Kapitel 18: Nate

Howard als pinkhaarige Yandere?
"Ziemlich seltsame Vorstellung", antworte ich Farley genauso leise.
Er tippt immer noch wie besessen auf seinem Laptop rum, durchforstet wahrscheinlich irgendwelche der zahlreichen Verschwörungstheoretiker-Foren, denen er folgt.
"Es stimmt ... Es stimmt!", ruft er plötzlich.
Ein paar Schüler an den umstehenden Tischen werfen ihm Blicke zu, die eindeutig sagen, dass sie ihn für absolut wahnsinnig halten.
Howard fällt das aber gar nicht auf, er dreht nur unbeirrt seinen Laptop wieder zu Farley und mir um.
Zu sehen ist diesmal das Bild einer gefalteten Dollar-Note, auf der mit ein wenig Fantasie tatsächlich die Twin-Towers zu erkennen sind.
Nur dass kein vernünftiger Mensch mehr dort hineininterpretieren würde, als einen ironischen Zufall.
"Es stimmt wirklich! Auch wenn dieses Bild von einer gewöhnlichen Website stammt. Es könnte manipuliert sein. Von daher muss ich es selbst nachprüfen", verkündet er. "Hat jemand einen Dollar?"
Als weder Farley noch ich Anstalten machen, ihm Geld zu geben - ich bin sicher, dass ich es nie wieder sehen würde - steht er auf, und beginnt sich um die eigene Achse zu drehen, damit er die anderen Leute an den Tischen mustern kann.
"Es ist von oberster Wichtigkeit", murmelt er, bevor er grinsend zu mir sieht und in Farley's Richtung winkt.
"Es war eine grandiose Idee, sie hier her zu bringen."
"Gerne doch", antworte ich ihm nur.
Er nickt glücklich und verstaut den Laptop in seinem extrem großen Rucksack. Er schleppt immer ziemlich viel Zeug mit sich rum - größtenteils irgendwelche Ordner und Notizbücher zu diversen Theorien.

"Ich werde es euch berichten, wenn ich etwas wichtiges erfahren habe. Denn ihr verdient es, als erste gewarnt zu werden", verspricht er Farley und mir feierlich, während er mit beiden Händen die Metal-Geste macht - was auch sonst.
Er wird mich also wirklich in nächster Zeit ständig mit seinen "neuen Erkenntnissen" nerven.
Was natürlich Farley's Schuld ist.
Nun wendet sich Howard zu einem der nahestehenden Tische um, und fragt den Jungen, der dort über seinen Hausaufgaben sitzt: "Hast du einen Dollar? Es ist wichtig für die nationale Sicherheit!"
Der Junge versucht nach anfänglicher Verwirrung, ihn abzuwimmeln, indem er ihm erklärt, dass er gerade kein Geld da habe.
Daraufhin rennt Howard zum nächsten Tisch, und die Sache wiederholt sich.
Ich schaue ihm kopfschüttelnd nach, bis er hinter der Regalreihe mit Büchern zur Amerikanischen Geschichte verschwunden ist.
Ihm ist echt nicht mehr zu helfen.
Erwartungsvoll blicke ich zu Farley, irgendwie davon ausgehend, dass sie einen Haufen Fragen zu ihm haben muss, zum Beispiel, warum er als Abschied diese Geste macht.
Aber alles, was ich aus Farley's verblüfftem Gesicht lesen kann, ist, dass ihre Gedanken gerade mehr oder weniger nur "What the Fuck" lauten.

"Und?", frage ich sie schließlich.
"Wie hat er es geschafft, nicht in die geschlossene Anstalt zu wandern?"
"Gute Frage. Aber ich persönlich finde ja, dass er verrückt und ein wenig gruselig, aber relativ harmlos ist. Wie würdest du ihn einschätzen? Denkst du, er wäre zu einem Mord fähig?"
Ich bin gespannt, wie ihre Antwort lauten wird, denn das ist schließlich einer der Hauptgründe, warum ich einer Zusammenarbeit überhaupt zugestimmt habe.
Die negativen Effekte dieser Situation haben sich heute in der Pause bereits gezeigt. Ich wusste ja irgendwie, dass ich nicht über Macey und ihren Tod reden kann.
Schnell konzentriere ich mich darauf, die erneuten Gedanken daran abzublocken.
Ich muss mich auf das fokussieren, was jetzt ist. Farley's Antwort. Howard. Die Ermittlungen.

