Kapitel 31: Farley

Montag

Vorsichtig tippe ich Nate auf die Schulter und begrüße ihn mit einem Lächeln. Obwohl es Montag ist und mich jeder mit seinen Blicken durchbohrt, während ich einfach an Nates Spind stehe, zaubert Nates nachdenklicher Anblick ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. Schon seltsam.
"Und, freust du dich schon wieder, Mr. Rowley in Ethik zu sehen?", frage ich, weil wir neuerdings in der ersten Stunde am Montag Ethik haben und Mr. Rowley als Vertretungslehrer. Vermutlich haben wir Ethik nun montags, weil der Stundenplan für alle umgeändert werden musste, nachdem Mr. Winters keinen Unterricht mehr halten kann. Das klingt so harmlos, als ob er einfach in einen anderen Staat gezogen wäre. Ich sollte es nicht schön umformen. Mr. Winters wurde kaltblütig ermordet und das sollte ich niemals vergessen.
Nate dreht sich zu mir um und zieht seine Mundwinkel auch zu einer Begrüßung nach oben.
"Klar, mein absoluter Lieblingslehrer, der mich auch überhaupt nicht beinahe ziemlich in die Scheiße geritten hätte", antwortet er mit einer vor Ironie triefender Stimme.
Ich lache amüsiert auf und wispere ihm zu:
"Naja, daran bist du eher selber schuld."
Sein Lächeln intensiviert sich, und ich bin froh, dass er meine Aussage mit Humor nimmt.
"Das würde ich nicht so sehen", erwidert er.
"Ja, ja! Rede dir das nur ein", lache ich.
Als Nate endlich fertig damit ist, in seinem Spind zu kramen, wollen wir gerade los, als Henry von der Prom-Vorbereitung auf uns zukommt. Verwundert bleibe ich stehen, weil wer würde in der jetzigen Situation etwas mit uns zu tun haben wollen, abgesehen von Howard? Und noch verwunderter bin ich, als Henry vor Nate stehen bleibt und meint:
"Danke nochmal, Kumpel. Du warst echt klasse am Samstag."
Verwirrt schaue ich beide an, doch Nate scheint zu wissen, was Henry meint.
Warum weiß ich es nicht?
"Hä? Was ist hier los?", frage ich.
"Ich erkläre es dir gleich", meint er zu mir und wendet sich dann Henry zu und sagt:
"Klar doch, keine Ursache."
Henry nickt mit einem Lächeln und geht ohne mich zu beachten an mir vorbei.

