Kapitel 28: Nate

Montag

Der Gong der Schulglocke ertönt und befreit mich erbarmungsvollerweise von dem langweiligen Gerede des Englisch-Lehrers. Er hatte es gerade von der Lektüre, die wir momentan behandeln. Ich hab mir nicht die Mühe gemacht, sie komplett zu lesen, aber der Inhalt ist eh mal wieder so nichtssagend, dass das Überfliegen und die Wikipedia-Zusammenfassung völlig ausreichend waren.
Eine weitere Unterrichtsstunde ist vorbei, weitere verschwendete Zeit, die ich verdammt nochmal sinnvoller hätte nutzen können. In Bezug auf die Ermittlungen natürlich.
Vor ein paar Tagen hatte ich zum ersten Mal seit Mr. Winters' Tod wieder eine realistische Idee, die uns weiterbringen könnte. Beziehungsweise hatte ich die Idee schon früher, aber jetzt ich habe endlich die nötigen Vorkehrungen getroffen, um gewisse Dinge diesbezüglich in Erfahrung zu bringen.
Vielleicht ist das eine wahre Spur.
Ich sehne mich langsam nach Fortschritten. Macey's Mörder muss endlich gefasst werden.

"Nate, warte mal kurz!", höre ich Henry's Stimme, als ich schon beinahe aus dem Raum bin.
"Was gibt's?"
Hoffentlich ist es nichts bezüglich der Prom-Vorbereitung.
Aber selbst er hat bei der letzten Sitzung am Freitag nicht denselben Übereifer bezüglich der Diskussion rund um die Musik gezeigt wie sonst. Jeder war von dem Bewusstsein betroffen gewesen, dass vor genau einer Woche ein Mensch in diesem Gebäude grausam umgebracht worden war.
"Ich hab' eine Frage an dich. Eine Bitte. Oder auch ein Angebot, je nachdem, wie du es siehst", meint er.
Skeptisch schaue ich ihn an, meine Neugier ist nicht vollständig geweckt.
"Worum geht es denn?", frage ich ihn, während wir nebeneinander den Gang in Richtung Mensa entlanglaufen.
"Tja, also, ich bin in so einer Band, musst du wissen", fängt er an zu erklären.
"Ah, echt?", frage ich abgelenkt und nur gering interessiert, weil es im Moment wichtigere Dinge gibt, mit denen ich mich beschäftigen sollte, und ich außerdem einerseits nach Farley und andererseits nach meiner Schwester Ausschau halte. Vielleicht hat Jules die Information, um die ich sie gebeten habe, bereits.

"Ja, erst seit Kurzem. Ich bin Drummer", erzählt Henry weiter.
Ist ja nett zu wissen, aber was soll ich jetzt bitte mit dieser Information anfangen?
"Cool. Und was hat das alles mit mir zu tun?"
"Naja, uns fehlt ein Bassist, und ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, einzuspringen."
Okay, irgendwie hätte ich ja damit rechnen können, dass er darauf hinaus will.
Und vor mehr als drei Monaten hätte dieses Angebot sogar irgendwie verlockend geklungen. Denn auch wenn meine eigene Band aufgrund von Howard's Wahnsinn nur kurz überlebt hatte, war es doch irgendwie cool gewesen. Es hat mir gefallen, in einer Band zu spielen. Aber jetzt habe ich weder Zeit, noch die Motivation dafür. Außerdem machen sie wahrscheinlich irgendein abgefucktes Metal-Subgenre. Und das ist absolut nicht mein Ding.

