Kapitel 30: Nate

Samstag

"Rebel rebel, you've torn your dress
Rebel rebel, your face is a mess...", tönt David Bowie's Stimme aus der Lautsprecheranlage des Autos.
Im Rhythmus der Musik trommele ich mit den Fingern auf das Lenkrad, aber nicht aufgrund von guter Stimmung, sondern eher wegen Nervosität.
Ich frage mich, was der heutige Tag für Erkenntnisse bringen wird, oder ob ich schlichtweg meine Zeit verschwende.
Als ich am Donnerstag nach dem Englisch-Unterricht wieder die Chance hatte, mit Henry zu reden, habe ich die Gelegenheit genutzt, um ihm zu erklären, dass ich mir seinen Ratschlag zu Herzen genommen und nochmal gründlich über sein Angebot bezüglich Metalheads in the Hood nachgedacht hatte. Natürlich habe ich meine wahren Beweggründe - dass ich vermute, dass Sean mit Eve verwandt ist und ich hoffe, so im Laufe der Zeit mit ihr reden zu können - nicht offengelegt, sondern irgendetwas erzählt von wegen, dass es eigentlich doch eine coole Idee sei, ich Ablenkung gebrauchen könnte und so weiter. Deshalb würde ich mal zu einer Bandprobe kommen. Henry hat das nicht hinterfragt, sondern war absolut begeistert, und die Erleichterung in seinem Gesicht war so groß, dass ich angefangen habe, mich zu fragen, ob dieser "nicht ganz einfache" Leadsänger Sean ihn vielleicht irgendwie unter Druck gesetzt hat, möglichst schnell einen neuen Bassisten zu finden.

Egal wie, jetzt bin ich also auf dem Weg zu genau dessen Zuhause.
Es war echt eine Freude, als Henry mir erzählt hat, dass die Proben bei Sean zu Hause sind. Das erleichtert mir meine Arbeit, denn wenn ich Glück habe, erledigt sich meine Frage, sobald ich ein Familienfoto an der Wand sehe oder so. Dann bleibt natürlich immer noch das Problem, wie und unter welchem Vorwand ich mit Eve sprechen kann, aber es wäre definitiv der nötige Anfang.
Denn obwohl Farley und ich praktisch die ganze Zeit überlegt hatten, war keiner von uns auf eine sinnvolle, realistische Lösung gekommen. Der Punkt ist einfach, dass Farley als allgemeine Hauptverdächtige nie das Vertrauen von Eve erlangen könnte.
Mr Winters gefunden zu haben muss schwer traumatisiert haben, da wird sie da wohl kaum mit der Person sprechen, die angeblich für seinen Tod verantwortlich ist.
Und ich ... Nun ja, es gibt immer noch mehr als genug Leute, die mich für die Art von Person halten, die irgendwann mal mit einer Waffe in den Gängen der Schule aufkreuzt. Ich bin mir einfach ziemlich sicher, dass ich auf ein junges Mädchen wie Eve durchaus in gewisser Weise einschüchternd wirken kann. Und das ist nicht gerade förderlich, wenn es darum geht, ihr Informationen zu entlocken, die sie wahrscheinlich sowieso verdrängt.
Oh man, die Arme.
Eigentlich wundert es mich, dass es ihre Eltern und auch die Schulleitung erlauben, dass sie weiterhin zur Schule geht.

Ich halte an einer roten Ampel, und fahre mir wütend mit der Hand durch die Haare - Es ist so erbärmlich, wie die Schule versucht, alles möglichst "normal" weiterlaufen zu lassen. Diese ganzen verblendeten Idioten verstehen nicht, dass es nie wieder so wie früher sein wird, so wie vor den Morden.
Aber mir ist selbst am besten klar, wie schwer es ist, sich mit dieser neuen Realität zu arrangieren. Bevor ich wirklich damit klar kommen kann, muss ich den Mörder finden, denn das macht ja sonst keiner. Und ganz sicher nicht diese ganzen Polizisten, die ohne selbst nachzudenken ihrem inkompetenten, rassistischen ...
Hinter mir höre ich ein Hupen und mir fällt plötzlich auf, dass die Ampel schon vor ein paar Sekunden auf Grün gewechselt ist.
"Ja doch", murmele ich, lasse die Kupplung langsam kommen und gebe Gas.
Ich sollte mich definitiv auf das Fahren konzentrieren, anstatt auf die Inkompetenz der Polizei und meine eigene Verzweiflung.