Auch ich und Nate fangen wieder an, in Richtung Klassenzimmer zu laufen, als ich Nate frage:
"Und? Was war das denn jetzt?"
"Also", fängt er an und macht erst mal eine dramatische Pause, bevor er fortfährt:
"Ich bin so einer Band beigetreten. Henry ist auch dabei, er ist Drummer."
Verwirrt schaue ich ihn an, bevor ich anfange zu lachen:
"Wie ist das denn passiert? Da brauche ich schon mehr Zusammenhang. Sag bloß, du spielst jetzt irgendein Metal-Zeug."
"Nein, nein, keine Sorge. Komplett harmloser Hardrock. Und außerdem nur Cover", antwortet er amüsiert.
"Zum Glück!", seufze ich erleichtert auf.
"Aber wie kam es nun dazu?", frage ich nochmals.
"Der alte Bassist hat sich mit dem Leadsänger gestritten, weil der ein komplettes Arschloch ist, und Henry hat mir angeboten, beizutreten. Ursprünglich wollte ich nicht mitmachen - allein wegen dem beschissenen Bandnamen. Bereite dich lieber mental darauf vor."
"Wie heißt die Band?", frage ich vorsichtig.
"Metalheads in the Hood", erzählt er mir, während er sein Gesicht verzieht.
Als ich den Namen höre, muss ich nochmals lachen. Wer kommt denn bitte auf so eine bescheuerte Idee.
"Was? Metalheads in the Hood? Oh mein Gott, du bist in einer Band namens Metalheads in the Hood?", japse ich verzweifelt nach Luft suchend, während ich kaum aufhören kann mit dem Lachen.
Auch er muss anfangen zu lachen.
Doch da sagt er:
"Ja, bin ich. Aber mit einem Hintergedanken, sonst hätte ich mich wohl kaum darauf eingelassen."
Ich werde sofort wieder ernst, da ich mir sicher bin, dass dieser Hintergedanke mit Macey und Mr. Winters zu tun hat.
"Welchen Hintergedanken?", frage ich vorsichtig. 
"Der Sänger, Sean, ist der Bruder von Eve", erklärt er mir, nun auch ernst.
"Ich verstehe", meine ich zu ihm.
Ich mache mir wirklich Sorgen. Er sollte nicht jeden einzelnen Aspekt seines Lebens darauf richten, Macey zu retten, das kann nicht gut für ihn sein. Es hat mich gefreut, als ich gehört habe, dass er etwas außerhalb diese Ziels tut. Doch anscheinend habe ich mich geirrt.
"Wir spielen übrigens nächsten Samstag im Live Wire", erzählt er.
"Echt jetzt?", frage ich erstaunt, "Das kann doch keine gute Idee sein, wenn ihr erst so kurz zusammen spielt."
"Ist es wirklich nicht. Aber ich habe vor, so lange in der Band zu bleiben, bis ich irgendwie die Chance hatte, mit Eve ins Gespräch zu kommen. Mir ist die Band als solche folglich nicht sonderlich wichtig, weswegen es jetzt nicht das schlimmste für mich wäre, wenn wir bei dem Gig versagen", erwidert er.
Und wieder macht es mich traurig, dass er es nur für die sogenannten Ermittlungen tut. Ich hätte wirklich gedacht, er würde es schön finden, wieder in einer Band zu sein. Allerdings bin ich nicht in der Position, etwas darüber sagen zu können, deswegen meine ich nur:
"Das ist eigentlich eine ziemlich gute Idee."
"Ich weiß. Aber ich kann doch sicher damit rechnen, dass du zu dem Gig kommst, oder?", läd Nate mich mit einem Lächeln ein.
Ich soll ins Live Wire gehen? Hätte man mir dieses Angebot vor einem halben Jahr gemacht, hätte ich die Person einfach nur ausgelacht. Schließlich ist es überall bekannt, dass das Live Wire seinen Hype schon längst verloren hat und nun einfach ein obskurer Ort für Musik-Fanatiker ist. Es käme Rufmord gleich, dorthin zu gehen. Aber das kann mir ja jetzt egal sein. Eigentlich könnte es schon ziemlich interessant werden, wie sich eine Band, die sich erst so kurz kennt, schlägt. Trotzdem weiß ich jetzt schon, dass mir die Musik, die sie spielen, kaum gefallen wird. Es könnte ziemlich langweilig werden. Aber gleichzeitig möchte ich Nate dabei zu sehen, schließlich könnte es ganz amüsant sein.
Ich hole kurz Luft, bevor ich meine Entscheidung mitteile:
"Ja, ich komme mit."
Schließlich habe ich nichts vor und es könnte spannend werden.
"Cool", kommentiert er ehrlich erfreut.
"Sag mir einfach, wann es anfängt", meine ich mit einem Lächeln, während ich ins Klassenzimmer gehe.

Samstag

Die Tage vergingen ziemlich langweilig. Aus irgendeinem Grund zog sich die Woche dieses Mal gefühlt in die Länge. So viel in den letzten Monaten passiert ist, so monoton war diese Woche.
Ich konnte niemanden wirklich ansprechen, ohne seltsame oder angewiderte Blicke zu kassieren, und Nate habe ich kaum gesehen, da er wenn möglich immer seinen Part für den heutigen Auftritt probte. Ich bin echt gespannt, wie dieser wird, weil ich nun wirklich keine Erfahrung damit habe, wie eine Band probt, aber ich weiß, dass eine Zusammensetzung aus Leuten, die sich erst knapp eine Woche kennen, zum Scheitern verurteilt ist. Ich hoffe es ja nicht für Nate, denn schließlich wäre das ziemlich peinlich und ich bin nicht so sadistisch, dass ich es ihm wünschen würde. Aber ein kleiner Teil von mir fände es schon witzig, weil wer kommt auf die hirnrissige Idee, ein neues Bandmitglied aufzunehmen, wenn sie in einer Woche einen Gig haben? Okay, warum frage ich mich das überhaupt. Die Band heißt Metalheads in the Hood und spielt nicht mal Metal. Das sollte mich eher beunruhigen als der Fakt, dass sie sich heute mit hoher Wahrscheinlichkeit blamieren werden. Doch davor habe ich noch ein Problem: Ich habe immer noch nicht meinen Eltern Bescheid gegeben, dass ich heute ins Live Wire gehe. Mein Dad würde sicherlich kein Problem damit haben, wenn ich ihn fragen würde, ob ich gehen darf. Aber meine Mum, sie würde mich definitiv nur seltsam mustern und mich fragen, ob ich denke, dass das wirklich so ein Ort sei, an dem ich gerne gesehen werden würde. Ich muss mir eine Ausrede zurechtlegen, aber ich habe einfach keine einigermaßen glaubhafte gefunden. Weswegen ich nun dasitze und spekuliere, ob meine Notlösung für eine Zusage ausreicht.