"Wurde der alte Bassist etwa eingebuchtet, weil er ganz im Black-Metal-Stil eine Kirche abgefackelt hat?", frage ich in einem eindeutig nicht ernst gemeinten Tonfall.
Henry lacht herzhaft, bevor er dann mit einem Schulterzucken erklärt:
"Ne, er hat sich nur heftig mit dem Leadsänger verkracht. Der ist nicht immer ganz einfach. Vielleicht kennst du ihn sogar, er heißt Sean Markow und hat letztes Jahr hier seinen Abschluss gemacht."
"Nein, nie gehört. Welches Genre spielt ihr denn?", erkundige ich mich weiter, weil ein Teil von mir doch in gewisser Weise interessiert ist. "Ich meine, höchstwahrscheinlich Metal, aber..."
"Kein Metal. Eher Hardrock", unterbricht mich Henry.
Überrascht schaue ich ihn an.
Das wundert mich irgendwie, wo er sich doch bei so vielen Gelegenheiten deutlich als überzeugter Metal-Liebhaber gezeigt hat. Aber natürlich kann man auch andere Genres mögen. Und so groß ist der Unterschied ja nicht.

"Ah. Und wie nennt sich eure Band?"
"Lach' jetzt bitte einfach nicht, es ist nur ein Arbeitstitel, und Sean ist als einziger überzeugt davon", warnt er mich mit einer abwehrende Geste, wie um zu verdeutlichen, dass das, was er mir jetzt gleich verkünden wird, nicht auf seinem Mist gewachsen ist.
Er holt tief Luft, und ich befürchte das schlimmste.
"Sie heißt Metalheads in the Hood."
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und weiß nicht, ob mich dieser Titel einfach nur zum Fremdscham oder zum Lachen bewegen sollte. Aber nach einem kurzen Moment überwiegt doch letzteres.
"So nennt ihr eure Band, die nicht einmal Metal spielt?", frage ich ungläubig nach, während ich amüsiert den Kopf schüttele.
Henry zuckt hilflos mit den Schultern, ihm ist anzusehen, dass er alles andere als glücklich damit ist.
"Er ist beschissen, ich weiß. Aber es geht doch um die Musik", versucht er noch, das ganze zu rechtfertigen.
"Mh, stimmt schon. Leider muss ich trotzdem passen. Ich bin zur Zeit nicht wirklich in der Stimmung dafür", erkläre ich ihm.

Wir sind inzwischen kurz vor dem Eingang der Mensa stehen geblieben.
Henry sieht zwar ein bisschen enttäuscht, aber auch nicht wirklich überrascht aus, dass ich ablehne.
"Klar, man, es ist viel passiert in den letzten Monaten. Ich versteh's, wenn du zur Zeit keinen Bock darauf hast. Aber das Angebot steht noch, falls du es dir doch nochmal anders überlegst."
Ich nicke.
"Danke", entgegne ich nur, da ich mir eigentlich sicher bin, dass sich meine Entscheidung nicht ändern wird.
Auf einmal erkenne ich in der Menge der auf die Mensa zuströmenden Schüler die braunen Haare meiner Schwester. Perfektes Timing.
"Sorry, ich muss jetzt los. Man sieht sich", verabschiede ich mich schnell von Henry.
"Klar, bis dann", entgegnet er ein wenig ratlos, warum ich auf einmal so in Eile bin.

Ohne große Rücksichtnahme dränge ich mich durch die Leute, bis ich bei Jules angekommen bin, und berühre sie leicht an der Schulter, um sie auf mich aufmerksam zu machen.
Erschrocken wirbelt sie herum.
"Man, erschreck mich doch nicht so", schimpft sie, die Hand melodramatisch an die Brust gelegt.
"Sorry", entschuldige ich mich halbherzig.
"Schon gut. Ich hab' aber die 'Informationen'", sie macht mit den Fingern zwei Anführungszeichen in die Luft, "um die du mich gebeten hast. Hast du deinen Teil der Abmachung?"
Ich nicke, während ich meinen Rucksack vom Rücken nehme, und wir zeitgleich weiter mit dem Strom in die Mensa treiben. Wie sehr ich diesen Teil des Gebäudes verabscheue.

