Kapitel 20: Nate
Samstag
Hier müsste es sein.
Ich überprüfe nochmal, ob die Adresse auch wirklich stimmt.
Ja, in diesem ziemlich neumodischen und massiven Haus wohnt wohl Farley.
Allgemein ist die Gegend hier ziemlich nobel - richtig spießig. Aber das passt ja zu dem, was sie mir von ihren Eltern erzählt hat.
Und es beweist, dass sie möglicherweise über das Geld verfügt, die Polizei zu bestechen? Nein. Wieder einigermaßen rational denkend verdächtige ich Farley eigentlich nicht mehr.
Nach meinem "Zusammenbruch" gestern hat es mich einige Zeit gekostet, bis ich überhaupt in der Lage war, das Handy zu nehmen und Howard anzurufen. Wenigstens hat er mir die Adresse ziemlich schnell verraten, und für seine Verhältnisse nur kurz über irgendwelche Theorien geredet. Er wirkte irgendwie gehetzt.
Inzwischen komme ich wieder einigermaßen klar.
Ich habe mir erneut bewusst gemacht, wie dringend ich Macey's Mörder finden muss. Danach ist Zeit zu trauern, davor muss ich einfach diese ... Sache erledigen. Rache. Gerechtigkeit?
Mit anderen Worten, ich habe die Barrieren wieder provisorisch aufgerichtet. Der Schutz vor meinen Gedanken und wahren Gefühlen.
Die Aufbauarbeiten beginnen von Neuem, und Tag für Tag führe ich einen unterdrückten inneren Kampf.
Ich parke am gegenüberliegenden Straßenrand und trete in die kühle März-Luft hinaus.
An der Gartentür angekommen bemerke ich das Klingelschild mit der Aufschrift "Sullivan". Also bin ich hier richtig.
Ich bin extra ein wenig später losgefahren, in der Hoffnung, dass Farley dann schon vor der Tür warten würde, und ich mich nicht dem Risiko aussetzen müsste, dass ihre Eltern aufmachen und ich zu Smalltalk gezwungen wäre. Dafür habe ich gerade echt keinen Nerv.
Aber natürlich muss ich Pech haben.
Denn kurz nachdem ich geklingelt habe, wird die Haustür einen Spalt breit geöffnet, und ich erkenne einen Mann - ungefähr Mitte vierzig - mit braunen Haaren, altmodischem Schnurrbart und Karohemd. Er sieht ziemlich wie einer dieser klischeehaften patriotischen Amerikaner in Filmen aus. Außerdem erinnert er mich irgendwie an den Typen aus South Park, der immer "Die klauen unsere Jobs!" schreit.
Das ist also Farley's Dad. Interessant.
Er mustert mich kurz und meint dann nur genervt: "Kein Interesse."
Oh man, denkt der etwa, ich wolle ihn für irgendeine Sekte anwerben?
Da er bereits drauf und dran ist, die Tür wieder zu schließen, fange ich schnell an, mich zu erklären.
"Ich bin eigentlich mit Farley verabredet."
Super, das klingt so, als würde es sich um ein Date handeln.
"Für ein Schulprojekt", füge ich eilig an.
Der Blick ihres Vaters wird noch misstrauischer, als ohnehin schon.
Was tue ich hier überhaupt?
Für Macey.
Als er einen Schritt zurück ins Haus macht, denke ich schon, dass ich es mir endgültig mit ihm verscherzt habe, aber er betätigt nur irgendeinen Knopf, so dass sich die Gartentüre mit einem Surren öffnen lässt.
Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen.
Während ich die paar Schritte zum Haus zurücklege, spüre ich immer noch seine inspizierenden Blicke auf mir, die von meinen schwarzen Stiefeln über den Mantel bis zu dem Shirt mit dem Logo der Band The Sisters of Mercy wandern.
"Ein Schulprojekt also, mh? Wer bist du überhaupt?", fragt er, als ich vor ihm stehe.
Ich begreife, dass ich mir wohl extra Mühe geben sollte, seine Sympathie zu erreichen. Nicht, dass er Farley noch verbietet, bei mir mitzufahren.
Von daher setze ich das freundlichste Lächeln auf, das ich zustande bringe.
