hat doch gar nicht so lange gedauert, nicht wahr?", begrüßt sie mich sarkastisch.
"Es ging ums Prinzip", antworte ich, wobei ich leicht das Gesicht verziehe.
Allerdings kann man nicht wirklich sagen, dass ich Farley ihre Aktion noch übel nehmen würde, dafür ist es zu irrelevant.
Sie schaut mich nur skeptisch an, ohne etwas zu erwidern.
Eine Weile lang herrscht Schweigen unter uns, in welcher ich mich interessiert umschaue und die Leute beobachte. Ein paar Personen, an die ich mich von meinem letzten Besuch hier sogar noch erinnere, fallen mir ins Auge, wie zum Beispiel so ein Punk mit extrem hohen Liberty-Spikes. Es ist echt ein interessantes Phänomen, dass im Live Wire von Typen wie ihm bis zu irgendwelchen Pseudo-Hipstern alles vertreten ist.
Der Song, der gerade spielt, ist ein vergleichsweise unbekannter von Siouxsie and the Banshees, und trotz aller Anstrengungen will mir der Name gerade nicht einfallen.
Mein Blick wandert von der gut besuchten Tanzfläche etwas weiter, und plötzlich sehe ich in einer Ecke drei schwarz gekleidete Gestalten, die ich sofort erkenne.
Grinsend wende ich mich wieder an Farley:
"Erinnerst du dich noch, als du damals nach der Party bei mir zuhause warst, und dachtest, dass ich mich nur mit irgendwelchen 'Gruftis' abgeben würde?"
Sie senkt den Blick, und vielleicht bilde es mir nur ein, aber ich glaube, sie wird ein bisschen rot.
"Ja, als ob es gestern gewesen wäre."
Es scheint so, als wäre es ihr inzwischen peinlich, derartig gedacht zu haben.
Ich erhebe mich von meinem Stuhl und erkläre ihr immer noch lächelnd:
"Jetzt kann ich dir wirklich ein paar vorstellen."
Verwundert schaut sie mich an und meint dann nur "okay", während sie ebenfalls aufsteht.
Zu sich selbst murmelnd fügt sie an:
"Na dann, mach das mal."
Ich kämpfe mich am Rand der Tanzfläche durch die Menschenmenge, Farley ist ein paar Schritte hinter mir.
Im Grunde ist meine Hauptmotivation nicht wirklich, dass ich sie unbedingt Jared, Kenny und Rosie vorstellen wollen würde, sondern einfach, dass ich mich selbst gerne mal wieder mit ihnen unterhalten möchte. Ich habe die drei im Sommer letzten Jahres kennengelernt, als ich vergleichsweise oft ins Live Wire gegangen bin. Sie sind alle genauso alt wie ich, gehen aber auf irgendeine andere High School. Was wirklich schade ist, da ich mich mit jedem von ihnen ziemlich schnell gut verstanden habe. Wir haben stundenlang Diskussionen über Bands und Musik im allgemeinen geführt. Besonders Kenny hat ein unfassbares Wissen über geniale Underground-Bands und Batcave Musik.
Ich fürchte, es war ziemlich unhöflich von mir, einfach nicht mehr hier aufzutauchen, aber ich hatte mich einfach nie überwinden können. Hoffentlich werden sie Verständnis zeigen, doch eigentlich bin ich mir diesbezüglich relativ sicher. Wenn überhaupt, haben sie sich nach meinem "Verschwinden" wohl eher Sorgen gemacht.
Doch plötzlich, auf dem Weg zu ihnen, fängt etwas anderes meine Aufmerksamkeit ein: Nur ein paar Meter entfernt steht Sean und redet auf irgendeinen Typen ein, den ich zwar nicht kenne, aber vorhin im Publikum gesehen habe. Doch das ist es nicht, was dafür sorgt, dass ich abrupt stehen bleibe und meinen eigentlichen Plan hinten anstelle. Denn neben ihm, ein bisschen abseits und verloren wirkend, steht Eve. Nie im Leben hätte ich gedacht, sie hier zu treffen, aber es ist die perfekte Möglichkeit für die Unterhaltung, die ich mit ihr führen will. Ich kann jetzt einfach hingehen, unter irgendeinem Vorwand mit Sean reden und einen Anfang machen, indem ich Eve begrüße, oder so etwas. Und ich kann meinen Fehler des Verdrängens wieder ausgleichen.
Ich drehe mich zu Farley um.
"Planänderung. Siehst du Sean und Eve da drüben? Was hältst du davon, wenn wir zu ihnen gehen und versuchen, mit Eve ins Gespräch zu kommen?", frage ich sie.
Leichte Nervosität beginnt sich in mir breit zu machen.
Farley sieht mich nur skeptisch an, bevor sie entgegnet:
"Wenn du meinst."
Dabei bleibt ihr Blick nachdenklich auf Eve liegen.
Der wenig überzeugte Tonfall in ihrer Stimme stört mich etwas, aber ich klammere mich an die Zuversicht, dass der heutige Abend noch einige elementare Erkenntnisse bringen wird. Und ich hoffe, dass wir dem Ziel, Macey's und Mr Winters' Mörder zu finden, endlich nahe kommen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top