"Mit den richtigen Motiven definitiv. Hast du eine Idee, welche das sein können?", entgegnet sie nachdenklich.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihr dieses Detail ja noch gar nicht erzählt habe. Ich bin wegen meinem überstürzten Abgang nicht mehr dazu gekommen. Das Gefühl, es keine weitere Sekunde länger aushalten zu können, hatte mich einfach überwältigt.
Auch wenn ich es hasse, vor ihr Schwäche gezeigt zu haben. Das darf mir nicht nochmal passieren.
Ich muss mich also zusammenreißen, obwohl ich mich immer noch so fühle, als könnte ich jeden Moment in einen Haufen Scherben zersplittern. Scherben, die nur provisorisch wieder zusammengeklebt worden waren.
Ich vergrabe meine Hände noch tiefer in den Manteltaschen.

"Ja, da gibt es schon eines. Also, du musst wissen, dass Howard richtig gut Gitarre spielen kann - Also richtig gut. Schade, dass er so verrückt ist, ansonsten hätte unsere Band vielleicht gut funktioniert...", erzähle ich, breche aber ab, weil mir auffällt, dass ich dezent vom Thema abkomme. Ich muss Macey's Mörder finden, das ist der einzige Grund, warum ich überhaupt dieses Gespräch mit Farley führe.
"Du hattest eine Band?!"
Erstaunt und leicht amüsiert starrt sie mich an.
"Ja. Warum schockt dich das so?", frage ich sie leicht gereizt, weil ich das Gefühl habe, dass sie sich gedanklich darüber lustig macht. Ich bereue es, dieses Thema angeschnitten zu haben.
"Ich wusste ja nichtmal, dass du ein Instrument spielst", wirft sie ein.
Mh, da hat sie recht.
"Woher auch. Aber ja, ich spiele Bass."
"Ah. Wie ist es gelaufen und was für Stücke habt ihr gespielt?"
In ihrer Stimme höre ich ehrliches Interesse.
Naja, was soll's, dann erzähle ich ihr halt ein bisschen davon. Auch wenn es sie streng genommen nichts angeht. Aber ich habe ihr letzte Woche ja schon diverses anderes Zeug von mir erzählt, da macht das jetzt auch keinen Unterschied mehr. Und es hat mit Howard zu tun.

"Wir haben größtenteils Cover gespielt. Bekannte Songs von Nirvana, Marilyn Manson, Linkin Park und natürlich David Bowie. Zwischendurch auch mal was von Green Day, oder so. Wie es gelaufen ist? Schlecht. Howard hat in dem Laden, wo wir unser erstes und einziges Konzert hatten, Hausverbot gekriegt, weil er auf einmal das Mikro genommen und angefangen hat, den Leuten laut schreiend irgendwas über seine Verschwörungstheorien zu erzählen. Danach war die Band Geschichte."
Farley sieht mich einen Moment lang schweigend an. Dann sagt sie, die Geschichte bezüglich Howard bereits als für seine Verhältnisse normal hinnehmend:
"Ich weiß, das klingt etwas seltsam. Aber könntest du mir vielleicht bei Gelegenheit mal etwas vorspielen?"
Überrascht ziehe ich die Augenbrauen nach oben.
Ich hätte mit jeder anderen Antwort eher gerechnet, als mit dieser.
Denn sie wirkt wirklich irgendwie interessiert.
Aber ich habe bereits einmal den Fehler gemacht, ihr zu schnell zu vertrauen, als sie derartig nett war.
Dennoch: Was wäre schon dabei? Und selbst wenn ich ihr jetzt zusage heißt das nicht, dass es je dazu kommen wird.
"Klar, wieso nicht."
"Cool. Mal schauen wann wir dazu Zeit haben werden", meint sie.
"Ja. Jetzt sollten wir uns aber wieder dem eigentlichen Thema widmen. Also, wie gesagt, Howard spielt extrem gut Gitarre. Er war praktisch der Star der Musik-AG, so dumm das auch klingen mag. Aber als dann Macey beigetreten ist, ein Jahr nach ihm, wurde ihr und wie sie Geige spielt, viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als ihm. Und wie du vielleicht gemerkt hast, hat er Aufmerksamkeit nunmal extrem gern. Ich weiß, das klingt wie aus so einer schlechten Soap, aber..."
Ich beendet diesen Satz nicht, weil mir eigentlich klar ist, dass es kein "Aber" gibt. Es macht wenig Sinn, dass Howard es gewesen wäre. Nichts macht Sinn.