"Entschuldigen Sie, ich hätte mich natürlich vorstellen sollen. Nate Revely", meine ich und halte ihm die Hand hin, die er nach kurzem Zögern schüttelt. Ich erwidere seinen kräftigen Händedruck gleichermaßen.
"Ich bin im gleichen Ethikkurs wie Farley. Wir müssen gemeinsam eine Gruppenarbeit vorbereiten."
"Davon hat sie gar nichts erzählt", wirft ihr Vater skeptisch ein.
Als ob er sich in ihrem letzten High School Jahr immer noch in ihre Schulsachen einmischt.
"Ja, es war ziemlich kurzfristig", erkläre ich in einem plauderhaften Ton, "Unser Lehrer geht ziemlich unstrukturiert an seinen Unterricht ran."
Wie heißt es doch so schön: Eine gute Lüge basiert darauf, dass möglichst viel Wahrheit in ihr steckt.
"Ach ja."
"Genau."
Diese Situation wird echt unbequem. Ich überlege schon, mich auf das Niveau herabzulassen, eine Konversation über das Wetter anzufangen, einfach um irgendetwas sagen zu können.
Aber in diesem Moment erscheint Farley als meine Rettung hinter ihrem Dad.
"Hi, Nate", begrüßt sie mich, bevor sie sich zu ihrem Vater umdreht.
"Dad, das ist Nate. Hoffentlich ist es nicht schlimm, dass ich mich heute mit ihm verabredet habe."
"Wegen dem Projekt im Ethikkurs", erkläre ich erneut hastig, damit Farley keine widersprüchliche Lüge zu meiner erfindet.
Sie versteht und nickt zustimmend.
Der Blick ihres Dad's schwankt eine Sekunde lang zwischen uns beiden hin und her, und ich schätze mal, seine Gedanken lauten gerade sowas wie "Ich hoffe, das stimmt, denn wenn meine Tochter was mit so einem Typen anfängt, muss ich was elementares in der Erziehung falsch gemacht haben".
Dabei war es doch Bradley, der ihr das Herz gebrochen hat.
"Na schön, und wo fahrt ihr hin? Du hast auch sicher einen Führerschein?", wendet er sich wieder an mich.
Halleluja, ist der Typ paranoid.
Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie befremdet ich von seinem Helikopter-Eltern-Verhalten bin, und komme seiner Aufforderung nach, indem ich meinen Geldbeutel aus der Hosentasche nehme und ihm meine Driver License vorhalte.
"Wir fahren in die Stadtbibliothek", beantworte ich währenddessen seine Frage.
Er nickt einigermaßen akzeptierend, und ich stecke meinen Führerschein zurück.
Ist sein Verhör jetzt endlich vorbei?
Sein Gesichtsausdruck ist immer noch skeptisch, aber ihm scheint wohl kein überzeugender Grund mehr einzufallen, Farley zu verbieten, bei mir mitzufahren.
"In Ordnung. Aber sei rechtzeitig zum Abendessen zurück. Und pass auf dich auf", meint er an Farley gerichtet, während er mir einen eindringlichen Blick zuwirft, der schon beinahe drohend wirkt.
Langsam fängt es an, mich zu stören, dass er mich offensichtlich für einen schlechten Umgang für Farley hält.
Wenn er wüsste, dass wir in einem Mordfall ermitteln, wäre seine Beunruhigung ja noch verständlich, aber ich habe ihm absolut keinen Anlass gegeben, zu denken, dass ich böse Intentionen hätte.
Sowas fuckt ab.
"Keine Sorge. Ich bin wieder rechtzeitig zu Hause", verspricht Farley und schiebt sich an ihm vorbei durch die Tür.
"Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen", verabschiede ich mich noch, obwohl dies eindeutig übertrieben ist.
"Mhm, gleichfalls."
Es ist offensichtlich, dass auch er das nur als Floskel benutzt.
Farley und ich gehen nebeneinander zum Auto, die Blicke ihres Vaters immer noch im Rücken.
Erst sobald wir drinnen sitzen und ich losgefahren bin, schließt sich die Haustüre langsam, wie ich im Rückspiegel sehe.
Das ist doch nicht mehr normal.
"Ist dein Dad immer so drauf, oder liegt es an mir?", erkundige ich mich bei Farley, während ich nach links abbiege.
Ich war noch nie in diesem Kaff, in dem Greg wohnt, aber laut Google Maps müsste es eigentlich relativ leicht zu finden sein.