Als wir an einem freien Tisch angekommen sind, habe ich den Schnellhefter schon herausgeholt.
Jules streckt die Hand danach aus, aber ich halte ihn außerhalb ihrer Reichweite.
"Erst die Informationen."
Sie verdreht die Augen und lässt sich auf einen der Stühle fallen, so dass sie mir gegenüber sitzt.
"Hör auf, so pseudo-geheimnisvoll zu tun. Aber gut", meint sie. "Die Gerüchte stimmen. Sie hat Mr Winters gefunden."
Also ist es so, wie ich vermutet hatte.
Kurz nach dem Mord fingen neben den ganzen Beschuldigungen natürlich auch die Gerüchte darüber an, wer die Leiche gefunden hätte, denn logischerweise musste es entweder einer von den Lehrern, den Schülern, oder dem Reinigungspersonal gewesen sein.
Aber sehr schnell war eine gewisse Person in den Fokus geraten: Ein relativ unscheinbares Freshman-Mädchen, auf das die Lehrer zur Zeit besonders Rücksicht nehmen, und die so aussieht, als würde sie jeden Moment einen ähnlichen Zusammenbruch erleiden, wie Greg damals in genau dem Alter.
Ich persönlich habe darin vor allem eine Chance bezüglich unserer Nachforschungen gewittert: Wenn dieses Mädchen ihn gefunden hat, dann besteht die Möglichkeit, dass sie vielleicht irgendeine andere Person - im Idealfall natürlich den Täter - in der Nähe gesehen oder andere Hinweise dieser Art hat. Auch interessiert mich, warum sie sich mit Mr Winters treffen wollte.
Folglich habe ich Jules, die ja praktischer Weise im gleichen Jahrgang ist, gebeten, für mich herauszufinden, ob die Gerüchte bezüglich diesem Mädchen wahr sind.
Und jetzt habe ich meine Antwort.

"Gut. Und weiter? Name, soziales Umfeld?", frage ich nach, denn derartige Details waren in unserem Deal mit inbegriffen.
"Sie heißt Eve Markow. Und glaub mir, das war gar nicht mal so leicht rauszufinden, wie man denken würde..."
Markow? Den Namen habe ich doch vorhin erst gehört.
Fuck, ja, dieser Typ aus Henry's Band heißt doch so. Sean Markow, wenn ich mich richtig erinnere. Ist das wirklich ein so großer Zufall? Ich meine, der Name ist zwar nicht gerade üblich, aber es wäre schon sehr unrealistisch, dass ich rein zufällig vor ein paar Minuten das Angebot erhalten hätte, der Band des Bruders - vielleicht auch Cousins - des Mädchen beizutreten, das Mr Winters gefunden hat.
"Hat sie zufällig einen Bruder im College-Alter? Der bis letztes Jahr auch an unserer Schule war?"
Skeptisch sieht Jules mich an, bevor sie ein ratloses Gesicht macht.
"Woher soll ich das wissen? Außerdem bin ich gerade dabei, dir das zu erzählen, was ich rausgefunden habe", erklärt sie mir.

Sie räuspert sich kurz, bevor sie fortfährt:
"Sie ist sehr unauffällig. Hat keine wirklichen Freunde, zumindest nicht an der Schule. In einer AG ist sie auch nicht. Eine ziemliche Außenseiterin also. Diese abgefuckte Wannabe-Cheerleader-Gruppe aus unserer Jahrgangsstufe macht sich regelmäßig über sie lustig, aber das ist nicht wirklich außergewöhnlich. Die hassen eh alle, die nicht zu ihrer Clique gehören ... Naja, und sonst gibt es nicht viel über Eve zu sagen. Obwohl, fast hätte ich es vergessen."
Sie macht eine dramatische Schweigepause.
"Es heißt, dass sie sich öfters mit Mr Winters nach dem Unterricht getroffen hat. Aber den Wahrheitsbestand davon kannst du anzweifeln, das ist tendenziell nur Tratsch und Klatsch", endet sie dann ihren Bericht.

Nachdenklich lehne ich mich zurück.
Interessant. Vor allem das letzte, das sie erwähnt hat. Damit könnte ich bezüglich meinen Nachforschungen arbeiten.
Und mich beschäftigt immer noch, ob dieser Sean wirklich mit Eve verwandt ist. Denn wenn ja, dann wäre ein Beitritt bei Metalheads in the Hood - dieser Name einfach - eine potentielle Chance, dass ich mit diesem Mädchen ein Gespräch anfangen könnte. Weil das wird sich früher oder später zu einem wahren Problem entwickeln: Weder Farley noch ich zählen zu den vertrauenswürdig wirkendsten Personen, besonders für jemanden wie diese Eve. Warum sollte sie also mit uns reden oder gar Details bezüglich Mr Winters erzählen?