Vorsichtig schaue ich ins Wohnzimmer und sehe wie erwartet meinen Vater gerade vor dem Fernseher entspannen und meine Mutter über ein Buch gebeugt.
"Hallo", mache ich meine Eltern auf mich aufmerksam.
Langsam schaut meine Mum von ihrem Buch auf und mein Dad richtet seinen Blick von der Kriminalserie auf mich.
"Was ist, Schatz?", fragt mich meine Mum.
Ich atme kurz ein, um mich darauf vorzubereiten, dass ich jetzt meine Eltern anlüge.
"Könnte ich heute vielleicht noch zu Grace gehen?", frage ich gelassen. 
"Es freut mich wirklich, dass du endlich mal wieder aus dem Haus kommst und dich wieder bemühst, nicht ganz so eingeschlossen zu leben. Ich dachte wirklich bereits, dass etwas zwischen Grace und dir vorgefallen sei. Allerdings denke ich nicht, dass es sinnvoll wäre, dass du nach den letzten Vorfällen alleine irgendwo hingehst."
Ich muss hart schlucken. Sie hat ja recht. Die Morde.
"Ich wäre aber doch die ganze Zeit bei Grace, also nicht alleine", versuche ich, sie zu überreden.
"Und wie willst du zu Grace hinkommen? Mit dem Bus nämlich definitiv nicht. Nicht bevor die Situation entschärft wurde."
"Hättest du mich den Führerschein machen lassen, könnte ich mit dem Auto fahren", merke ich an.
"Sei nicht so schnippisch zu mir", ermahnt mich meine Mum.
"Entschuldigung", murmele ich, bevor ich fortfahre:
"Also, könnte ich bitte gehen?"
"Nein, es ist zu gefährlich", antwortet meine Mum entschlossen.
"Aber...", fange ich an, doch sie unterbricht mich mit einem bestimmten Kopfschütteln und wendet sich wieder ihrem Buch zu.
Verdammt. Für sie ist dieses Gespräch beendet, dabei habe ich Nate versprochen, dass ich komme. Selbst wenn ich ihr jetzt die Wahrheit sage, bringt es nichts.
Plötzlich räuspert sich mein Dad und mischt sich ein:
"Ich kann dich fahren, wenn du willst."
"Wirklich? Könnte ich dann gehen, Mum?", frage ich enthusiastisch, da ich meinem Ziel ein bisschen näher bin.
Doch eigentlich habe ich jetzt ein größeres Problem: Wie soll ich von Grace's Haus zum Live Wire kommen?
Meine Mum blickt langsam wieder hoch und denkt erst kurz nach, bevor sie mit einem zögerlichem Nicken zustimmt.
"Aber versprich mir, dass du nirgendwo sonst hingehst und dich nicht von Grace entfernen wirst", ermahnt sie mich.
Ich nicke überzeugend.
Mir wird schon noch etwas einfallen, wie ich ins Live Wire komme.

