Kapitel 17: Farley
Hätte mir jemand vor einer Woche erzählt, dass ich mal in der Pause auf Nathaniel warten würde, hätte ich mich ernsthaft gefragt, ob diese Person sich vielleicht mal nach möglichen Hirnschäden untersuchen lassen sollte.
Aber ich stehe jetzt tatsächlich hier und frage mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, als ich so freundlich war, um mich ihm anschließen zu können. Ich und so ein Grufti, das passt rein gar nicht zusammen.
Ich bin extra so früh wie möglich rausgegangen, um meine übliche Zigarette geraucht zu haben, bevor er kommt. Der Kommentar, dass ich abhängig wäre, hat mich echt gestört. Ich bin doch kein Suchti! Deswegen will ich definitiv vermeiden, dass er mich jemals wieder rauchen sieht. Eigentlich seltsam, denn eigentlich sollte es mir doch egal sein, was er von mir denkt.
Gerade als ich die Zigarette austrete, kommt Nate um die Ecke.
"Hey", begrüßt er mich und hält kurz an, bevor er weiterspricht: "Schon fertig mit dem Rauchen? War das dein Masterplan, um mir zu zeigen, dass du nicht abhängig bist? Tut mir leid, aber der Geruch hat dich verraten."
Scheiße. Warum kann er mich immer so gut durchschauen. Das ist doch nicht mehr normal.
"Hi. Um gleich zum Thema zu kommen: Wie sieht der der Sachverhalt aus?", frage ich ihn direkt. Ich überspringe lieber seine Anmerkung bezüglich meinen Zigaretten. Das ist besser, denn ich will mich wirklich nicht mit ihm streiten.
"Mh, ja ... der Sachverhalt. Also, nachdem sich meine wahrscheinlichste Vermutung - dass du es warst - als falsch herausgestellt hat, habe ich eigentlich im Großen und Ganzen vier Verdächtige", erklärt er mir.
"Danke, dass wenigstens du merkst, dass ich niemals so eine grauenhafte Tat begehen würde", lächle ich ihn schief an.
"Also, kenne ich die infrage kommenden Personen?"
"Keine Ahnung ... Vielleicht. Also eine kennst du schon mal sicher, eben diese Cheerleaderin, die du gestern erwähnt hast. Dann gibt es noch zwei Leute aus der Musik-AG: Scott Tremblay und Howard Cort. Und außerdem habe ich noch die Vermutung, dass es die Person gewesen sein könnte, die das Gerücht, dass du es gewesen wärst, in Umlauf gebracht hat. Um sich selbst vor Anschuldigungen zu schützen."
Nachdenklich runzele ich die Stirn.
"Wie kommst du darauf, dass die Person, die das über mich behauptet hat, in Wahrheit Macey's Mörder ist?" Offengestanden fühle ich mich ziemlich unwohl, den Begriff 'Macey's Mörder' vor Nate in den Mund zu nehmen, aber leider fällt mir auf die Stelle keine schonendere Beschreibung ein. Anscheinend hätte ich es doch umschreiben sollen, weil Nate bei dem Wort 'Mörder' leicht zusammenzuckt. Zum Glück fängt er sich wieder schnell.
"Naja, sieh es mal so: Die Polizei unternimmt zur Zeit anscheinend kaum etwas und deswegen ist es für den ... Mörder eine viel akutere Gefahr, dass irgendwelche Leute privat Vermutungen anstellen. Also vor allem Leute an der Schule, Bekannte von Macey. Und das kann durch das Gerücht in Schacht gehalten werden. Niemand stellt weitere Nachforschungen an. Einfach, weil die Lösung, dass du es gewesen wärst, perfekt passt", erklärt er mir.
"Mh, ok. Also das würde Sinn machen, wäre ich mir nicht sicher, dass die Gerüchte von Grace verbreitet wurden, einfach damit sie sich aufgeilen kann, oder so. Aber sie wäre niemals zu so einer Gewalttat fähig, allein schon weil sie viel zu minderbemittelt ist, um wenn sie es gewesen wäre, noch auf freiem Fuß zu sein. Und die anderen? Wer ist dieser Howard? Und wer ist dieser Scott?"
Er schaut mich kurz schweigend an. Vielleicht denkt er über die Plausibilität meiner Aussage bezüglich Grace nach.