"So, ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt bist du dran", reißt Jules mich aus meinen Gedanken.
Ihre Augen sind auf den grünen Schnellhefter vor mir gerichtet.
Ich nehme ihn in die Hand und reiche ihn ihr rüber.
Ein leichtes Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus, als sie anfängt durchzublättern, und ich beginne zu erklären:
"Wie verabredet: Mein altes Essay zum Thema 'Globalisierung und ihre Auswirkungen' aus der neunten Klasse. Ich bezweifle zwar, dass Mrs Deeks sich daran erinnert, aber sicherheitshalber habe ich ein paar Wörter ausgetauscht und Sätze umgestellt. Des Weiteren habe ich natürlich den Namen und das Datum geändert, und das Ganze neu kopiert. Deine Vorteile: Ich hab damals ein B darauf gekriegt und du sparst dir einen Haufen Recherche-Arbeit."
Das war es, was Jules als Gegenleistung dafür verlangt hatte, dass sie mir die Informationen bezüglich Eve besorgt. Ein absolut fairer Handel. Es ist wirklich ein Glücksfall, dass Mrs Deeks jedes Jahr die gleichen Aufgaben stellt und ich das Zeug außerdem noch auf einem USB-Stick gespeichert hatte.

"Genial!", freut sich meine Schwester und ihr Grinsen wird noch breiter.
"Und für die Korrektheit, weil ich dein großer Bruder bin und so, weise ich dich noch mal darauf hin, dass das, was du tust, strenggenommen moralisch verwerflich ist, und du ziemlich tief in der Scheiße sitzt, sollte es rauskommen", meine ich, allerdings in einem nicht sonderlich ernsten Tonfall, denn ich hätte in ihrer Situation schließlich genau das gleiche getan. Das ist auch ihr bewusst.
"Ach, die Deeks ist doch zu vertrottelt, um sich überhaupt die Namen ihrer momentanen Schüler zu merken, da erinnert die sich nie im Leben noch an dich oder an das, was du damals geschrieben hast", winkt sie ab, den ersten Teil meiner Aussage komplett ignorierend, "Außerdem hat das ganze nur positive Auswirkungen, da ich so mehr Zeit habe, um für andere Fächer lernen."
"Und so kann man sich selbst belügen", grinse ich.
"Haha, sehr witzig", entgegnet Jules sarkastisch, aber ebenfalls amüsiert.
Die gute Laune ist ihr anzumerken.
Sie verstaut den Schnellhefter in ihrer Tasche, und steht dann auf.
"Gut, wir wären also quitt. Man sieht sich zu Hause", verabschiedet sie sich.
"Bis dann."
Sie wendet sich ab, bereit in der Masse der Schüler zu verschwinden, und auf einmal habe ich unfassbar Angst, dass der Mörder als nächstes Jules umbringen könnte. Ich muss definitiv mehr auf sie achten, auch während wir in der Schule sind.
Als nächstes ... Das klingt ja so, als wäre es sicher, dass es wieder passieren würde. Verdammt. Es darf nicht noch einen Todesfall geben. Das halte weder ich noch diese verdammte Schule aus.

"Ach ja, und übrigens", dreht meine Schwester sich doch noch mal um, "Wenn ich erwischt werde, bist du genauso am Arsch wie ich, weil Mum sicherlich nicht glücklich darüber wäre, wenn sie wüsste, dass du mir deine alten Arbeiten verkaufst", grinst sie schadenfroh, bevor sie sich endgültig abwendet und in Richtung Ausgang läuft.
"Ich werde jegliche Verbindung dazu leugnen!", rufe ich ihr hinterher.
Ich frage mich kurz, ob sie mich überhaupt gehört hat, aber dann winkt sie nochmal, bevor sie endgültig aus meinem Blickfeld verschwindet.
Amüsiert schüttele ich den Kopf über sie, und fange gerade an, meine Kopfhörer aus der Manteltasche zu nehmen und zu entwirren, als ich auf einmal hinter mir eine Stimme höre:
"Was willst du leugnen?"