"Wie bitte hat er es geschafft, irgendwo der Star zu sein und nicht als psychatriereif abgestempelt zu werden?", erkundigt sie sich nur.
Ich zucke mit den Schultern.
"Naja, er ist halt wirklich talentiert, und ich schätze, wenn er will, kann er sich auch einigermaßen anpassen. Aber wenn man einmal den Fehler macht, seinen Verschwörungen zuzuhören, oder sie gar zu erweitern, wird man ihn nicht mehr los. Diesen Fehler habe ich damals gemacht, und du gerade auch. Beziehungsweise, du hast nur bestärkt, dass er mich noch mehr nerven wird. Danke."
Die Ironie in meiner Stimme ist unüberhörbar.
"Dafür hat es uns im Großen und Ganzen einen entscheidenden Vorteil verschaffen: Er scheint mich zu mögen. Was wiederum bedeutet, dass er mir leichter vertraut."
Sie macht eine kurze Pause und fährt dann mit leicht spaßhaftem Unterton fort:
"Weißt du, genau deswegen bin ich da. Um dir die verschiedenen Ansichten auf eine Sache zu präsentieren."

Für sie ist das ja anscheinend nur ein Spiel.
Trotzdem hat sie recht mit ihrer Aussage. Es ist das wichtigste, verdammt noch mal den Täter zu finden. Ob Howard mich noch mehr nervt, ist doch eine Kleinigkeit.
Macey muss in irgendeiner Form Gerechtigkeit wieder fahren. Ich will, dass der Mörder zumindest lebenslang eingebuchtet wird. Auch wenn mir natürlich die Todesstrafe noch lieber wäre. Er oder sie verdient auf jeden Fall alles mögliche Elend dieser Scheiß-Welt.
"Stimmt, deshalb bist du hier."
Und aus purem Egoismus, weil du deinen Status wieder reinwaschen willst.
"Aber denkst du wirklich, dass jemand, der so verwirrt ist, dass er nicht mal sein eigenes Hemd richtig knöpfen kann, so eine Tat detailgenau durchplanen kann? Er muss ja irgendwie die Spuren beseitigt und überzeugend die Polizei belogen haben ... Das kann ich mit einfach nicht vorstellen. Er wäre eher die Art von Täter, die man noch mit der Waffe in der Hand am Tatort auffindet...", überlege ich laut.