Schnell binde ich meine Schuhe, schnappe mir meine Tasche und folge meinem Dad ins Auto. Ich setze mich auf den Beifahrersitz und schnalle mich hastig an. Als mein Dad losfährt, fange ich an, unruhig in meinem Sitz zu rutschen, bevor ich endlich mit meinem Anliegen rausrücke:
"Dad, könntest du mich bitte ins Live Wire fahren?"
"Was?", fragt er erstaunt, "Ins Live Wire? Sagtest du nicht mal, dass dort immer nur die seltsamen Leute sind?"
"Ja, schon. Aber eigentlich will ich gar nicht zu Grace, sondern eine Band aus meiner Schule tritt dort heute auf."
Immer noch irritiert schaut mich mein Dad an, als er an einer Ampel stehen bleibt.
"Also hast du dich doch mit Grace zerstritten, oder? Aber warum hast du gelogen?", fragt mein Dad, und ich kann seine Enttäuschung über meine Lüge aus seiner Stimme klar und deutlich heraushören.
Auf seine Frage, ob ich mich mit Grace zerstritten hätte, gebe ich bloß ein Nicken ab. Auf die zweite Frage antworte ich nicht, sondern rutsche nur ungemütlich mit auf den Boden gesenkten Blick in meinem Sitz von der einen Seite zur anderen.
Erst als er wieder losfährt, antworte ich leise:
"Denkst du, dass Mum mich hätte gehen lassen? Ich zumindest höre bereits ihre Stimme in meinem Kopf, ob ich mich wirklich an einem solchen Ort sehen lassen will."
Aus dem Augenwinkel sehe ich den kritischen Blick meines Vaters, und es entsteht eine angespannte Stille, bevor er mir antwortet:
"Ich verstehe. Danke, dass du es zumindest mir gesagt hast. Aber schau mal, deine Mutter machst sich auch Sorgen um dich."
"Das weiß ich doch, aber ich will wirklich den Leuten heute zuhören", verlange ich bittend.
"Wer sind diese Leute überhaupt?", fragt mein Vater skeptisch.
Soll ich nun sagen, dass es Nate ist? Lieber nicht, aus irgendeinem Grund schien mein Vater ihn letztes Mal nicht gemocht zu haben.
"Zwei aus der Prom-Vorbereitung sind Mitglieder in der Band", antworte ich.
Was ja schließlich nicht gelogen ist. Henry und Nate sind nämlich bei der der Prom-Vorbereitung.
Ich sehe, wie mein Vater nachdenklich wird.
'Bitte, lasse mich dorthin gehen. Ich habe es versprochen', flehe ich innerlich.
Plötzlich nickt er und meint ernst:
"Naja, gut. Ich werde deiner Mutter nichts davon sagen, auch wenn ich es nicht gut finde, dass du uns angelogen hast. Das wird Konsequenzen haben."
"Danke!", rufe ich begeistert aus.
"Aber ich werde dich um Punkt 10 Uhr vor der Tür wieder abholen. Und du bewegst dich nicht einen Zentimeter vom Live Wire weg. Es ist nicht sicher auf den Straßen", warnt er mich.
Ich nicke bloß.
"Bitte, hast du verstanden? Ich mache mir einfach Sorgen um deine Sicherheit", fügt er nachdrücklich an.
"Ja", antworte ich, dieses Mal klar und deutlich.

Das kleine neon-beleuchtete Schild, auf dem "Live Wire" blinkt, signalisiert mir, dass wir da sind. Als mein Dad stehen bleibt, öffne ich die Tür und meine noch:
"Danke."
"Lass dein Handy immer an. Und ruf an, wenn etwas passiert", ruft er mir hinterher, als ich aus dem Auto steige.
Ich blicke kurz in Richtung der dämmerigen Sonne, bevor ich mich der schmalen Eingangstür zuwende. Die rote Holztür sieht bereits zeitlich alt aus. Die Farbe blättert vom Türrahmen ab, und ich sehe, wie an verschiedenen Stellen auch das Holz absplittert.
Langsam drücke ich die Tür auf, und als ich das Quietschen derer höre, stelle ich fest, dass diese auch mal wieder geölt gehört. Doch das Quietschen wird sofort von Musik übertönt, die mir entgegenströmt. Im Moment kommt das Lied, welches sich sehr nach 70er oder 80er anhört, vom Band, denn Nate wird erst in fünfundvierzig Minuten auftreten, aber ich dachte, dass es besser wäre, wenn ich rechtzeitig da bin.
Als ich durch die Tür trete, höre ich noch kurz, wie mein Dad wegfährt, bevor die Tür hinter mir zufällt und jedes Geräusch von Draußen schluckt. Sobald die Tür zugefallen ist, fällt mir auf, wie stickig es hier drin ist, und dass ein immerwährender Geruch nach Schweiß und neu gestrichenen Wänden duch die Luft wabert. Wahrscheinlich haben sie erst kürzlich ihre Wände neu gestrichen. Auch wenn ich nicht weiß, was ich von diesem dunklen Lila halten soll.
Mit einem kurzen Blick durch den Raum stelle ich fest, dass ich eine der ersten Personen bin, die da ist. Nate sehe ich aber nicht. Vermutlich ist er noch seine Sachen aufbauen, oder ähnliches. Der Raum ist auf jeden Fall groß, allerdings wirkt er nicht so, weil die Decke ziemlich niedrig ist. An der Seite stehen viereckige Holztische mit jeweils vier Stühlen aus grauem Plastik. Aber in der Mitte, vor der kleinen Bühne, ist eine große freie Fläche.