Der Song, der inzwischen spielt, ist "We Are the Dead". Im Grunde wirklich einer meiner Lieblingssongs von Bowie, und unabhängig vom Titel drückt seine Atmosphäre gerade wirklich meine Stimmung aus.
Ich atme tief durch, und um mich zu beruhigen denke ich unweigerlich an Farley.
Ich denke an den Moment, als sie mir gesagt hat, dass sie unsere Zusammenarbeit doch nicht vorzeitig beenden würde. Ich denke an ihr Lächeln dabei und an das Gefühl, das es in Kombination mit ihren erleichternden Worten in mir ausgelöst hat.
"Pressing our love through the night
Knowing it's right, knowing it's right..."
Ich schüttele leicht den Kopf. Meine Gedanken sind wieder trügerisch, sie ergeben keinen Sinn.
Aber das ist mir in diesem Moment egal, denn es ist mir so viel wichtiger, an diesem Gefühl festzuhalten. Dieses Gefühl, das einen warmen Gegenpol zur Trauer, Verzweiflung und der allgegenwärtigen Gleichgültigkeit bildet.

An der Adresse, die Henry mir gegeben hat, bleibe ich stehen. Das Haus ist relativ modern, aber nicht außergewöhnlich für diese Gegend - Es gliedert sich perfekt in die Reihe normaler Familienhäuser ein.
Dass ich hier richtig bin, erkenne ich daran, dass das Garagentor offensteht, und sich im Inneren ein Schlagzeug befindet. Kurz darauf fallen mir auch die drei Typen ins Auge, von denen einer definitiv Henry ist, unverkennbar an seinen unordentlichen langen Haaren.
Ich schalte den Motor ab, steige aus dem Wagen und gehe zum Kofferraum, um meine E-Bassgitarre herauszuholen.
Henry hat mir mitgeteilt, dass es förderlich wäre, wenn ich mich schon mal mit "Poison" von Alice Cooper auseinandersetzen würde, denn das sei einer der Songs, die sie gerade spielen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass ich definitiv fähig genug erscheinen will, überhaupt in der Band aufgenommen zu werden, habe ich das ausführlich getan und beherrsche die Bassline inzwischen beinahe tadellos.

Inzwischen scheinen mich Henry und die beiden anderen, mir noch unbekannten, Typen bemerkt zu haben.
Sie kommen mir auf halbem Weg entgegen, Henry breit grinsend vorne voran, während sich der eine andere komplett im Hintergrund hält und der dritte einen Schritt hinter Henry stehenbleibt und die Arme vor der Brust verschränkt.
Ich muss ihn nur kurz mustern, um mir sicher zu sein, dass das Sean Markow ist und es sich bei ihm ziemlich sicher um Eve's Bruder handelt. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar, auch wenn ich nicht genau festsetzen kann, woran genau das liegt. Er hat aber auf jeden Fall die gleichen braunen Locken. Klar, das ist nur eine wage Einschätzung und ich sollte mich nicht hundertprozentig darauf verlassen, sondern mich lieber noch versichern, dass sie wirklich verwandt sind.

