Kapitel 11: Farley
Es ist erst halb zwölf und doch kommt es mir vor, als hätte ich die letzten 24 Stunden durchgemacht. Trotzdem zeigt der Display meines Handys an, dass es viel zu früh ist, um bereits müde zu sein. Es gab Tage, an denen ich jetzt erst zur Party gegangen bin. Was ist los mit mir?
"Nettes Hintergrundbild", meint Nate plötzlich. Schnell schalte ich mein Handy wieder aus. Es geht ihn gar nichts an, was ich mit meinem Eigentum mache. Ob ich nun ein Bild mit Bradley habe, oder das eines Pornodarstellers, sollte ihn nicht jucken. Er kann sich ruhig seinen Blick sparen. Wirklich, ich weiß, dass es ein bisschen seltsam ist, ein Bild mit seinem Ex als Hintergrund zu haben. Das braucht er mir gar nicht mit seinen Blicken zu verdeutlichen. Ich will mich einfach nur an die schönen Zeiten erinnern, als dieses Bild entstanden ist.
"Mhm, es ist doch ein schönes Bild", meine ich komplett ernst und ignoriere seine Ironie, während ich den Zigarettenstummel auf den Boden schnippe.
"Absolut", meint er, erneut mit diesem Sarkasmus. Warum mischt er sich schon wieder in meine Angelegenheiten ein? Wäre er gerade eben nicht so nett und überaus hilfsbereit gewesen, hätte ich ihn scharf zurecht gewiesen. Allerdings stehe ich in seiner Schuld. Deswegen beiße ich mir bloß auf die Zunge, um mich davon abzuhalten, etwas unüberlegtes zu sagen, und setze mich einfach auf den Rasen. Während ich die Knie an meine Brust ziehe, richte ich Nates Mantel passend hin. Kurz darauf setzt auch Nate sich im Schneidersitz neben mich.
"Sag mal, was findest du eigentlich an Bradley?", fragt er.
Höre ich gerade Verachtung gegenüber Bradley, als er seinen Namen gesagt hat? Er schaut mich aber neugierig mit leicht schief gelegtem Kopf an, als ob er sich das schon länger fragen würde. Das ist eine ganz einfache Frage und deswegen schieße ich sofort los: "Also meine Mum hat immer gesagt, dass wir perfekt sind, auch mein Dad..."
"Das beantwortet nicht meine Frage. Ich wollte wissen, was du an ihm findest, nicht was deine Eltern denken", unterbricht er mich.
Was? Das ist doch nicht sein Ernst. Das klang ja so, als ob er denke, ich hätte keine eigene Persönlichkeit, sondern würde nur für meine Eltern leben.
"Meine Meinung stimmt eigentlich immer, und insbesondere in diesem Punkt mit der meiner Eltern überein."
Er schaut mich verwundert an und lacht dann tatsächlich. Es ist kein einfaches Mundwinkel-Zucken, sondern er lacht tatsächlich, kopfschüttelnd über meine Aussage.
"Das soll ich dir abkaufen? Niemals. Ich kenne deine Eltern zwar nicht, aber nicht nur, dass du vorhin noch was komplett anderes gesagt hast, sondern wir reden hier schließlich von ... Naja, egal. Du weichst meiner eigentlichen Frage aus", meint er.
Wollte er gerade 'von dir' sagen? Wenn ja, dann ist es bloß gut, dass er nicht weiter darauf eingegangen ist, weil ich habe definitiv keine Lust, irgendwie eine Moralpredigt über mein jetziges Leben zu hören.
Aber wie kommt er auf die Idee, dass ich in diesem Punkt nicht mit meinen Eltern übereinstimmen würde? Doch ihm zuliebe werde ich mich mal intensiv damit auseinader setzen, was mir an Bradley gefällt. Nicht nur, damit er Bradleys Namen nicht mehr so angewidert ausspuckt, sondern teilweise auch, um meine Position zu verteidigen.