"Bist du dir wirklich sicher, dass Grace daran Schuld hat? Vielleicht solltest du nochmal mit ihr reden, nur um sicherzugehen. Ich will diese Möglichkeit definitiv ausschließen können."
"Ja, bin ich. Da merkt man, dass du gar nicht geläufig mit den Umgangsformen der 'beliebten' Leute bist. Ich kann mich aber zur Sicherheit nochmal erkundigen", beruhige ich ihn. Vermutlich werde ich niemanden dembezüglich fragen, weil ich mir eh schon zu neunundneuzig Prozent sicher bin und mir ungern auch noch extra Arbeit machen will. Aber was soll's, eigentlich ist die Aussicht, den Mörder zu finden eh so gering, dass es keinen Unterschied machen würde, ob ich mich erkundige oder nicht.
"Ich hoffe mal, dass du das tust. Denn - nur um dich zu erinnern - diese ganze Sache von wegen Zusammenarbeiten war deine Idee. Ich bin nicht darauf angewiesen, aber solange das nunmal die Situation ist, kannst du dich zumindest nützlich machen", meint er mit misstrauischem Blick mir gegenüber.
Langsam frage ich mich echt, ob der Kerl Gedanken lesen kann. Und dass er so darauf beharrt. Merkt er nicht, dass wenn ich seinen Wunsch erfüllen würde, es quasi so wäre, als würde man in meine frischen Wunden Salz streuen? Ich will nicht den Beweis haben, dass Grace, ein unwichtiger Seitencharakter in meinem Leben, mich so verarscht hat.
"Klar mache ich das. Also weiter, wer sind Howard und Scott nochmal?", verspreche ich ihm dieses Mal mit meiner größtmöglichen Überzeugung in der Stimme.
Er nickt mir zu, als ob er sich vorerst mit meiner Antwort zufrieden geben würde.
"Ja, also Howard und Scott ... Letzterer ist ein sehr höflicher und freundlicher Typ, eher unauffällig, aber trotzdem ziemlich beliebt bei den Leuten aus der AG. Musikalisch gesehen ist er allerdings so eine Niete, dass man ihm die Triangel zugewiesen hat, obwohl er ja eigentlich Posaune spielt...", erzählt mir Nate zögerlich.
"Moment, was!", unterbreche ich ihn lachend, "Der spielt im Moment eine Triangel. Eine Triangel. Eine fucking Triangel. Oh man, der Arme. Wie es wohl sich anfühlen muss, auf die Triangel runtergesetzt zu werden. Eine Triangel. Eine Triangel im Schulorchester!"
Ich lache immer noch schallend. Niemand soll mir damit kommen, dass mein Status am Arsch ist. Dieser Typ ist ja noch schlimmer dran als ich. Vielleicht lache ich deswegen so unverschämt, aber es tut gut zu wissen, dass manche Menschen schlimmer als ich im Leben verkacken.
Langsam nickt Nate mit einem seltsamen Blick auf seinem Gesicht. Ich denke schon, dass ich mir es mit ihm verscherzt habe, als ich sehe wie seine Mundwinkel nach oben zucken.
"Ja, genau, eine Triangel. Und ich glaube nicht, dass das seinem Ego gut getan hat", stimmt er mir indirekt zu.
"Ok. Und seine Motive? Warum sollte ein, wie du es beschreibst, so netter Mensch einer deiner Verdächtigen sein?", frage ich ihn weiter, um mir die Sachlage klarer erläutern zu lassen.
"Er stand anscheinend auf Macey und hat sie öfters um Dates gefragt, die sie aber immer abgelehnt hat. Keine Ahnung, ich schätze, er hat einfach sowas an sich, dass er bei Mädchen sofort in der Friendzone landet. Das meinte Macey zumindest mal. Und als sie dann mit Bradley zusammen war ... Ich weiß nicht genau, weil ich selbst nicht dabei war, aber einige Leute aus der AG haben erzählt, dass er das nicht sonderlich gut aufgenommen hat. Sein Motiv wäre also Rache", bekomme ich erklärt.
"Mh. Rache also", denke ich laut nach.