"Da bist du ja", begrüßt mich Henry gut gelaunt.
Daraufhin dreht er sich zu seinen Bandkollegen.
"Das ist Nate. Nate, das sind Sean", er deutet wie erwartet auf den abweisend wirkenden Typen kurz hinter ihm, "und Ethan, unser Gitarrist", damit deutet er auf den anderen im Hintergrund.
Ethan's Haare waren wohl mal so etwas wie Dreadlocks, sind inzwischen aber ungefähr zur Hälfte wieder rausgewachsen. Auf seinem Shirt ist das Logo von Rammstein zu sehen.
Er hebt eine Hand zur Begrüßung und ich erwidere die Geste mit einem Nicken. Er wirkt relativ sympathisch auf mich.
Da von Sean bisher keine Reaktion gekommen ist, sondern er mich nur musternd ansieht, beschließe ich, initiativ zu werden, und halte ihm die Hand hin.
"Hey."
Anstatt wie ein normaler Mensch diese zu ergreifen starrt er mich nur weiter an, bevor er den Arm hebt und sein Flanellhemd hochschiebt, um einen Blick auf seine Uhr werfen zu können.
Verdeutlichend tippt er darauf, während er mir mit einer vor Arroganz triefenden Stimme erklärt:
"Du bist bei der ersten Probe schon mal sieben Minuten zu spät. Fängt ja gut an."
Ich lasse die Hand sinken und versuche im gleichen Atemzug, mich davon abzuhalten, eine sarkastische Antwort zu geben. Schließlich bin ich mit einer "Mission" hier, da sollte ich freundlich sein.
Nicht, dass Sean mir die Zeit lassen würde, überhaupt etwas darauf zu erwidern - Er hat sich bereits wieder umgedreht, um zur Garage zurückzugehen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen werfe ich Henry einen Blick zu. Er zuckt entschuldigend mit den Schultern und sein Gesichtsausdruck sagt mir, dass das genau die Art von "schwierig" ist, die er gemeint hat. Naja, dann ist dieser Sean halt ein unsympathisches Arschloch. Ich habe sowieso nicht vor, länger als nötig in dieser Band zu sein. Der einzige Grund, warum ich zugesagt habe, sind die Ermittlungen. Gut, vielleicht zu Teilen auch wirklich, dass ich es vermisse, in einer Band zu spielen. Aber das war definitiv nicht meine Hauptmotivation.
Ich folge Henry, Sean und Ethan ins Innere der Garage.
"Du kannst dein Zeug da abstellen. Wir waren gerade dabei, die Setlist für den Gig nächsten Samstag fertigzustellen...", fängt Sean an.
Ich wollte gerade meine Bassgitarre an der Stelle ablegen, auf die er gedeutet hat, als ich jetzt mitten in der Bewegung innehalte.
Wovon redet der bitte?
"Was für ein Gig?"
Dieses kleine, aber wichtige Detail hat Henry nicht erwähnt - ganz gewollt, wie mir jetzt sein schuldbewusstes Gesicht verrät.
Sean hebt verständnislos die Hände und betrachtet mich, als wäre ich komplett verblödet.
"Na, der Gig im Live Wire. In genau einer Woche. Was denkst du, warum wir unbedingt so schnell einen neuen Bassisten brauchen und deshalb mehr oder weniger den erst besten nehmen?"
Ah ja, das erklärt die Erleichterung in Henry's Gesicht, als ich doch zugestimmt habe.
Ethan verdreht die Augen, während er sich seine E-Gitarre umhängt und anfängt, am Gurt rumzufummeln.
"Er hat offensichtlich noch nichts davon gewusst, Sean. Ich an Henry's Stelle hätte ihm auch nichts davon gesagt, sonst hätte er wohl kaum zugestimmt, überhaupt mal hier aufzukreuzen", meldet er sich auch erstmals zu Wort.
Verlegen kratzt Henry sich am Hinterkopf.
"Ich hatte vor, es dir zu sagen, ehrlich. Aber, wie Ethan richtig erkannt hat, habe ich befürchtet, dass es dich abschrecken würde. Ich dachte, es wäre besser, wenn du dir das ganze erstmal ansiehst, und wir nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen."
Dabei wirft er Sean einen bedeutungsvollen Blick zu, den dieser aber gar nicht wahrnimmt.
"Wow, super hingekriegt", hat er die Dreistigkeit, den Vorwurf auf Henry abzuwälzen, "außerdem sollte ja eher ich - der Bandleader - beurteilen, ob er überhaupt geeignet ist. Und er hat eine ganze Woche Zeit, die Songs zu lernen. Das ist doch nicht zu viel verlangt."
Ethan gibt ein schnaubendes Geräusch von sich.
Mir wird langsam klar, dass dieser Sean eindeutig ein Problem bezüglich Größenwahn hat. Er will innerhalb einer Woche eine Band mit neuem Line-Up tauglich für einen Gig machen? Das ist so gut wie unmöglich.