"Warum hast du Howard dann überhaupt als Verdächtigen vorgeschlagen? Ich finde, dass er definitiv das Potenzial dazu hätte. Bevor wir fortfahren, solltest du dich entscheiden, was du wirklich von den Personen denkst. Du kannst nicht rumrennen und unschuldige Leute als morallose Killer bezeichnen."
Wütend funkle ich sie an.
"Ist ja schön, dass du dir das alles so einfach vorstellst. Für jeden Verdacht hatte ich bisher gute Gründe, ganz besonders für dich. Und das gleiche gilt für Howard. Er hat öfters mal seltsame Dinge zu Macey gesagt, die darauf schließen ließen, dass er ihr gegenüber sehr negativ eingestellt war. Dennoch fällt es mir schwer, ihm das zuzutrauen. Ob es jetzt daran liegt, dass er zu mir eigentlich immer recht menschlich ist, oder daran, dass ich nicht einfach davon ausgehe, dass jeder Verrückte gleich ein Mörder sein könnte - wie du es anscheinend tust - ist irrelevant. Also halte mir keine Moralpredigten."
In einer abwehrenden und beruhigenden Geste hebt sie die Hände.
"Hey, kein Grund wütend zu werden. Sorry, wenn ich nicht gerade nette Formulierungen benutzt habe. Ich wollte dir bloß ein paar Denkanstöße geben", verteidigt sie sich.
Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. Was ist heute bloß los? Normalerweise schaffe ich es doch auch, meine Emotionen im Griff zu behalten, oder sie mir zumindest nicht anmerken zu lassen.
"Was soll's. Ich würde vorschlagen, dass wir uns wirklich weiter auf Howard konzentrieren. Er ist von allen immer noch am verdächtigsten. Wir sollten Informationen über ihn sammeln, denn zum Beispiel über seine Familie weiß ich rein gar nichts. Er weicht immer aus, wenn man ihn danach fragt."
"Ok, du bist ja quasi der Boss hier. Also sag mir, was ich machen soll."
Zwinkernd fügt sie an: "Aber bitte kein Bondage, das kann ich nicht ausstehen."
Mh, ich werde diesen Witz jetzt einfach mal nicht hinterfragen.
"Alles, worum ich dich bitten würde, ist ein Auge auf Howard zu haben und gelegentlich mit ihm zu reden. Vielleicht kannst du ihm ja irgendwas bezüglich Macey entlocken, das er mir nicht erzählen würde. Ach ja, und eines noch: Ich hatte mir überlegt, seinen besten Freund aufzusuchen, damit der uns mehr über ihn erzählen kann."

"Der hat Freunde außer dir?", fragt sie ungläubig.
"Ja, stell dir vor. Sein bester Freund ist Greg Pedersen. Du kennst ihn wahrscheinlich als den Typen, der als Freshman diesen, naja, psychischen Zusammenbruch hatte und danach die Schule gewechselt hat."
"Hat der nicht sein Haus angezündet?"
War klar, dass auch sie das glaubt.
"Nein, das war ein Unfall. Und er war nicht mal zuhause, als es passiert ist. Du solltest doch inzwischen wissen, dass Gerüchten nicht zu trauen ist", meine ich mit lehrendem Unterton.
"Stimmt. Entschuldigung, ich hätte sowas nicht so leichtfertig sagen sollen", gibt sie zu.
"Du musst dich nicht entschuldigen."
Ich hatte meine Aussage eigentlich nicht absolut ernst gemeint. Sie kann von mir aus denken, was sie will.
"Der Punkt ist, dass sie beide auf ihre eigene Art und Weise einen an der Waffel haben, was wohl der Grund ist, warum sie so gut miteinander auskommen. Wenn uns einer wichtige Informationen zu Howard geben kann, dann ist es Greg. Leider weiß ich nicht, wo er jetzt wohnt. Ich muss mich erst mal bei Howard erkundigen, aber sobald ich es weiß, sollten wir ihm definitiv einen Besuch abstatten."
"Ja. Können wir machen, wenn du findest, dass uns das weiterhilft", stimmt sie nachdenklich zu.
"Das wird es."
Ich versuche, soviel Überzeugung wie möglich in meine Stimme zu legen. Ob sich das an Farley oder an mich selbst richtet, weiß ich nicht genau.
Sie nickt bloß, und damit ist die Sache vorerst erledigt.