Also, fangen wir mal damit an, dass ich die Zeit mit ihm echt schön fand. Sicherlich wird Nate wissen wollen, warum, deswegen sollte ich mir auch noch einen Grund ausdenken. Also das auf der Hand liegende ist, dass ich mich endlich nicht mehr wie das Mauerblümchen und der Nichts-Könner der Familie gefühlt habe. Ich habe etwas geschafft. Selbst wenn ich nur indirekt was damit zu tun hatte, aber insbesondere meine Mum war stolz auf mich. Moment mal! Jetzt bin ich schon wieder bei meinen Eltern angekommen. Ich versuche, die Zeit mit Bradley Revue passieren zu lassen. Die schönen Tage bis zu dem Punkt, an dem sich alles veränderte. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto mehr fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, wie viel von dem, was er zu mir gesagt hat, wahr war. Ich habe mich nie wirklich damit beschäftigt, weil es doch ziemlich schmerzhaft ist. Und jetzt, wo ich nochmal darüber nachdenke, kann es sein, dass alles, von unseren Alltagsgesprächen bis zu dem gehauchtem "Ich liebe dich", von seiner Seite aus gelogen war. Die Erkenntnis stürzt über mich herein. Wie viel von Bradley kenne ich wirklich? Insbesondere, da es Gerüchte gab, dass er nur was mit mir hatte, weil seine Familie das als vorteilhaft gesehen hat.
Ich muss dringend zu einem anderen Punkt kommen. Wenn ich weiter darüber nachdenke, falle ich bloß wieder in diesen Zustand, wo ich mich absolut wertlos fühle. Ich darf nicht nochmal vor Nate zusammenbrechen. Er hat mir heute den Arsch gerettet, da will ich ihn nicht schon wieder vollheulen. Ich krame in meinem Kopf, bis ich schließlich zu einem eindeutigen Pluspunkt von Bradley gekommen bin.
"Er sieht echt heiß aus", murmele ich endlich.
Er schaut mich verwirrt an.
"Das ist es? Der Grund, warum du so austickst, wenn es um ihn geht, ist nur, dass du ihn heiß findest? Okay, ich denke, das muss ich nicht verstehen."
Er schaut mich an, als ob ich die seltsamste Person auf dieser Erde sei. Aber ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen kann, was ich an Bradley finde. Was wäre, wenn ich gar nicht ihn mochte, sondern nur die Anerkennung von allen, welche mir die Beziehung einbrachte? Stopp! So darf ich nie denken. Bradley und ich sind perfekt füreinander. Und daran wird sich auch nichts ändern. Bradley und ich, wir sind wie Yin und Yang. Gegensätze, die zusammen das Ganze ergeben. Zusammen zu Höherem bestimmt. Nur, dass er das noch nicht weiß. Aber er ist sicher das Weiße zu meinem Schwarz. Das Licht zu meiner Dunkelheit. Mein Licht... was wäre aber, wenn ich einfach nur die Motte bin? Die Motte, die an das Licht will, koste es, was es wolle. Bis sie irgendwann als schwarzer, verkohlter, unscheinbarer Fleck an der Lampe klebt.
Ich sollte wirklich mit meinen tiefgründigen Gedanken zu einem Verleger gehen. Wer bitte ist Aristoteles, Karl Marx, oder Adam Smith im Vergleich zu mir.
Spaß beiseite.
Ich sollte mir echt nicht von einem Grufti etwas einreden lassen. Auch wenn dieser Grufti was bei mir gut hat. Mehr als einen Gefallen schulde ich ihm, nicht nur, weil er mich bei ihm schlafen lässt.
Was fällt Grace eigentlich ein, mich so stehen zu lassen. Wenn ich sie wiedersehe, werde ich ihr erstmal jede Gliedmaße einzelnd ausreißen. Darauf kann sie sich bereits gefasst machen. Jacob, dieser Möchtegern K-Pop Star, hat ihr wohl den Kopf vernebelt. Erst schleppt sie diese Fledermaus mit und ist dann pissed, wenn ich mit ihr gehe. Was ist das für eine Logik? Wäre ja nicht so, als ob ich sie alleine zurück gelassen hätte. Dieses Mädel hat echt Probleme. Mir ging es nicht gerade blendend und dann hat sie noch den Nerv, mir wegen einer Kleinigkeit das Leben zu erschweren. Ich merke, dass ich mich langsam in etwas reinsteigere. Ich sollte einen ruhigen Kopf behalten und erstmal auf Nates doch recht unverschämten Kommentar antworten.