Als ich mich auf die Suche nach Nate mache, sehe ich, wie zwei Mädchen vor einer Tafel stehen, auf der "Heute spielt" steht. Eine davon merkt mit gerunzelter Stirn an:
"Warum zeigen sie heute gar nicht, wer hier spielt. Hoffentlich kommt heute doch irgendjemand, denn die normale Musik ist total langweilig."
Das andere Mädchen, welches einen so großen Tunnel-Ohrring trägt, dass mir schon fast die Ohrläppchen wehtun, zuckt nur mit den Schultern und macht mit ihrem Kaugummi gelangweilt eine Blase.
Ob die vom Live Wire den Namen "Metalheads in the Hood" zu unpassend und respektlos empfanden, um ihn zu zeigen? Vorstellen könnte ich es mir.
Leise kichernd gehe ich weiter nach Nate oder Henry suchen.
Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel eine Person auf mich zukommen, und tatsächlich ist es Nate, wie ich sofort erkenne.
Mich breit anlächelnd fragt mich überrascht:
"Ah, bist du schon hier?"
Ich lächle zurück und meine:
"Ja, ich dachte, dass es besser sei, wenn ich zu früh komme als zu spät. Wann musstest du denn bereits da sein?", frage ich.
"Schon vor zwei Stunden, wegen dem Soundcheck und so. Sean macht die ganze Zeit ein Drama aus jeder Kleinigkeit, weswegen ich gerade mehr oder weniger geflohen bin", antwortet er.
"Du armer. Hast du jetzt eigentlich etwas Zeit? Weil ich hab keinen Plan, was man hier macht, oder nicht?"
"Naja, so viel gibt es hier nicht zu tun. Die Leute reden miteinander oder tanzen gelegentlich. Aber ich kann dir ja mal den Backstage-Bereich zeigen und dir meine restlichen Bandkollegen vorstellen, wenn du willst."
"Gerne. Das wäre echt interessant", erwidere ich begeistert.
"Super. Hier entlang", sagt er, während er in Richtung einer kleinen Tür neben der Bühne zeigt.

Auch diese Tür ist mit roter Farbe bestrichen, welche langsam abblättert. An der Tür hängt eine Metall-Plakette mit der Aufschrift "Staff Only".
Als Nate die Tür öffnet, quietscht diese wieder und wir kommen in einen schummrigen Gang.
Ich höre bereits die Stimmen der anderen Bandmitglieder, wobei einer besonders hervorsticht, weil dieser sich besonders laut bei jemand anderem beschwert. Irgendetwas von wegen, dass die Bass-Boxen nicht richtig positioniert seien.
Als ich in einem breiten Raum angekommen bin, sehe ich, von wem die ganzen Beschwerden kommen: Ein großer Junge ordert einen stämmigen Mann herum, der offensichtlich für die Elektrik da ist.
"Hallo, ich bin Farley", begrüße ich alle.
Ich sehe, wie Henry, der in einer Ecke mit seinen Drumsticks in der Hand sitzt, mich verwundert anschaut.
"Was suchst du denn hier? Ich dachte, du magst diese Musik nicht", fragt er mich.
"Ich dachte, es wäre lustig, euch zuzuschauen", verteidige ich mich.
Eigentlich bin ich nur wegen Nate hier, aber das braucht niemand zu wissen.
"Warum hast du sie überhaupt mitgenommen?", richtet sich nun Henry an Nate.
"Lass ihn doch", mischt sich das vierte Mitglied der Band ein, welcher eine E-Gitarre auf dem Schoß hat, "Er hat jedes Recht dazu."
"Exakt. Warum sollte sie nicht hierher kommen? Das kann dir absolut egal sein, Henry", meint auch Nate.
Und ich muss unwillkürlich lächeln, weil er mich gerade eben ziemlich in Schutz genommen hat.
"Seid ihr zusammen? Ich wusste gar nicht, dass Nate eine Freundin hat", fragt plötzlich der Junge mit der E-Gitarre.
Ich japse erstaunt auf, bevor ich es hastig verneine:
"Nein, nein. Da siehst du etwas falsch, äh..."
Da fällt mir plötzlich ein, dass ich gar nicht seinen Namen weiß.
"Ethan", kommt er mir zur Hilfe.
"Nein, hat er auch nicht", fügt auch Nate an.
Es dauert ein bisschen, bis ich verstehe, dass er von sich in der dritten Person redet und auf Ethans Aussage antwortet, so irritiert bin ich noch davon, dass wir als Paar wahrgenommen wurden.
Immer noch irritiert schaue ich zu Nate, um zu sehen, was er von dieser Vermutung hält, und ich sehe, dass sein nicht deutbarer Blick auf mir ruht. Ich lächle ihn vorsichtig an, nicht wissend, was ich davon halten soll.