Ob Nate wohl klar ist, dass man nicht nur wegen der Liebe tötet? Erst sagt er, ich hätte sie aus Liebe zu Bradley ermordet und jetzt meint er, ein Typ mit 'ner Triangel hätte sie ermordet, weil er von ihr gefriendzoned wurde. Interessant.
"Und dieser Howard?", löchere ich ihn mit noch mehr Fragen.
"Tja, er ist einfach verrückt, anders kann man es nicht sagen."
"Verrückt? In welchem Sinne verrückt? Ist er einfach wie du, oder ist er psychatriereif?"
Oh man. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich wollte doch nett zu ihm sein, um meine Ziele zu verfolgen. Schnell lächle ich, damit es rüberkommt, als ob ich es als Witz gemeint hätte, dass er einen an der Klatsche hat.
"Sagt ja die richtige. Wer war es nochmal, der mir aus Spaß ein Messer an die Kehle gehalten hat?"
Ich verdrehe demonstativ die Augen.
"Aber um auf Howard zurückzukommen: Tendenziell psychatriereif. Er ist Verschwörungtheoretiker. Er glaubt, dass die Illuminaten die Menschheit kontrollieren und wir alle von den Medien manipuliert werden. Dass die Regierung uns belügt und 9/11 verursacht hat. So Zeug. Davon ist er wirklich überzeugt", fährt er fort.
Was haben wir bloß für seltsame Leute an der Schule. Ein Typ, der Triangel im Orchester spielt. Ein Typ, der angeblich tatsächlich an Verschwörungstheorien glaubt. Ein Typ, der denkt, er könne einen Mord aufklären, aber als einzige Verdächtige Leute aus der Schule hat.
"Warum denkst du, dass es Leute aus der Schule waren? Es könnte auch jemand komplett anderes gewesen sein. Es könnte auch geschehen sein, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war. Oder sie hatte irgendwelche Probleme mit Leuten außerhalb der Schule."
Er schaut mich stumm an, als ob er kurz nachdenken würde, bevor er anfängt, seinen Gedankengang zu erklären:
"Nicht dass ich wüsste. Davon hätte sie mir erzählt. Und mit so vielen Leuten außerhalb der Schule hatte sie nicht zu tun. Hier ist das Orchester, ihre Freunde und eigentlich alle anderen, die sie näher kannten. Von ihrer Familie her ... Nein, ihre Eltern sind am Boden zerstört und ihre restliche Verwandschaft lebt in anderen Bundesstaaten. Und sie war sicher nicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort ... Wieso sollte sie sich alleine an irgendeinem verlassenen Flussufer rumtreiben? Sie hat sich sicher dort mit jemandem getroffen ... Jemandem, den sie kannte ... der sie dann einfach ..."
Abrupt bricht er ab, während er verzweifelt zu Boden schaut.
Sein mit Trauer gefüllter Blick geht direkt durch die Barrikaden, welche aus meinem aufgebauten überlegenen Status und meiner Missbilligung gegenüber Macey bestehen, in mein Herz. Die Empathie nimmt in mir Überhand und ich verzweifle, weil ich ihm eigentlich nicht helfen kann, weil ich weiß, dass er den Mörder nie finden kann, weil ich im Gegensatz zu ihm weiß, dass das hier alles nur Show und Detektivspielerei zweier Teenager ist. Ich möchte ihn am liebsten umarmen, als er sich jetzt die Haare rauft, um ihm ein bisschen von seinem Leiden abzunehmen, allerdings denke ich nicht, dass es ihm gut tun würde.
Er blickt kurz nach oben, wahrscheinlich um sich zu fassen, bevor er weiterspricht: "Und weißt du, warum ich außerdem glaube, dass es jemand aus der Schule war? Ich sag's dir: Weil Schulen grausame Orte sind. Sowohl im psychischen, als auch im sichtbaren Sinne. Sieh dir nur mal die Statistiken zu School Shootings an. 1300 vermerkte Vorfälle. Ungefähr 700 davon wurden von derzeitigen Schülern begangen ... Da liegt der Gedanke doch nicht fern, dass auch in diesem Fall einer aus unserer Schule zu so einem schrecklichen Verbrechen fähig war."