"Ich hab dir doch schonmal gesagt, dass meine Eltern recht speziell sind", antwortet sie mit einem schiefen Lächeln.
"Stimmt schon, aber das gerade eben war echt ... seltsam."
"Naja ... Sie kümmern sich einfach um mich. So ist es halt, wenn man Einzelkind ist."
Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass dieses Verhalten trotzdem übertrieben ist, aber was gehen mich die Erziehungsmethoden anderer Leute an.
Da ich nicht sofort antworte, spricht Farley weiter, wohl um ein peinliches Schweigen zu verhindern:
"... Die Aufmerksamkeit Zweier gleichzeitig hat eben seine Vor- und Nachteile. Du scheinst es offensichtlich nicht zu kennen. Was ist denn mit deinem Dad? Ich habe nie was von ihm gehört."
Und schon wieder erreichen wir den Punkt in unseren Gesprächen, der für meinen Geschmack viel zu sehr ins Private geht.
Aber in diesem Moment macht es eigentlich auch nichts mehr. Sie weiß inzwischen eh schon zu viel über mich. Und ich über sie.
"Der lebt in Chicago. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwölf war. Er war aber auch davor schon selten zu Hause. Abgesehen von Anrufen zu Weihnachten und zum Geburtstag habe ich jetzt eigentlich kaum mehr Kontakt zu ihm. Meine Schwester und ich interessieren ihn einfach nicht. Und auch wenn ich ihn diesbezüglich nicht wirklich verstehe, habe ich es akzeptiert, und inzwischen beruht es eigentlich auf Gegenseitigkeit", erkläre ich ihr.
"Oh. Ja, das ist sicherlich trotzdem nicht schön", meint sie und es wirkt so, als wäre es ihr unangenehm, überhaupt gefragt zu haben.
Es war nicht meine Absicht gewesen, sie mit meinem vertrackten Familienleben in Verlegenheit zu bringen.
Deshalb antworte ich in betont lockerem Ton:
"Ist es vielleicht nicht, aber ich komme damit klar. Und früher, als es nicht wirklich so war, habe ich mich mit der Musik von Marilyn Manson selbst therapiert."
Ich werfe ihr von der Seite her einen kurzen Blick zu.
"Lass mich raten, du denkst gerade, dass das so einiges erklärt, hab ich recht?", grinse ich dann leicht.
Ich weiß ja inzwischen, was für ein Bild sie von mir hat.
Meine Aussage bringt sie zu einem echten Lachen.
"Solange du jetzt nicht auch noch anfängst, Stalin zu zitieren und kein Ehrenmitglied in so einer satanischen Sekte bist, ist ja alles gut", meint sie amüsiert.
Ich bin überrascht, dass sie das alles weiß, und als ich realisiere, was das bedeuten muss, wird mein Grinsen um einiges breiter.
"Sag bloß, du hast dich extra meinetwegen mit ihm und seiner Musik auseinander gesetzt."
"Nein. Natürlich nicht", meint Farley - auf einmal wieder ganz ernsthaft - aber alles an ihrem Tonfall und ihrer Körpersprache sagt, dass sie geradeaus lügt.
Irgendwie ist es ziemlich süß, wie sie versucht, sich aus dem Offensichtlichen rauszureden.
... Sekunde, das habe ich doch nicht gerade wirklich gedacht.
Das ist Farley.
Ich sollte ich mich eher darüber lustig machen, oder - selbst wenn - dann lässt es mich natürlich völlig kalt.
Anscheinend bin ich geistig immer noch verwirrt. Ja, das ist eine akzeptable Begründung.
"Ist klar", lache ich deshalb lediglich.
"Nein. Also, ich bin bloß per Zufall draufgekommen. Also ... und dieses Zitat fand ich ich einfach toll und so. Bis ich den wahren Ursprung gefunden habe. Und ... niemals würde ich doch meine Zeit damit verbringen...", versucht sie, sich zu verteidigen. Ziemlich verzweifelt, allerdings.
"Ah, ja. 'The death of one is a tragedy, the death of millions is just a statistic'", bringe ich das Zitat an, von dem sie spricht, "Bekannt als Aussage von Stalin. Und zufälligerweise auch die Bridge aus Marilyn Manson's 'The Fight Song'."