Mein Blick wandert nun zu der letzten Person in diesem Raum. Der große Junge, der vorhin den armen Elektriker, welcher gerade nicht im Raum ist, angefaucht hat.
Als er meinen Blick auf sich spürt, schaut er mich gelangweilt an, bevor er knapp "Sean" sagt.
Ich interpretiere es als seinen Namen und dass er wohl der Bruder von Eve ist.
Gerade als ich etwas erwidern will, kommt der stämmige Elektriker kopfschüttelnd zurück.
Sean wendet sich abrupt zu ihm und fängt schon wieder an zu zetern: "Wollen sie etwa sagen, dass es nicht geht? Dann suchen sie doch ein verdammtes Verlängerungskabel. Was soll-"
Also ich kann auf jeden Fall festhalten, dass er definitiv mal ruhiger werden sollte.
"Keine Sorge. Er ist zu jedem so", murmelt mir Ethan plötzlich zu.
"Da bin ich froh", flüstere ich zurück.
"Weißt du, ich hätte nie gedacht, dass ich Farley Sullivan hinter der Bühne beim Live Wire auffinden würde. Schließlich habe ich - als ich noch in der Schule war - gehört, dass Farley doch eine Veränderung vom unwichtigen Nebencharakter zum populärsten Mädchen hingelegt hat. Und so jemand würde sich doch nie im Live Wire sehen lassen", erzählt mir Ethan gerade heraus.
"Nein, das hätte sie auch nie gedacht. Und das alles mit dem Populär-Sein ist auch vorbei", erwidere ich trocken, Nate nachahmend, indem ich über mich in der dritten Person und versucht locker rede, um nicht zu zeigen, wie sehr es schmerzt, davon zu hören. Gleichzeitig versuche ich damit auch, die Verwunderung zu überspielen, die ich habe, weil er das alles von mir weiß.

Trotz dieses unpassenden Anfangs kommen Ethan und ich schnell ins Gespräch als er anfängt, zu erzählen, wie die Band zustande kam. Wie der Name zustande kam, will er mir aber nicht erzählen.
Irgendwann beteiligt sich auch Nate und gibt seine Kommentare ab. Nur Henry will sich nicht integrieren, sondern belässt es dabei, mich nicht gerade unauffällig zu beobachten, während ich von Sean hauptsächlich Fluchen höre.
Ich habe bereits das Gefühl dafür verloren, wie viel Zeit vergangen ist, als Sean sich plötzlich neben uns aufbaut und Nate und Ethan ermahnt:
"Hört endlich auf mit unwichtigem Zeug eure Zeit zu verschwenden und bereitet euch verdammt nochmal vor!"
"Entspann dich. Das ist nicht der Madison Square Garden", erwidert Nate.
Doch Sean ignoriert ihn und wendet sich einfach an mich:
"Und du gehst wieder. Es lenkt ab, wenn du da bist."
Verteidigend hebe ich meine Hände. Er sollte mal runterkommen. Nate hat recht, es ist nicht das größte Konzert - wenn man es überhaupt so nennen kann. Trotzdem verabschiede ich mich von Ethan und Nate, nicke Henry kurz zu und gehe wieder durch den schummrigen Gang zur roten Tür. 