Ich wollte ihm zuerst sagen, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit jemand uns unbekanntes Macey ermordet hat und sein Gedankengang gerade etwas seltsam war, aber irgendetwas in mir will ihn nicht so verzweifelt sehen, will ihm wirklich aus selbstlosen Gründen helfen. Was ist bloß los mit mir? Ich sollte den Typen verachten, aber jetzt stehe ich hier und will ihm am liebsten etwas von seinem Leiden abnehmen.
Jeder hat sein Päckchen mit sich rumzutragen, manche ein größeres als andere, und er hat definitiv ein zu großes, als dass seine junge, fragile Psyche alleine damit zurecht käme. Es hat gedauert, bis ich das erkannt habe und jetzt fühle ich mich umso schuldiger, dass ich durch Beleidigungen und direktes Ansprechen des Themas sein Leiden noch größer gemacht habe. Ich kann es kaum ertragen, ihn länger anzuschauen.
"Also, um mir ein klareres Bild zu verschaffen, sollte ich die Personen kennenlernen. Was hältst du davon, wenn du mir Howard vorstellst?", schlage ich mit fester Stimme vor.
"Ja. Das ist wohl das sinnvollste. Er ist in der Mittagspause meistens in der Bibliothek, da können wir mit ihm reden", meint er, immer noch leicht mitgenommen von den grausamen Erinnerungen.
"Ok, dann lass uns uns am besten in der Mittagspause vor der Bibliothek treffen, dann kann ich ihn endlich auch mal kennenlernen."
Er nickt bloß stumm. Nachdenklich schaut er in den Himmel, während ich jede seiner Bewegungen beobachte.
"Also, ich muss noch was erledigen. Wir sehen uns dann gleich in Ethik", sagt er hastig, wobei ich ihn kaum verstehe, da er sich bereits von mir wegdreht, um in Richtung Schule zu gehen. Ich schaue ihm noch nach, wie er mit gesenktem Kopf von mir weggeht, während ich erkenne, dass er nicht wirklich noch etwas zu tun hat, sondern es wahrscheinlich nicht länger ertragen konnte, über Macey und ihren Tod zu reden. Wie konnte sich die Stimmung so schnell verändern? Es wird nicht leicht werden, mit ihm weiter über Macey zu reden. Aber ich habe eines gemerkt: Ich war so dumm. Er leidet darunter und mir ist es nicht aufgefallen und habe sein Leben mit Beleidigungen und Verleumdung unserer gemeinsamen Zeit erheblich schwieriger gemacht.
"Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich so ignorant war", flüstere ich ihm leise und für niemand hörbar hinterher.
Mr. Winters weiß anscheinend wirklich nicht, was er momentan in seinem Unterricht machen will. Erst diese Fallbeispiele, dann eine Gruppenarbeit und jetzt hat er sich doch umentschieden und will die Themen, die zuerst in den Gruppen vorbereitet werden sollten, selbst besprechen. Weswegen weiß niemand so genau, aber es kursiert das Gerücht, dass jemand behauptet hätte, dass er sich weigert, irgendetwas zu dem Thema zu machen, weil es nur die drei großen monotheistischen Weltreligionen behandelt und er sich als überzeugter Buddhist unterrepräsentiert fühlt. Wenn das wahr sein sollte, sollte sich diese Person mal überlegen, ob das wirklich ihr größtes Problem ist. Deswegen konnte ich nicht nochmal mit Nate reden. Was ich tatsächlich traurig fand, weil ich endlich aktiv werden will.
Zum Glück steht Nate bereits vor der Bibliothek. Ich hätte echt keine Lust gehabt, auf ihn zu warten und die Blicke der anderen ertragen zu müssen. Ich bin froh, dass er wieder gefasst und wieder wie er selbst aussieht. Deswegen lächle ich ihn an und nicke ihm zur Begrüßung zu.
"Hi. Da bist du ja endlich", begrüßt er auch mich.
Ohne wirklich weitere Worte auszutauschen, folge ich Nate in die Bibliothek, wo er anfängt, die Reihen nach Howard zu durchsuchen.
"Dort drüben ist er", meint Nate, während er in eine Ecke deutet und sich freut, dass er ihn so schnell gefunden hat.
Wir gehen zielstrebig auf einen der dort stehenden Tisch zu, an dem ein Junge in unserem Alter sitzt.