Henry und Sean haben inzwischen begonnen, lautstark über ihre Vorgehensweise zu diskutieren, und eigentlich wäre das jetzt spätestens der Punkt, an dem ich mich verabschiede.
Aber ich kann nicht gehen, ohne Informationen von Eve zu haben. Und im Grunde kann es mir egal sein, ob der Auftritt ein Desaster wird. Sowas ist im Live Wire eh keine Seltenheit.
Das Live Wire - benannt nach dem Song von Mötley Crüe - ist so eine Art Club, der in den 90ern als ein Treffpunkt für alle möglichen Jugendlichen diverser Szenen gegründet wurde. Im Laufe der Jahre wurde es aber auch immer mehr eine Anlaufstelle für breitere Gruppen, die eher dem Mainstream angehören.
Inzwischen ist es einfach ein Ort, an dem sich am Wochenende alle möglichen Jugendlichen treffen können, während halt nebenbei irgendeine Art von Musik läuft - Die spielen wirklich alles. Erfahrungsgemäß sind auch immer ziemlich viele Leute von unserer High School dort.
Die Besitzer des Clubs geben jungen Bands oder auch gelegentlich DJ's eigentlich immer gerne die Chance, dort aufzutreten, weshalb es mich wundert, warum Sean nicht einfach absagt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es jetzt nicht das schwerste ist, dort einen Gig zu bekommen. Es war immerhin auch der Laden, wo ich mit meiner Band aufgetreten bin - bis Howard angefangen hat, seine "Proklamation" zu verkünden. Die Szene, die er am Dienstag in der Mensa gemacht hat, hatte verblüffende Ähnlichkeit mit damals.

"Beruhigt euch. Ich habe kein Problem mit dem Gig", erkläre ich Henry und Sean.
"Echt nicht?", fragt Henry überrascht, und ich schüttele nur den Kopf.
"Gut. Das ganze steht seit ein paar Wochen, und es wäre eine Schande, die ganzen Leute, die darauf warten, zu enttäuschen. Außerdem wird es unser Durchbruch sein", meint Sean voll Selbstsicherheit.
Er will nicht absagen, weil er denkt, dass wirklich Leute extra wegen seinem Auftritt kommen? Der Typ ist echt von sich selbst überzeugt. Immerhin ist es allgemein bekannt, dass die meisten Leute, die zu den Gigs im Live Wire aufkreuzen, nur dort sind, weil sie sowieso kommen würden, egal ob jetzt irgendeine Band spielt oder nicht.
Erneut redet er sofort weiter, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand etwas hätte antworten wollen:
"Also, davor solltest du vielleicht zeigen, was du kannst. Es gibt schließlich mehr als genug Leute, die auch gerne diese Position hätten."
Das ist eine astreine Lüge, vor allem wenn man bedenkt, was ich von Henry weiß. Es ist echt amüsant, wie Sean seine Band für die genialste überhaupt hält.
Aber gut.
"Klar", entgegne ich nur und hänge mir die Bassgitarre um.
Henry nimmt hinter dem Schlagzeug Platz, während Sean sich hinter dem Mikrofon positioniert.
"Du hast 'Poison' doch hoffentlich drauf", erkundigt er sich bei mir, während ich kurz den Bass nachstimme.
Es ist interessant, dass er das als Aussage, anstatt wie für gewöhnlich als Frage formuliert.
"Selbstverständlich. Ich will doch dem Niveau dieser Band gerecht werden", antworte ich und versuche, den ironischen Unterton möglichst gering zu halten.
Von Ethan kommt ein kurzes Lachen, während Sean mich nur leicht angepisst betrachtet. Er scheint für einen Augenblick mit sich zu ringen, ob er es sich leisten kann, einen Streit vom Zaun zu brechen, obwohl das alle seine Chancen, nächste Woche doch noch spielen zu können, zerstören würde.
Er entscheidet sich dagegen.
"Das ist auch gut so."
Schräg hinter mir höre ich Henry angespannt ausatmen.
"Okay, dann mal los. Drei, zwei, ...", fängt er an, runter zu zählen, wobei er die Drumsticks aufeinander schlägt.

Eigentlich sind sie gar nicht mal so schlecht, wie ich gedacht hatte. Natürlich klingt es alles andere als großartig, vor allem, da man sowas von heraushören kann, dass wir keinerlei Erfahrung haben, zusammen zu spielen. Eigentlich macht jeder seinen eigenen Part, ohne irgendeine Harmonie zu den anderen. Aber einzeln betrachtet sind sie wirklich okay. Ich meine, man merkt zwar, dass Ethan nur mit viel Übung und Mühe die richtigen Griffe hinkriegt, und auch die Soli ein bisschen gequält klingen, aber das trübt den Gesamteindruck nicht allzu sehr. Henry kann die meiste Zeit den Rhythmus gut halten und hat die nötige Energie für seinen Job als Drummer. Und meine Befürchtung bezüglich Sean's Gesangskünsten haben sich auch nur zur Hälfte bewahrheitet: Seine Stimme ist zwar nicht gerade beeindruckend, aber auch nicht absolut schräg oder unerträglich. Mein größter Kritikpunkt wäre wohl, dass er viel zu sehr versucht, das Original nachzuahmen, aber das sind dann wirklich Details.
Alles in allem war es eine akzeptable Performance, lautet mein Fazit, sobald der letzte Ton verklungen ist.