Ich setze mich an einen der Tische an der Seite und warte darauf, dass es endlich anfängt. Ich bin froh, dass ich noch einen Platz erwischt habe, denn der Raum füllt sich mit immer mehr Menschen aus allen Altersklassen. Regelmäßig schaue ich auf mein Handy, um zu sehen, wie viel Zeit bereits vergangen ist, während ich gelangweilt mit meinen Fingernägeln auf den Tisch klopfe.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, werden die Lichter gedimmt, und ich sehe, wie sich die Scheinwerfer auf die Bühne richten.
Ich merke, wie unter den Menschen eine interessierte Stille einkehrt, als Sean, Henry, Ethan und Nate auf die Bühne treten. Wie ich sehe, hat Nate seinen Mantel ausgezogen, vermutlich weil es sehr warm werden oder er im Weg sein könnte.
Kurz wünsche ich ihnen viel Glück in meinem Kopf, als sie schon anfangen, das erste Lied zu spielen. Ich muss gestehen, dass ich das Lied nicht kenne. Leider scheint es mir, dass ich die einzige bin, die es nicht kennt. Jeder im Raum scheint es sofort zu erkennen. Auch kann ich leider nicht sagen, dass es ein revolutionäres Cover wäre, denn sogar ich erkenne, dass das Zusammenspiel nicht perfekt ist, allerdings kann man es nicht als schlecht bezeichen. Es gefällt mir sogar so gut, dass ich irgendwann während der Hälfte anfange, mit den Fingern im Takt auf den Tisch zu klopfen.
Nach diesem Lied hält Sean eine kurze Ansprache. Auch wenn "kurz" nicht wirklich zustimmt, da sie meines Erachtens etwas zu lange geht und auch andere sich zu langweilen scheinen.
Doch gerade als einige anfangen, das Interesse zu verlieren, spielen sie das nächste Lied. Mir fällt auf, dass sie mit jeder Note, die sie spielen, besser werden. Und zum Glück ist die Menschenmenge sehr nachsichtig, weswegen ich schon bald die einzige bin, die noch sitzt, und sogar vereinzelt Leute sehe, die schamlos des Text mitgrölen.

Am Anfang sehe ich mir das alles etwas entfremdet an, doch ehe ich mich versehen kann, wippe ich im Takt mit und lasse mich letzten Endes doch von der Menge mitreißen und stehe auf.
Es wird immer stickiger im Raum, doch das macht mir kaum etwas aus, als ich in der Menge stehe und einfach Nate fasziniert zusehe.
Es kann eigentlich nicht sein, dass er nur wegen dem Hintergedanken Mitglied bei der Band geworden ist. Sein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, während er mit seinen Finger gekonnt die passenden Noten erzeugt, zeigt mir eigentlich, dass er diesen Moment gerade genießt.
Ich bin so fasziniert, dass mir erst als sie das nächste Lied anstimmen auffällt, dass ich von der Menge fast in die erste Reihe gedrückt wurde. Neben mir sehe ich wieder das Mädchen mit den wahnsinnigen Tunnel-Ohrringen und ihre Freundin, die ich bereits vorher gesehen habe. Ich höre, wie die eine der anderen nach den ersten Takten zuschreit, ob das nicht "Poison" von Alice Cooper sei. Das wäre dann wohl das erste Lied, von dem ich zumindest  den Namen kenne.
Ich schaue wieder in Richtung Bühne, wo ich sehe, dass Nate seinen Blick in die Menge wirft und kurz bei mir stehen bleibt, bevor er ihn wieder senkt.
Meines Erachtens ist das bisher das beste Lied von ihnen. Und als Sean zum vierten Chorus kommt, sehe ich, wie Nate seinen Blick wieder in meine Richtung hebt und auf mir liegen bleibt.
Ich lächle leicht, und als die Klimax im Lied kommt, lasse ich mich von der Musik und der Menge mitreißen, indem ich nach oben springe und Nate breit lächelnd einen Daumen nach oben zeige.
Lieder wie diese werden nie mein Lieblingslied sein, da sie einfach nicht meinem Genre entsprechen, aber ich könnte Nate Ewigkeiten beim Spielen zusehen.

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