"Hey, Howard. Wie geht's?", begrüßt Nate ihn, während wir uns zwei Stühle ranziehen und uns ebenfalls setzen.
Ich inspiziere Howard nachdenklich und komme zu dem Schluss, dass man sein Aussehen nur mit einem Wort beschreiben kann: Seltsam.
Seine Haare stehen in alle Himmelsrichtungen ab, während er nachdenklich auf seinen Laptop starrt. Was ja alles normal wäre, würde er mal endlich blinzeln. Ich weiß nicht, wieso mir das auffällt, aber das ist doch nicht normal. Ich sehe nur, wie seine braunen, weit aufgerissenen Augen über den Bildschirm huschen. Ob das, was er gerade liest, so spannend ist, dass er einfach eine anatomische Fehlfunktion erleidet? Und sein Kleiderstil vollendet diese Inkarnation der Verrücktheit. Er hat ein Hemd an, was doch niemand für die Schule tut. Aber das schlimmste ist, dass er es nicht mal richtig geknöpft hat. Er hat einfach den zweiten Knopf in das dritte Loch gesteckt. Wie verpeilt kann man sein? Es juckt mich in den Fingern, das Hemd richtig zurichten, aber ich glaube, das wäre zu seltsam. Auch wenn man in seiner Anwesenheit wohl kaum von seltsam, wenn man sich auf sich selbst bezieht, sprechen kann. Ich müsste aber mal Nate sagen, dass er ihm doch bitte ausrichten soll, dass wenn er schon ein Hemd tragen will, er es bitte richtig knöpfen soll. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Im Moment sieht er entweder aus, wie einer dieser verrückten Wissenschaftler in Filmen, oder wie einer dieser Typen, vor denen ich, wenn ich sie in der Nacht treffen würde, Angst hätte, sie würden mich vergewaltigen. Aber wie heißt es so schön: Don't judge a book by it's cover.
"Schau dir das mal an, Nate", meint Howard plötzlich mit Begeisterung in seiner Stimme, während er seinen Laptop umdreht. Zu sehen ist eine Karte von Europa, irgendetwas an dieser ist allerdings seltsam. Ich kann aber nicht genau sagen, was. Ich war schon immer schlecht in Geographie.
"Schau mal, das hier zeigt, wie Europa wirklich aussieht. Finnland existiert nämlich gar nicht", erklärt er, während er im Norden auf eine Stelle Wasser tippt, bei der normalerweiße Land sein sollte.
"In der Zeit des Krieges hat die Sowjetunion dieses Stück Land erfunden. Die Sowjetunion hat behauptet, dass an dieser Stelle Land ist, auch wenn sich da nichts anderes als die Ostsee befindet. Dieses Land haben sie dann an Japan verkauft, damit diese dann dort fischen konnten, ohne sich an irgendwelche Gesetze halten zu müssen. Das bedeutet, dass während des kalten Krieges die Sowjetunion ein Land dazu gedichtet hat. Und die Leute, die sagen, sie wären Finnen, kommen eigentlich aus Ostschweden. Und niemand-"
"Ähm, interessante Theorie", unterbricht Nate ihn, "Übrigens, ich wollte dir noch jemanden vorstellen: Das hier ist Farley."
Hektisch richten sich die Augen von Howard auf mich und endlich, zum ersten Mal, blinzelt er kurz. Es wirkt ganz so, als ob er mich nicht bemerkt hatte. Wie auch immer das möglich sein soll. Er lebt wohl ganz in seiner eigenen Welt. Sieht nur, was er will und denkt nur, was er will, was man ganz klar daran erkennt, dass er tatsächlich zu denken scheint, Finnland existiere nicht. Wie kann man dazu kommen, das zu denken? Das ist doch Wahnsinn.
"Hallo", begrüße ich ihn freundlich.
"Ah, du hast rote Haare", meint er zu mir, immer noch offensichtlich verwirrt, warum ich plötzlich da bin. Warum merkt er an, dass ich rote Haare habe? Ich kann selber erkennen wie ich aussehe.
"Ach ne? Ist mir bisher noch nicht aufgefallen", antworte ich ironisch.