Aus Farley's Tonfall spricht Vorsicht und Skepsis, als würde sie hinterfragen, ob ich ihr etwas verheimliche.
Strenggenommen gehen sie meine privaten Angelegenheiten nichts an, aber was soll's. Und es ist eine gute Überleitung zum Thema: Unseren Ermittlungen.
Ich drehe mich zu ihr und erwidere:
"Dass ich meiner Schwester einen alten Aufsatz von mir verkauft habe."
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaut sie mich an, während sie sich auf den Stuhl neben mich setzt und ihre Tasche am Boden abstellt.
"Also liegt wohl diese nichtexistente Arbeitsmoral in der Familie."
Ich fühle mich von ihrem Kommentar nicht wirklich angegriffen, denn es stimmt ja.
"Exakt", antworte ich mit einem leichten Grinsen, "und in diesem Fall hatte es den Vorteil, dass Jules mir im Gegenzug einige Informationen bezüglich diesem Mädchen besorgt hat, von dem es heißt, dass sie Mr Winters gefunden hätte. Und die Gerüchte stimmen anscheinend. Das kann unseren Nachforschungen zum Vorteil kommen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass sie zumindest einem von uns genug vertraut, um uns zu erzählen, was sie an diesem Tag gesehen hat. Das könnte der entscheidende Hinweis sein", erkläre ich ihr relativ enthusiastisch.
Es fühlt sich gut an, endlich einen Plan zu haben.
"Das klingt ja interessant, aber ich muss dir was sagen", gesteht Farley, sich etwas unangenehm windend.
Jetzt ist es an mir, sie skeptisch zu betrachten. Hat sie mir vielleicht etwas verschwiegen?
"Was?"
Sie holt kurz tief Luft, bevor sie verkündet:
"Ich werde ehrlich mit dir sein: Ich werde mit der ganzen Mordgeschichte aufhören. Das ist alles eine Nummer zu groß für uns. Selbstverständlich werde ich dich von deinen Versuchen nicht abhalten, aber ich bin draußen."

Perplex starre ich sie an. 
Damit ... habe ich nicht gerechnet. Wie kommt es, dass sie auf einmal diesen Entschluss gefasst hat?
Besonders in den letzten Tagen hat sich das Verhältnis zwischen uns eigentlich relativ eingependelt. Klar, wir hatten nicht allzu viel bezüglich den Ermittlungen zu diskutieren gehabt, aber dadurch wirkt der Gedanke, jetzt plötzlich wieder getrennte Wege zu gehen, noch abwegiger. Und genau darauf wird es hinauslaufen, denn ohne unsere gemeinsamen Investigationen gibt es keinen Grund mehr, dass wir irgendwie miteinander unsere Zeit verbringen sollten.
Es wundert mich einfach, dass Farley so plötzlich aussteigen will ... Klar, sie hat mir sogar gesagt, dass sie Angst hätte, aber wir haben uns bisher nicht wirklich in gefährliche Situationen begeben. Allein die Tatsache, dass sie sich in diesem Gebäude aufhält, bringt sie mehr in Gefahr.
Stimmt ihre Aussage also vielleicht nicht? Ist ihre Motivation etwa gar nicht ein mögliches Risiko bei unserer Suche nach dem Täter, sondern eher eine pure Meinungsänderung?
Die Gerüchte um Farley und ihre potenzielle Verbindung zu den Morden werden immer mehr abnehmen, allein wegen dem ganzen Chaos und der Tatsache, dass Farley wohl physisch gesehen nicht in der Lage gewesen wäre, einen erwachsenen Mann von Mr Winters' Statur und Größe zu überwältigen.
Ist es also jetzt auf einmal nicht mehr ihre oberste Priorität, den Täter zu finden, sondern es ist ihr wichtiger, ihren Ruf wieder insoweit reinzuwaschen, dass sie sich nicht mehr mit jemandem wie mir abgibt?
Ich schlucke hart.
Scheiße, ich weiß nicht warum, aber dieser Gedanke - der ja nicht mal ein sonderlich neuer ist - tut mir innerlich viel mehr weh, als er sollte.
Was hatte ich denn je erwartet. Ich wusste ja, wie sie drauf ist. Und eigentlich war es klar, dass es früher oder später darauf hinauslaufen würde. Es war ein rein sachlicher Deal zwischen uns. Den sie jetzt frühzeitig beenden will.
Aber wenn es so einfach ist, wieso schmerzt diese Vorstellung dann so?