An meinem Tonfall ist deutlich zu erkennen, dass ich ihr ihre Rechtfertigung nicht abnehme.
Sie antwortet nicht, sondern lehnt sich schmollend zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Es ist offensichtlich, dass sie sich gedanklich dafür Vorwürfe macht, dass sie sich selbst verraten hat.
Erneut lache ich nur.
Was soll ich davon halten?
Naja. So hat sie zumindest mal gute Musik gehört.
Dennoch sollten wir endlich wieder über das eigentliche Thema reden, wegen dem wir hier sind. Greg und die Ermittlungen.
"Also, vielleicht sollten wir mal besprechen, wie wir vorgehen wollen, sobald wir da sind. Erstmal hoffe ich natürlich, dass Greg überhaupt zu Hause ist, aber laut dem, was Howard gesagt hat, müsste das eigentlich der Fall sein. Wir werden ihm nicht erzählen, was der eigentliche Grund ist, warum wir mit ihm reden, sondern einfach behaupten, dass wir uns Sorgen um Howard machen, wegen seinem zunehmenden Realitätsverlust", erkläre ich Farley meine Überlegungen.
"Mh. Klingt nach einem gutem Plan. Aber mal ne Frage: Ist Greg ähnlich wie Howard? Nur damit ich weiß, worauf ich mich einstellen muss."
In ihrer Stimme klingt leichte Angst mit, was mich wundert, denn sie wirkte gestern eigentlich nicht so, als hätte Howard sie extremst beunruhigt.
"Nein, ist er nicht", versichere ich ihr, "Er ist kein Verschwörungstheoretiker, oder ähnliches. Nur irgendwie ... nihilistisch. Und depressiv."
So wirkte er zumindest, als ich das letzte mal mit ihm gesprochen habe. Was vor ungefähr einem Jahr war. Aber das muss Farley ja nicht unbedingt wissen.
Und die Erleichterung steht ihr ins Gesicht geschrieben.
"Ok, gut. Also, auf dass wir mehr über Howard erfahren werden", meint sie mit einem ungewohnten Enthusiasmus.
Aber ich habe keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn wir sind bereits an unserem Ziel angekommen.
Alle Häuser in der Straße, in der wir uns befinden, sind in einem ziemlich rustikalen Stil gehalten, und in Kombination mit der malerischen Berglandschaft außen herum, ist dieses Kaff wohl der Traum vieler Touristen, die extra deswegen nach Colorado kommen.
Auf den zweiten Blick aber ist besonders das Haus, vor dem ich jetzt parke, eher heruntergekommen und wenig charmant - Hier wohnt Greg.
Farley und ich steigen beide aus dem Wagen und zusammen gehen wir bis zu der Haustür, die aussieht, als hätten Einbrecher ein leichtes Spiel mit ihr.
Eine Klingel suche ich vergeblich.
Bevor ich an der Tür klopfe, wende ich mich noch mal an Farley.
"Bereit?", frage ich sie melodramatisch, auch wenn es sich in diesem Moment der Situation angemessen anfühlt.
Schwach lächelt sie mich an.
"Immer doch", meint sie in gespielt heroischem Ton.
Wäre der Grund, warum wir hier sind, nicht der, der er eben ist, würde ich ihr Lächeln erwidern.
Macey's Tod. Mord.
Nachdem ich ungefähr fünf mal geklopft habe - und das nicht gerade leise - bin ich schon kurz davor, die Hoffnung aufzugeben.
Greg ist anscheindend nicht da, genauso wenig seine Großeltern, bei denen er jetzt lebt.
"Scheiße", murmele ich, denn ich hatte wirklich gehofft, dass dieser Tag endlich neue Erkenntnisse bringen würde.
Ich will mich gerade abwenden, als doch noch die Tür aufgeht.
Vor mir steht Greg, genauso, wie ich ihn in Erinnerung habe.
Was nicht gerade vorteilhaft für ihn ist.
Seine trüben, emotionslosen Augen blinzeln verwirrt hinter den Brillengläsern.
Er sieht noch exakt so heruntergekommen aus, wie damals, voller Müdigkeit und als hätte er seit einer Ewigkeit nicht mehr geduscht.
"Hey, Greg", begrüße ich ihn.
Ich erhalte nicht sofort eine Antwort, sondern er mustert mich nur. Wahrscheinlich überlegt er, ob er mich kennen sollte. Auch Farley wirft er einen nachdenklichen Blick zu.