Wir stehen beide auf, und machen uns schweigend auf den Weg zum Ausgang der Bibliothek, denn die Mittagspause endet in ein paar Minuten.
Da meint Farley auf einmal:
"Übrigens. Was mich wirklich interessiert, ist, was du Howard damals erzählt hast, dass er so überzeugt von dir ist?"
Ich antworte nicht sofort, sondern gehe nur zielstrebig weiter, denn eigentlich ist die Antwort darauf ziemlich, naja, seltsam?
Da Farley mich aber immer noch erwartungsvoll anschaut, beginne ich schließlich doch, zu erzählen.
"Naja, er hat irgendwann von Verschwörungstheorien bezüglich 9/11 angefangen, und da ich damals noch nicht wirklich wusste, wie weit sein Realitätsverlust reicht, habe ich scherzhaft gesagt, dass es ja einen Zusammenhang zwischen dem Amoklauf von Columbine und dem Elften September geben könnte. Denn einer der Amokläufer hat in sein Tagebuch geschrieben, dass er eventuell ein Flugzeug entführen will, um es in New York City abstürzen zu lassen. Und man bedenke, das war 1999. Natürlich habe ich das nicht sonderlich ernst gemeint, aber Howard hat es echt geglaubt. Seitdem versucht er herauszufinden, was es da für eine Verbindung gab, und sieht mich als eine der Personen, die 'nicht manipuliert wurden'."

"Ach ja. Und woher weißt du das alles? Sollte ich mir Sorgen um deine Psyche und mein Leben machen?"
"Mh, nein, ich würde dir Bescheid sagen, wenn du mal an einem Tag nicht zur Schule kommen solltest", meine ich scherzhaft, bereue diese Aussage aber sofort. Denn eigentlich gehören auch die geschmacklosen Amokläufer-Witze der Vergangenheit an. Sie haben ihren Wert verloren, jetzt wo Macey nicht mehr hier ist.
Außerdem sieht Farley mich ziemlich kritisch an, so als würde sie überlegen, ob das gerade echt lustig gewesen sein sollte.
Schade irgendwie. Sie meinte doch auf der Party, dass sie einen schwarzen Humor hätte, oder nicht?
"War nur Spaß", füge ich hastig an, "Ich weiß bloß soviel darüber, weil mich die Hintergründe interessieren. Also die Psychologie der Täter und so. Aber das hat nichts mit Faszination oder gar Bewunderung zu tun. Im Gegenteil - Ich finde solche Taten absolut verachtenswert. Denn ich habe durchaus die moralische Überzeugung, dass Menschen zu töten keine Lösung ist."
Damit beziehe ich mich nicht nur auf diesen Bastard, der Macey das angetan hat, sondern gleichermaßen auf Farley's Aussagen in der Ethikstunde vor einer Woche.
Ich nehme es ihr immer noch übel. Sie hat sich nicht mal entschuldigt oder in irgendeiner Weise Einsicht gezeigt.

"Das ist ja schön, dass du zumindest jemand bist, der sich an die Basis-Regeln unserer Gesellschaft hält", antwortet sie mit einem seltsamen Lächeln, das eher dafür spricht, dass sie mich für dezent verrückt hält.
"Mhm, und ich weiß ja inzwischen selbst, wie es ist, wenn jemand, der einem wichtig ist, einfach so umgebracht wird", meine ich bitter.
Sie antwortet nicht darauf, sondern es herrscht nur betretenes Schweigen zwischen uns. Um diesen unangenehmen Moment möglichst schnell zu beenden, räuspere ich mich und fahre dann sachlicher fort:
"Also, ich werde dann mal auf jeden Fall Greg's Adresse besorgen. Mit etwas Glück schaffe ich es heute noch, von daher könnten wir das Treffen mit ihm gleich morgen erledigen. Ach ja, es wäre praktisch, wenn du mir noch deine Nummer geben könntest, damit ich dir Bescheid sagen kann, wo wir uns treffen."
"Ja, klar. Moment", sagt sie, und kramt in ihrer Tasche, bis sie ihr Handy hervorgeholt hat. Sie reicht es mir, damit ich ihre Nummer in meinem einspeichern kann.
"Ich schreib dir dann, sobald ich es weiß", verspreche ich ihr, während ich ihr das Handy zurück reiche.
"Super. Auf dass wir irgendwie weiterkommen."
Ja, das hoffe ich. Und wie.
"Wird schon", meine ich viel optimistischer, als ich mich fühle.
"Ok. Ich rechne mit deiner Nachricht. Tschau."
"Bis dann."
Da läutet auch schon die Schulglocke, und wir machen uns in entgegengesetzte Richtungen auf.