"Ach ja, warum auf einmal? Wenn es in Wahrheit daran liegt, dass dir dein Ruf plötzlich doch wieder wichtiger ist, kannst du das gerne zugeben", entgegne ich und versuche, den bitteren Unterton in meiner Stimme mit leichter Gereiztheit oder auch Arroganz zu kaschieren.
Was ist nur los mit mir?
"Nein, ich muss gestehen, dass mein Ruf schon lange nicht mehr das wichtigste für mich ist. Schließlich ist er bereits am Arsch", entgegnet sie.
Dann lächelt sie leicht und fährt fort:
"Ich denke einfach, dass wir uns nicht mehr als Möchtegern-Detektive verhalten sollten."
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich merke, dass sie es ernst meint und mich nicht belügt.
Sie will also nicht mehr weiter Nachforschungen anstellen. Ich sollte das akzeptieren, denn natürlich hat sie jedes Recht dazu. Aber ein undefinierbarer Teil von mir wehrt sich dagegen, das einfach so anzunehmen, ohne zumindest zu versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
"Warum? Bisher haben wir doch mehr oder weniger Fortschritte gemacht. Zwar nur sehr kleine, aber immerhin. Und das mit diesem Freshman-Mädchen jetzt könnte der Durchbruch sein."
"Ich will wirklich deine Hoffnungen nicht zerstören. Aber welche bitte? Wir, zwei High School Schüler, können sich nicht erhoffen, da Lösungen zu finden, wo Erwachsene daran scheitern."

Erneut muss ich hart schlucken und mich dazu zwingen, sie nicht völlig entgeistert anzusehen.
Aber dieses Gefühl währt nur kurz, bevor ich mir schnell erfolgreich einrede, dass das, was sie gesagt hat, nicht stimmt. Wir können den Täter finden. Natürlich können wir das.
"Was redest du da. Wir haben das alles bezüglich Howard rausgefunden, und es ist nicht so, als würde die Polizei ihn irgendwie auf dem Schirm haben. Und dieses Mädchen - wenn wir sie dazu bringen, uns zu vertrauen - erzählt uns vielleicht auch mehr, als den Polizisten. Vor allem, wenn einer wie Colby sie befragt hat", erkläre ich ihr in dem Versuch, sie und auch mich selbst vollends zu überzeugen.
Als ich den Namen des Officers erwähne, scheint Farley für einen Augenblick ihr Gesicht zu verziehen, versucht das aber schnell wieder zu verbergen. Habe ich etwa irgendwas nicht mitgekriegt, und sie ist auch irgendwie in Kontakt mit diesem Arschloch gekommen? Verdammt, ich hoffe nicht. Wenn er ihr gegenüber genauso widerlich war ...
"Im weitesten Sinne vielleicht. Trotzdem...", meint sie skeptisch.
Sie wirkt nicht komplett überzeugt, leugnet aber zumindest nicht mehr, dass wir in der Tat Fortschritte gemacht haben.
"Sieh mal, ich bin überzeugt, dass wir damit etwas erreichen können. Warum willst du das ganze jetzt hinschmeißen? Es war schließlich deine Idee, dass wir zusammenarbeiten", erinnere ich sie.
Vorsichtig sieht sie mich an.
"Wenn du das sagst."