"Nein, nicht nur. Er ist, nun ja..." Während ich versuche, so überzeugt wie möglich aufzutreten, fällt mir auf, dass er irgendwie recht hat. Nein, wie könnte Nathaniel jemals recht haben? Niemals. Und das sollte mir immer klar bleiben. Nur, weil er mal nett zu mir ist, heißt das nicht, dass er plötzlich nicht mehr mit Macey befreundet war. Ich brauche auf jeden Fall ein neues Thema, dieses wird mir zu unangenehm.
"Nate, eine kleine Challenge für dich. Du hast mich heute bereits manchmal überrascht. Schaffst du es nochmal mit etwas aus deiner Vergangenheit?"
"Interessanter Themenwechsel. Aber von mir aus", fängt er an, während er mich etwas verwirrt anschaut. Mit schief gelegten Kopf sieht er mich nachdenklich an, bis er endlich was sagt: "Naja, ich schätze, es wird dich überraschen, dass ich mal 'ne Freundin hatte, also in einer Beziehung war."
Was? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Für mich schien er doch immer asexuell. Er und eine Freundin? Wie hat er das hinbekommen? Ich hätte mir vieles vorstellen können, aber nicht das. Wie sie wohl zusammengekommen sind? Wie sie wohl Schluss gemacht haben? Wie sie wohl aussieht? Wahrscheinlich sieht genauso Dracula-mäßig wie Nate aus.
"Wetten, sie ist genau so ein Grufti wie du", lache ich scherzend, nachdem ich mich von der Überraschung erholt habe.
"Mh, sie hört eher so Metal."
Ich hatte schon Angst, dass er mir die Frage übel nimmt, allerdings grinst er bloß.
"Das beantwortet aber meine Frage nicht."
"Doch, eigentlich schon. Wie bereits erwähnt, die Musik ist das ausschlaggebende. Aber da du davon eh keine Ahnung hast: Nein, sie ist kein 'Grufti', oder sonst was in der Art."
"Schade, ich dachte schon, ihr wärt voll das süße Gothic-Paar gewesen", lache ich.
Amüsiert schaut er mich an und schüttelt leicht den Kopf.
"Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen."
"Schade." Ich schmolle gespielt beleidigt.
"Wieso denkst du eigentlich von allen Leuten, mit denen ich mich so abgebe - sei es meine Schwester oder meine Ex-Freundin - dass sie, um deine Wortwahl zu gebrauchen, 'Gruftis' wären?", fragt Nate.
Ja, das ist eine gute Frage. Ich weiß es selber nicht. Vielleicht, weil sich gleich immer zu gleich gesellt?
"Lenk nicht vom eigentlichen Thema ab. Also wie sah dann eure Beziehung aus?"
"Mal davon abgesehen, dass es mich wundert, dass dich das interessiert, gibt es da nicht so viel zu erzählen. Ich hab Eileen - so heißt sie übrigens - bei einem Konzert kennengelernt. Wir haben uns sofort ziemlich gut verstanden und alles. Naja, geendet hat es, weil sie mit ihrer Familie nach Louisiana gezogen ist ... Anfangs war es dann der Versuch einer Fernbeziehung, was aber natürlich nicht funktioniert hat, und irgendwie hat es sich dann einfach ergeben, dass wir uns getrennt haben", erzählt er mir.
Ist ja interessant. Irgendwie komme ich immer noch nicht darauf klar, dass er eine Freundin hatte. Ich dachte immer, er sei aromantisch, oder zumindest asexuell. Seine Art, sein Aussehen, haben mir das doch ins Gesicht geschrien. Ist genauso, wie wenn ein Mädel täglich mit einer Regenbogenfahne rumlaufen würde. Ich würde denken, dass sie schon lange erkannt hat, dass sie auf Boobies steht. Seine Aktionen brüllen doch quasi, dass er sich für keines der Geschlechter interessiert.
"Aber ich war mir immer sicher, dass du asexuell bist. Sag bloß, dass ich falsch liege", meine ich verwundert.
Perplex schaut er mich an, als ob das das skurrilste wäre, was er in seinem bisherigem Leben gehört hat.
"... Ja, da liegst du falsch. Und wieso 'war mir immer sicher'? Klingt ja so, als würdest du mich schon länger kennen - oder mich überhaupt kennen", antwortet er mit gerunzelter Stirn.
"Naja, ich kenne dich vom Sehen und du fällst da immer etwas auf. Nicht zwingend positiv, aber du tust es. Außerdem haben wir uns in den letzten paar Stunden besser kennengelernt. Und denkst du nicht, dass wir uns inzwischen recht gut verstehen?"