"Hi ... Nate", antwortet er dann, ein wenig zögerlich, als wäre er sich nicht sicher, ob er mit dem Namen auch richtig liegt.
Fragend richten sich seine Augen auf Farley.
"Das ist Farley", stelle ich sie schnell vor.
"Hey", wendet auch sie sich an ihm.
Er nickt nur zur Begrüßung, und es ist klar, dass er sich fragt, was zum Teufel wir hier machen.
Deshalb ergreife ich wieder das Wort.
"Also, wir sind hier wegen Howard. Genauer gesagt, weil wir uns langsam Sorgen um ihn machen."
"... Sorgen? Weil er in seiner eigenen Welt lebt? Da hat er es besser, als manch anderer", entgegnet er träge.
Genau solche Aussagen meinte ich vorhin.
"Naja ... es ist komplizierter. Können wir reinkommen?"
Er murmelt irgendwas und macht eine einladende Geste - auch wenn sie leicht gezwungen wirkt.
Das Wohnzimmer, in das er uns führt, ist genauso wie der Rest des Hauses: Marode und schäbig, aber irgendwie trotzdem noch akzeptabel genug, um darin zu wohnen.
Er bedeutet uns, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzt sich uns gegenüber auf einen ledernen Sessel, der wahrscheinlich schon seit 50 Jahren unbewegt dort steht.
Fordernd sieht er mich an.
"Und...?"
"Ja, also, du weißt ja selbst am besten, welche abstrusen Dinge er sich teilweise zusammenreimt, und ich - wir - denken einfach, dass es dafür irgendeinen Auslöser gegeben haben muss."
Ich lege es darauf an, etwas über Howards Leben, Familie und Kindheit herauszufinden. Denn wenn es eine einleuchtende psychologische Erklärung für seine Verrücktheit gibt, lässt sich vielleicht herausfinden, ob er deshalb auch fähig wäre, einen Mord zu begehen.
"Warum muss es für alles einen Auslöser geben? Diese ständige Suche nach einem Sinn ist hoffnungslos. Die Welt ist ein verdorbener Ort. Das ist Grund genug, sich ihr entziehen zu wollen", entgegnet er mit einem abwesenden Blick.
Eigentlich ist Greg ziemlich arm dran.
Soweit ich weiß, ist seine Mutter tot und sein Vater ein arbeitsloser Alkoholiker. Nach dem "Vorfall" in der neunten Klasse wurde es ihm dann mit seinem psychisch nicht ganz stabilen Sohn wohl endgültig zu viel, weshalb dieser jetzt bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebt.
Was vielleicht auch besser für ihn ist, immerhin war der Typ unverantwortlich genug, dass mal eben fast das ganze Haus abgefackelt ist.
"Aber trotzdem kann man nicht leugnen, dass Howard immer mehr den Bezug zur Realität verliert. Es nimmt übertriebene Ausmaße an, findest du nicht?", meine ich beharrlich.
"Was genau ist denn anders? Es geht ihm doch gut, so wie es jetzt ist."
Ich denke, das ist der Hauptgrund, warum die beiden befreundet sind: Sie akzeptieren die Eigentümlichkeit des Anderen, ohne sie zu hinterfragen oder ändern zu wollen.
"Sicher? Er wirkt in letzter Zeit sehr gehetzt. Und seine Theorien werden immer seltsamer und unbegründeter."
Das ist nicht mal eine Lüge, sondern tatsächlich etwas, das ich bemerkt habe.
"Das fällt dir jetzt erst auf? Er ist doch damals sogar durchgefallen, weil er im Geschichtsunterricht ständig so Zeug behauptet hat, wie dass Hitler nach Argentinien geflohen wäre", wirft Greg ein.
Howard ist eigentlich ziemlich gut in der Schule - überdurchschnittlich - aber in allem, was in den Bereich Gesellschaftswissenschaften fällt, ist er ein hoffnungsloser Fall.
"Naja, immer noch realistischer als auf den Mond", murmelt Farley leise und eigentlich nicht dafür bestimmt, dass irgendwer sie versteht.
Aber es sorgt trotzdem dafür, dass Greg sie erstmals seit Beginn der Unterhaltung wieder bewusst wahrnimmt.