Ich muss mich zusammenreißen, nicht komplett wahnsinnig zu werden. Warum haut sie jetzt wieder diese knappen und wagen Antworten raus? Wie soll ich sie bitte von etwas überzeugen, wenn sie mir nicht einmal die Chance gibt, ordentlich mit ihr zu diskutieren?
Mir drängt sich plötzlich die Frage auf, wieso ich überhaupt so darauf Wert lege, dass wir weiter zusammen ermitteln. Das bisherige hätte ich eigentlich auch alleine herausfinden können, oder?
Dennoch hat es definitiv seine Vorteile, das ganze mit jemanden besprechen zu können, auch wenn dieser jemand Farley ist. Oder gerade deswegen?
Quatsch, was denke ich nur wieder.
Egal wie, ich muss alles versuchen, um die Chancen, den Mörder zu finden, möglichst hoch zu halten.
Den verdammten Mörder von Macey.
Scheiße.
Was für eine verfickt absurde Lebenssituation ist das eigentlich?
Ein Vers aus "Siamese Twins" von The Cure manifestiert sich mit Robert Smith's verzweifelter Stimme in meinem Kopf:
"Is it always like this?"
Stopp.
Ich hole tief Luft und tue das, worin ich inzwischen schon geübt bin: Meine Gedanken verdrängen.
Jetzt gerade geht es darum, Farley nicht zu verlieren. Was mir in diesem Moment nicht weniger wichtig ist.

"Ja, das tue ich. Und du kannst nicht leugnen, dass diese ganze Sache in erster Linie von dir ausging. Und ich habe ein Recht dazu, zu erfahren, was deine Meinung so plötzlich geändert hat. Damit ich zumindest eine Möglichkeit habe, dich vom Gegenteil zu überzeugen."
Nachdenklich legt Farley den Kopf schief.
"Es gibt keinen Auslöser", meint sie nach einem kurzem Zögern, das mir verrät, dass sie in keinem Fall gerade die Wahrheit sagt.
Warum lügt sie mich an? Warum hat sie nicht mal den Anstand, ehrlich zu sein? Ist ihr diese ganze Sache etwa so unwichtig? Hat sich ihre Meinung über mich nicht derartig zum Positiveren verändert, wie meine über sie?
Dieser Gedankengang löst für einen Moment eine zerstörerische Dunkelheit in mir aus.
"Das glaube ich dir nicht. Sag' es doch einfach", fordere ich in einem resignierten Tonfall.
Sie seufzt.
"Es ist nichts wichtiges und nun ja, es ist nunmal so. Tut mir leid", meint sie daraufhin.

Frustriert schaue ich sie nur an.
Sie wird es mir nicht erzählen, das weiß ich.
Es wäre einfach, jetzt bloß "Okay" zu sagen, und das ganze hätte sich erledigt. Wahrscheinlich wäre es auch einfach das beste, immerhin ist sie immer noch Farley Sullivan. Ihr und mein Leben könnten unterschiedlicher nicht sein. Nur ein Haufen unglückliche Gegebenheiten haben dazu geführt, dass wir überhaupt je ein Gespräch miteinander geführt haben.
Ich wende den Blick zu den anderen Schülern, die sich in der mir verhassten Mensa tummeln, und auch wenn es längst nicht mehr so viele wie noch vor ein paar Wochen sind, sehen doch einige von ihnen zu uns, als sie vorbeigehen.
Ihre Gedanken kann ich mir zwar nicht ganz erschließen, aber ich denke, dass sie irgendwo im Spektrum zwischen "Kaum zu glauben, was genau läuft jetzt eigentlich zwischen der Ex des Football-Captain's und diesem Freak?", "Ist er irgendwie suizidgefährdet, dass er sich mit der abgibt?" und "Diese beiden Psychos sind tickende Zeitbomben" liegen.
Im Grunde wissen nur Farley und ich, was wirklich los ist.
Und auf einmal ist mir dieses gemeinsame Wissen mit Farley, die Zeit, die wir gemeinsam verbringen, unfassbar bedeutend. Ich will und muss verhindern, dass sie das jetzt zunichte macht. Keine Ahnung, warum mir das so wichtig ist. Aber ich will auf gar keinen Fall kampflos aufgeben.