"Nicht? Dann fühle ich mich verpflichtet dir zu sagen, dass du damit große Kräfte hast. Früher hielt man zwar rothaarige Frauen für Hexen, aber das war nur eine Tarnung, weil Rothaarige in Wahrheit erkennen können, ob jemand von Dämonen besessen ist", erzählt er mit vollkommenem Ernst.
"Ach ja? Eine 'große Kraft' also?"
Ich frage mich wirklich, was mit seinen Synapsen im Gehirn falsch gelaufen ist.
"Ja. So etwas ist von höchster Wichtigkeit, wenn schon auf dem Dollar satanistische Symbole zu entdecken sind. Die Sterne über dem Adler auf der rechten Seite der Ein-Dollar-Note bilden absichtlich ein Hexagramm. Und wie du weißt, ist das Hexagramm ein extrem mächtiges Symbol, um den Antichristen darzustellen, da ein Hexagramm aus sechs Winkeln, sechs Ecken und sechs Flächen bestehet. Also sechs, sechs, sechs."
In seiner Stimme höre ich bloß absolute Überzeugung, dass das, was er redet, wahr ist. Ich hatte nie gedacht, dass solche Menschen existieren. Seine Augen allein schon, wie sie mich mit Überzeugung anstarren, lassen mich hinterfragen, ob er nicht schleunigst in eine geschlossene Anstalt verfrachtet werden sollte. Aber ich sollte nett zu ihm sein, schließlich habe ich Nate versprochen, bei den Ermittlungen meine volle Leistung zu geben. Vielleicht kann ich ihn mit einer Verschwörungstheorie meinerseits ködern.
"Wenn wir schon bei den Dollarscheinen sind, wusstest du, dass dort 9/11 vorhergesagt wurde? Wenn man die Fünf-Dollar-Note auf bestimmte Art und Weise faltet, zeigt sie die Zwillingstürme vor der Attacke am Elften September. Die gefaltete Zehn-Dollar-Note zeigt den brennenden ersten Turm. Die Zwanzig-Dollar-Note zeigt das Pentagon und wie beide Türme brennen. Und die Fünfzig-Dollar-Note zeigt den Moment, als die Gebäude kollabieren. Das ist ein eindeutiger Beweis, dass der Elfte September ein geplanter Inside Job war, um logistische und finanzielle Macht zu erlangen", erkläre ich Howard verschwörerisch.
Je mehr ich erzähle, desto begieriger schaut er mich an und desto stärker spüre ich einen Ellbogen in meiner Seite. Kurz schaue ich zu Nate rüber, der mir ganz offensichtlich versucht zu sagen, dass ich Howard nicht irgendwelche Verschwörungstheorien erzählen sollte. Aber irgendwie muss ich doch sein Vertrauen gewinnen.
"Du bist genial. Du bist so ein Genie. Dir sollte man einen Nobelpreis geben", überhäuft er mich mit Lob für etwas, das ich bloß aus dem Internet habe.
"Bitte sag mir, dass du das gerade nicht erfunden hast!"
Er wirkt tatsächlich so, als ob er weinen würde, wenn ich erzähle, dass es nicht wahr sei.
"Google es", fordere ich ihn auf.
Sofort dreht er den Laptop zu sich und fängt an, hastisch etwas in die Suchleiste zu tippen.
"Farley ist genial. Nate ist genial, weil er sie hergebracht hat. Farley ist genial. Nate ist genial, weil er sie hergebracht hat. Farley ist genial...", fängt er plötzlich an vor sich her zu sagen, als wäre das sein Mantra.
"Ähm. Das ist jetzt schon etwas gruselig, rede doch nicht vor mir in der dritten Person", erkläre ich ihm vorsichtig. Allerdings achtet er gar nicht auf mich, sondern fängt wieder an, hastisch zu tippen. Offensichtlich ist er wieder wie vorhin in seiner Welt. Wie seltsam. Nein, nicht seltsam. Gruselig. Wenigstens scheint er mich zu mögen, etwas, das mir bei den Untersuchungen im Fall Macey helfen kann.
"Weißt du was? Wäre Howard ein Mädchen und hätte pinke Haare, hätte ich Angst, dass ich plötzlich eine Yandere am Hals habe", meine ich leise zu Nate mit einem halben Lächeln, während ich Howards auf seltsame Art begeisterte Gesichtszüge mustere.
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