"Das war genial!", verkündet Henry übertrieben, "Viel besser als früher."
Sean zuckt mit den Schultern.
"Das vielleicht, obwohl mir einige Fehler bei euch aufgefallen sind."
Er wendet sich mir zu.
"Aber wenigstens bist du gut genug, dass wir dich aufnehmen", teilt er mir auf eine Art mit, die es so wirken lässt, als würde er erwarten, dass ich ihm auf Knien dafür danke.
Sicher nicht.
Wie nett von ihm außerdem, dass er das ohne Absprache mit den anderen Bandmitgliedern beschließt.
"Cool", erwidere ich bloß gelassen.
Während sich Henry's Grinsen intensiviert, höre ich Ethan nur ganz leise darauf murmeln:
"Das dachte ich damals auch."
Auch auf meinem Gesicht entfaltet sich ein leichtes Grinsen. Ich mag den trockenen Zynismus von diesem Typen irgendwie.
"Wie gesagt, mir sind einige Fehler aufgefallen", wechselt Sean das Thema, glücklicherweise ohne Ethan's Kommentar gehört zu haben.
"Beim zweiten Chorus, Henry...", fängt er an, wirklich jedes Detail zu bemängeln.
Und das schlimme daran ist, das seine Kritik eher aus Aussagen wie "Es klang irgendwie falsch" besteht, als dass er wirklich sachbezogenes Wissen und konstruktive Vorschläge anbringen würde. Ich will ja nichts sagen, aber es wirkt sehr stark so auf mich, als ob Sean kaum Ahnung von Musik hätte. Er kann einigermaßen singen, aber mehr auch nicht. Und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er mit sich selbst nicht so übertrieben kritisch ist.

Ethan nimmt demonstrativ die Gitarre ab und lässt sich auf einen Klappstuhl fallen, der etwas abseits von den Instrumenten in der Garage steht.
"Das dauert jetzt 'ne Weile", erklärt er mir auf meinen fragenden Blick hin.
Ich will gerade seinem Beispiel folgen und meinen Bass abstellen, als ich von der Tür, die vermutlich die Garage mit dem Wohnhaus verbindet, ein undefinierbares Geräusch höre.
Und noch in der Sekunde, als ich realisiere, dass es nach menschlichem Atmen klingt und dort irgendjemand ist, sehe ich sie auch schon.
Dort im Türrahmen steht Eve, keine Ahnung, wie lange schon. Sie ist es zweifellos. Dieselbe zusammengesunkene Körperhaltung,  dieselbe blasse Haut und dieselben großen, traurigen Augen, die von dem, was sie sehen mussten, inzwischen beinahe selbst leblos geworden sind.
Für einen kurzen Moment blicken diese Augen direkt in meine.
Erschrocken davon, dass ich sie bemerkt habe, stürzt sie herum, in Richtung Wohnhaus. In ihrer Eile wirft sie einen Gartenrechen um, der dort an der Wand lehnt. Er fällt mit einem lauten Krachen zu Boden.
Jetzt werden auch die anderen drei auf die Tür aufmerksam.
Sean unterbricht sogar seine Nörgeleien an Henry und geht darauf zu.
Zum ersten Mal ist so etwas wie ehrliche Sorge in seiner Stimme zu vernehmen:
"Das war sicher meine Schwester. Bin gleich wieder da."
Damit ist er auch schon in den Wohnbereich verschwunden.
Ich hatte also recht: Er ist ihr Bruder.
Mental danke ich Henry, dass er mir das mit der Band vorgeschlagen hat.
Jetzt muss ich nur noch - gemeinsam mit Farley - einen Plan oder einen Vorwand entwickeln, mit Eve zu reden.
Ich habe Farley noch nichts von der Sache mit der Band erzählt gehabt, einfach weil ich zuvor sicher gehen wollte, dass meine Vermutung - oder eher Hoffnung - stimmte. Aber jetzt steht dem nichts mehr im Wege.