"Dann sagst du mir halt nicht den Grund. Ich kann dir trotzdem erläutern, warum deine Entscheidung keinen Sinn macht. Also, mal davon abgesehen, dass du, wie gesagt, alles bisher erreichte hinschmeißt, brichst du in gewisser Weise auch unseren Deal, zu versuchen den Täter zu finden. Außerdem meintest du damals, dass es den Vorteil für mich hätte, dass ich eine zweite Meinung hören könnte. Und irgendwie hattest du recht damit. Es ist nur positiv, wenn wir zusammen arbeiten", erkläre ich.
Mir ist bewusst, dass ich von einem Punkt zum anderen springe, aber ich kann es nicht ändern. Meine Gedanken sind zu aufgewühlt.
Schuldbewusst sieht Farley mich an, bevor sich ihr Gesichtsausdruck zu einem sanften Lächeln verändert.
"Würdest du mich etwa vermissen?"

Ich rühre mich nicht, blicke ihr nur unverwandt in die Augen, in einem kläglichen Versuch, zumindest insoweit meine Würde aufrechtzuerhalten, dass sie nicht merkt, wie gefährlich nahe ihre Aussage an die Wahrheit herankommt.
Obwohl, was soll das schon heißen. Es stimmt doch eigentlich das, was ich gesagt habe: Dass es Vorteile hat, wenn wir zusammenarbeiten. Ich muss nicht versuchen, irgendeinen tieferen Sinn hinein zu interpretieren.
Aber tief in mir weiß ich, dass meine Beweggründe nicht rein sachlich sind. Sie hat ins Schwarze getroffen. Ein bisschen. Auch wenn sie mich natürlich immer noch gelegentlich abfuckt, und ich ihr diverse Dinge längst nicht verziehen habe. Ich will einfach die Ermittlungen beenden, mit ihr, und danach erledigt sich die Situation wahrscheinlich von selbst, weil wir nach den Ferien auf unterschiedliche Colleges, vielleicht sogar in verschiedenen Staaten, gehen werden.
Wie gesagt, unsere Leben sind in ihren Grundsätzen verschieden.
Und daran kann und wird sich nie etwas ändern, ich bräuchte niemals einen Gedanken daran verschwenden. Nicht, dass ich das tun würde.
Aber bis dahin, solange es einen Grund gibt, mit ihr Zeit zu verbringen ... ja, würde ich es wirklich vermissen? Würde ich sie vermissen?
Mit kaum einem Gedanken habe ich so zu kämpfen. Und wenn ich es nicht mal mir selbst eingestehen kann, dann werde ich es sicher nicht vor ihr tun.

Sorgfältig lege ich meine nächsten Worte zurecht.
"In erster Linie würde ich deine Position in dieser Sache vermissen. Ich schätze es, auf deine Meinung zählen zu können. Meistens zumindest."
Das ist das größte Zugeständnis, zu dem ich fähig bin.
"Ich werde auch diese Dynamik vermissen", entgegnet sie schief lächelnd.
"Dann lass es einfach nicht dazu kommen", schlussfolgere ich aufgebracht.
Es freut mich unweigerlich, dass ihr diese ganze Sache anscheinend doch nicht komplett unbedeutend ist.
Dass ich ihr nicht komplett unbedeutend bin?
Quatsch, verdammt, ich sollte mit solchen absurden Überlegungen aufhören.
Musternd betrachtet Farley mich, dann seufzt sie und antwortet:
"Lass mich bitte drüber nachdenken. Ich muss meine Gedanken sortieren."
Ich nicke zustimmend.
Das klingt doch schon mal vielversprechend. Ich habe ihren Entschluss auf jeden Fall ins Wanken bringen können. Jetzt muss ich nur noch auf das beste hoffen.
"In Ordnung. Überlege es dir bitte gut", wende ich mich nochmals besorgt an sie.
Die einzige Antwort, die ich erhalte, ist ein Nicken.
Und ich kann nicht leugnen, dass mir eines immer mehr klar wird: Ich würde sie in der Tat vermissen. Egal wie sehr ich diese Erkenntnis leugne.

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