Halleluja, endlich ist die gefühlt endlose Kunststunde und allgemein der Unterricht für diese Woche vorbei.
Jake ist im gleichen Kurs und hat mich die ganze Zeit über die Gerüchte bezüglich Farley und mir ausgequetscht. Ich hasse es, dass ich das Gefühl hatte, mich rechtfertigen zu müssen, zumal es ihn auch einfach nichts angeht, warum Farley bei mir übernachtet hat, und warum ich sie nicht verdächtige, obwohl das so viel Sinn machen würde. Das hat mich echt genervt. Aber ich habe mich bemüht, möglichst freundlich zu bleiben und meine Rolle zu spielen, wozu ich unbedingt wieder zurückkehren muss. Es beunruhigt mich immer mehr, dass diese Methode bei Farley von Anfang an kaum funktioniert hat. Ich darf nie vergessen, dass sie immer die Person sein wird, die so sehr von Macey gehasst wurde. Und eigentlich auch von mir. Außerdem kann ich ihr nicht mit allerletzter Gewissheit vertrauen. Vielleicht hilft sie mir ja auch nur, um den Verdacht von sich abzulenken, wer weiß. Mache ich gravierende Fehler?
Vielleicht war es doch ganz gut, dass Jake mich zugeredet hat. So hatte ich zumindest keine Zeit, nachzudenken.
Jetzt kann mich nichts mehr davor schützen.

Etwas ratlos bleibe ich an meinem Spind stehen. Eigentlich sollte ich Howard suchen, um mit ihm über Greg zu reden. Andererseits muss ich dann länger auf den nächsten Bus warten. Außerdem fühle ich mich nach dem heutigen Tag einfach nur erschöpft und will so schnell wie möglich in mein Bett fallen, um meine Gedanken und Erinnerungen in Musik zu begraben.
Ich weiß nicht mal, wo genau Howard jetzt rumhängt. Wahrscheinlich bei der Musik-AG, aber in Anbetracht der Gerüchte und wie Macey's Freundinnen darauf reagiert haben, wäre es eigentlich Selbstmord, dort aufzukreuzen. In meinem Kopf erscheint das Bild eines wütenden Mobs, der mit Musikinstrumenten auf mich losgeht. Keine gute Idee.
Ich kann ihn auch anrufen, das erscheint mir die angenehmere Variante.
Nachdenklich mache ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Zuhause angekommen drehe ich erstmal Musik auf, volle Lautstärke, so dass sie durch das ganze Haus schallt. Scheiß auf die Nachbarn. Ich muss es nutzen, wenn mal niemand außer mir hier ist - meine Mum ist noch bei der Arbeit und Jules beim Hockey-Training in der Schule.
Aber ich hätte die Playlist nicht auf Shuffle stellen sollen.
Denn was auf einmal läuft, ist "No Plan" von David Bowie.
Und dieses Lied trifft mich exakt in die Gefühle, die ich eigentlich hatte betäuben wollen.
Ich wollte gerade irgendein sorglos auf den Boden geworfenes Schulbuch aufheben, halte jetzt aber mitten in der Bewegung inne.
Alles, was ich die letzten Wochen versucht hatte aufzubauen, um meine Gedanken vollkommen auf die Ermittlungen fokussieren zu können und alles andere auszusperren, ein purer Schutzmechanismus - bricht nun innerhalb von ein paar Sekunden vollends in sich zusammen.
Heute in der Pause, nach dem Gespräch mit Farley, hatte ich mich wieder einigermaßen zusammenreißen können.
Aber jetzt ... Jetzt sacke ich einfach nur kraftlos auf den Boden in meinem Zimmer, die viel zu laute Musik dröhnt in meinen Ohren und zeigt mir all die Dinge auf, vor denen ich versucht hatte, mich zu verstecken.
Denn die Wahrheit ist nunmal, dass ich keinen Plan habe.
Weder davon, wer der Täter ist, noch allgemein.
"All of the things that are my life
My desires
My beliefs
My moods
Here is my place without a plan"