"Woher kennst du Howard überhaupt?", fragt er sie.
Sein Tonfall ist voller Desinteresse.
"Lange Geschichte", weicht sie aus, wohl um nicht zuzugeben, dass sie ihn erst vor 24 Stunden getroffen hat.
Er nimmt ihre Ausrede widerspruchslos hin.
"Na dann."
"Ich weiß, wie extrem Howard drauf ist, und deshalb denke ich, dass es eine Begründung für seine Realitätsflucht geben muss. Ich würde es einfach gerne wissen", melde ich mich wieder zu Wort.
Gelangweilt sieht Greg zurück zu mir, bevor sein Blick zur Decke wandert und er einen weit entfernten Punkt anstarrt.
"Auf einmal, mh? Du meinst solche simplen Begründungen, wie eine schwere Kindheit. Das ständige Verneinen komplexer Sachverhalte ist typisch für diese gebrochene Gesellschaft. Aber gut, wenn es dir hilft...", meint er müde.
Wahrscheinlich will er uns nur loswerden, damit er wieder pennen oder seinen Suizid planen kann - keine Ahnung, was er so in seiner Freizeit tut.
Der Arme. Ich würde ja versuchen ihm zu helfen, aber soweit ich weiß, ist er schon in psychiatrischer Behandlung.
Er spricht nicht sofort weiter, sondern ist für ein paar weitere Sekunden wie weggetreten, bevor er endlich sagt:
"... Howard ... Ja ... Genauso wie ich lebt er nicht mehr bei seinen Eltern, sondern bei seiner Tante und seinem Onkel. Nette Leute. Anders als sein Vater..."
Zum ersten Mal blitzt so etwas wie Regung in seinen Augen auf.
"...Ein widerlicher Kerl. Er war Mitglied in irgendwelchen radikalen Gruppen. Jetzt sitzt er wegen schwerer Körperverletzung im Knast. Howards Mutter gibt ihrem Sohn die Schuld daran und hat ihn praktisch vor die Tür gesetzt. Mit neun Jahren."
Das ist schrecklicher, als ich gedacht hatte. Howard kann einem wirklich leid tun. Und irgendwie erklärt es seinen Realitätsverlust. Auch wenn das Ganze schon verdammt traurig ist. Jemand hätte ihm damals helfen müssen, bevor er sich so abgekapselt hat.
Betretenes Schweigen herrscht im Raum.
Ich sehe zu Farley, aber sie lässt sich keine äußerliche Reaktion anmerken.
"Das wusste ich nicht. Gibt es eine Möglichkeit, ihm zu helfen?", erkundige ich mich.
Es geht mir zwar immer noch in erster Linie darum, die Ermittlungen voranzutreiben, aber ich habe gerade echt Mitleid mit Howard. Auch wenn diese Aussage wahrscheinlich ziemlich plump wirkt. So wie eigentlich alles, was ich hier rede.
"Er ist glücklich mit seiner Version der Wahrheit", erklärt Greg, "Nur weil man seine Einstellung nicht teilt, muss man diese nicht vernichten."
Sein Blick intensiviert sich.
"Du bist jemand, der die Wahrheit sucht, Nate, aber hier liegst du falsch. Howard hat deine Freundin nicht umgebracht. Deshalb seid ihr doch hier."
Gelangweilt nimmt er sich einen Keks aus der Schüssel, die auf dem Tisch steht.
Fuck. Eigentlich war es ja zu erwarten gewesen, dass er sich den wahren Grund zusammenreimen würde, trotzdem hatte ich gehofft ...
"Ich muss euch daher bitten, dieses Haus zu verlassen", weist er uns monoton an.
Anscheinend ist er ziemlich angepisst, dass wir seinen Freund verdächtigen, auch wenn er es sich abgesehen von seinen Worten kaum anmerken lässt.
Farley und ich folgen ihm ohne Proteste zurück zur Haustür. Er würde uns jetzt sowieso nichts weiteres erzählen. Aber ein paar neue Informationen haben wir ja.
Bevor er die Tür hinter uns zuknallt, meint er, zum ersten Mal mit etwas Emotion in seiner Stimme:
"Viel Erfolg noch bei eurer Suche."
Ich glaube, dass er seine Aussage ernst meint.
"Danke."
Er verschwindet im Haus, und Farley und ich gehen wortlos zurück zum Auto.
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