Ethan ist inzwischen wieder aufgestanden und macht jetzt zwei Schritte nach vorne, um mit einem Blick zu kontrollieren, ob Sean auch wirklich außer Hörweite ist.
"Es wäre echt eine Bereicherung, würde er auch mal einen Funken der Empathie, die er für seine Schwester hat, für andere empfinden", stellt er kopfschüttelnd fest, als er sicher ist, dass er ihn nicht hören kann.
Henry zuckt mit den Schultern, während er seine Drumsticks zwischen den Fingern umherwirbelt.
"Stimmt schon. Aber sie hat ja auch viel durchgemacht."
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich glaube, dass Henry mir nach diesen Worten einen besorgten Blick zuwirft, einfach, weil er weiß, welche persönliche Verbindung ich selbst zu einem der Morde habe.
"Schon klar", antwortet Ethan, "Trotzdem ist er ein narzisstischer Egoist. Ich sag's dir, wenn der Gig ein Reinfall wird, dann reicht's mir. Nur weil er sich mit Ed anlegen musste..."
Dass er sich so reinsteigert, ruft bei Henry aus irgendeinem Grund ein kurzes Lachen hervor.
"Ed ist der frühere Bassist", erklärt er mir unnötigerweise, denn das war eigentlich logisch, "Und Ethan ist ziemlich angepisst, dass Sean damit den Gig in Gefahr gebracht hat. Er hat nämlich so ein Mädchen dazu eingeladen, das er gehofft hat, damit damit beeindrucken zu können."
Ah, das erklärt seine Reaktion.
"Immer noch hoffe", korrigiert Ethan diese Erklärung, bevor er sich an mich wendet, mir die Hand auf die Schulter legt und gespielt dramatisch erklärt:
"Sollte diese Sache also doch nicht ganz so scheiße werden, wie ich befürchte, und ich mein Ziel erreichen, dann schulde ich dir was für's Leben."
Die Melodramatik seiner Mimik und seiner Worte bringt mich unweigerlich zum Lachen.
"Alles klar."
Die einzige Frage, die noch offen bleibt, ist, welcher vernünftige Mensch eine Band mit so einem Namen eh noch nicht komplett abgeschrieben hat.

Nachdem Sean ohne weiteren Kommentar bezüglich seiner Schwester zurückgekommen ist, läuft der Rest der Bandprobe relativ ereignislos ab, da ich bis auf "Rebel Yell" von Billy Idol die Basslines der anderen sieben Songs, die sie spielen wollen, nun mal nicht spontan kann, und ihnen nicht viel anderes übrig bleibt, als schon mal alleine zu üben. Die Songs sind alle diverse Hardrock-Klassiker, mit Stücken von Guns N' Roses, Ozzy Osbourne und ähnlichem. Es wird stressig, das ganze Zeug bis Samstag draufzuhaben, aber was soll's. So habe ich wenigstens etwas sinnvolles zu tun und es hilft den Ermittlungen. Außerdem freue ich mich in gewisser Weise, mal wieder ins Live Wire zu gehen. Ich bin letzten Sommer gelegentlich dort gewesen und habe mich mit einigen ganz interessanten Leuten unterhalten. Seit Macey's Tod war ich nicht mehr dort.

Nachdem ich abschließend von Sean erfahren habe, dass die nächste Bandprobe für Dienstagabend angesetzt ist, mache ich mich auf den Weg nach Hause - natürlich nicht ohne musikalische Begleitung von Bowie. Und als ich diesmal den Rhythmus leicht mitklopfe, ist es wirklich, weil ich vergleichsweise gut gestimmt bin.
Ich habe einen Ansatzpunkt bezüglich Eve, die Bandprobe war abgesehen von Sean's Arroganz besser gelaufen, als ich gedacht hatte, und mit Farley läuft soweit alles gut. Mir kommt plötzlich der Gedanke, dass es doch eigentlich irgendwie cool wäre, würde sie zu dem Gig kommen. Keine Ahnung, warum ich das so sehe, aber ich werde es ihr sicher mal vorschlagen. Es könnte ganz amüsant werden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top