Vielleicht wollte ich mir einreden, dass ich nur den Mörder finden muss, damit alles wieder gut wird.
Dass meine Trauer dann leichter zu ertragen wäre. Dass ich es leichter akzeptieren könnte, dass der Mensch, der mir am wichtigsten war, plötzlich tot ist und in einem verrottenden Sarg liegt und von Würmern zerfressen wird.
Dass es Macey nicht mehr gibt, und es eigentlich niemanden wirklich interessiert.
In einem plötzlichen, wütenden Impuls schleudere ich dieses verdammte Buch von mir weg.
All diese beschissenen Lügner, die ihr Beileid ausgesprochen haben und wollen, dass man den Täter möglichst fasst, tun das doch nur, damit sie nachts ruhig schlafen können. In Wahrheit sind sie doch froh, dass es nicht sie oder jemanden, der ihnen wirklich wichtig war, getroffen hat. Sie wollen nur ihr scheiß-kleinbürgerliches Leben weiterführen.
Dabei ist Macey diejenige, die nie ein wirkliches Leben haben wird. Sie wird nie ihren High School Abschluss haben, oder auf's College gehen, heiraten, sich als alte Frau über die Jugend von heute beklagen. Sie war nie in Europa. Wir hatten vorgehabt, irgendwann mal zusammen nach London zu reisen. Allgemein hat sie doch kaum was von der Welt gesehen, außer dieser unwichtigen Scheiß-Stadt in fucking Colorado, umgeben von nichts als einer Menge Berge. Sie wird nie wieder Violine spielen. Nie wieder ... Was bringt es schon, wenn ich irgendwelche Aufzählung mache. Sie wird nie wieder irgendetwas tun.
Ich glaube nicht, dass es nach dem Tod noch irgendeine Art von Jenseits gibt. Aber ich verstehe immer mehr, wie Jahrtausende des seelischen Schmerzes die Menschen dazu gebracht haben, das glauben zu wollen. Denn was für einen verfickten Sinn soll das alles haben? Macey's Tod hat mir nur gezeigt, dass es niemanden interessiert. Existenz hat keinen Sinn. Sonst könnte nicht einfach irgendein Mörder auftauchen und alles beenden. Alles. Macey. Sie hat es nicht verdient, nein, sie hätte es verdient gehabt zu leben.
Ich wünschte ... Ich wünschte ... ich könnte etwas ändern. Die Erkenntnis, dass ich einfach nicht genug getan habe, erschlägt mich erneut mit der Wucht von realem, physischem Schmerz. Es ist kaum auszuhalten. Das ist exakt der Gedankengang, den ich versucht habe, zu verdrängen. Aber er war eigentlich immer da. Und wird dies immer sein.
Ich will nur die Zeit zurückdrehen und irgendetwas ändern. Irgendwas. Ich würde sie an diesem Tag davon abhalten, das Haus zu verlassen, zu diesem Flussufer zu gehen, sich mit Wem-auch-immer zu treffen. Ich würde genauer analysieren, wer die Absicht haben könnte, ihr etwas anzutun. Ich würde mir irgendwie eine Waffe besorgen und dem Täter auflauern. Ich würde dafür sorgen, dass er mich erwischt, anstatt Macey. Würde ich das? Scheiße. Scheiße. Wenn sie nicht lebt, warum habe dann ich, oder irgendwer anders, das Recht dazu. Wie konnte jemand sich anmaßen, ausgerechnet ihr das anzutun?! Wie konnte ... Wie konnte ... Warum ... ?
"This is no place, but here I am
This is not quite yet"

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