Ich werde bei dem letzten Satz, glaube ich, etwas rot, weil damit mache ich ihm das größte Zugeständnis, zu dem ich jemals im Stande sein werde. Ich, Farley Sullivan, und Nathaniel Revely - glaube ich, weil das vorhin auf der Klingel stand - sind doch eigentlich niemals irgendwie freundlich zueinander. Aber doch sitzen wir hier und unterhalten uns darüber, ob er asexuell sei.
"Ja, schon irgendwie. Du bist wirklich nicht so, wie ich erwartet hätte ... du bist eigentlich sogar ziemlich ..."
Nate stoppt plötzlich und räuspert sich. Wollte er gerade 'nett' sagen, bevor ihm aufgefallen ist, wie surreal diese ganze Situation ist?
"... Egal wie, den Kommentar bezüglich Macey in Ethik habe ich dir trotzdem nicht verziehen", murmelt er, so als ob er schnell wieder diesen freundlichen Umgang vermeiden will.
"Und ich bin so freundlich und ignoriere das gerade eben einfach", meine ich mit einem schiefen Lächeln. Ich habe kein Interesse, dass wieder eine Diskussion entsteht, deswegen verkneife ich mir zu sagen, wie mies seine Aktion in Ethik war. Sich, indem man einfach geht, in die Opferrolle drängen.
"Klar, du bist dich natürlich immer überlegen und fehlerfrei", sagt er mit klar ironischem Ton. Meine Güte, er soll sich bitte nicht so anstellen. Ich will gerade schon was spitzes erwidern, als er fortfährt: "Aber um wieder auf den ursprünglichen Punkt zurückzukommen: Ich habe dich ja ziemlich überraschen können. Kannst du das noch toppen?"
Challenge accepted, Nathaniel.
Also, womit könnte ich ihn überraschen? Ich glaube jetzt nicht, dass ihn Noten wirklich interessieren, deswegen wird es ihn nicht jucken, wenn ich sage, dass ich nicht schlecht in der Schule bin. Was könnte ihn umhauen? Vielleicht kriege ich irgendwie sein Bild über mich zum Wanken. Was erzählt man sich über mich in der Schule? Also, eine negative Anschuldigung ist, dass ich eine Schlampe sei. Sicher denkt auch er dies. Ob ich ihn damit bekomme, dass ich doch nicht so eine Schlampe bin, wie viele denken?
"Weißt du...", ich mache eine Kunstpause, bevor ich weiterrede, "...Ich bin noch Jungfrau."
Ich versuche, seine Reaktion genau mitzubekomme. Und die erwartete Verwunderung lässt nicht lange auf sich warten. Ist es nicht immer schön Leute zu überraschen? Auch wenn er versucht, sich schnell wieder zu fangen und nicht so verwundert zu wirken. Wohl um nicht zuzugeben, dass er mich für eine Schlampe hielt?
"Warst du nicht über ein halbes Jahr mit Bradley zusammen? Das kann ich mir bei ihm ja mal gar nicht vorstellen", fragt er mich. Ich muss erstmal schlucken, da ich an gerade eben denken muss. An meinen peinlichen Zusammenstoß mit Bradley. Aber Nate schien einfach vergessen zu haben, dass ich das Thema Bradley nicht gerne behandle. Deswegen werde ich ihm das auch nicht übel nehmen.
"Ja, ich wollte es nie, weil meine Mum mir immer gesagt hat, dass sich so ein Verhalten nicht für ein Mädchen aus gutem Hause ziemt."
Ich überlege kurz, ob ihr mich ihm weiter öffnen soll, aber wir tauschen grad eh unsere ganze Lebensgeschichte aus, deswegen rede ich weiter: "Manchmal überlege ich, ob das der Grund ist, warum er mich verlassen hat."
Er schaut mich nachdenklich an und sagt eine gefühlte Ewigkeit nichts.
"Wieso lässt du dich so von der Meinung deiner Mum beeinflussen? Ist doch deine Sache, was du tust oder nicht tust, vor allem bei sowas. Und was Bradley angeht ... dass ich sehr wenig von ihm halte, ist ja ziemlich offensichtlich. Von daher traue ich ihm das absolut zu", erklärt er. Ich schlucke schwer. Irgendetwas tief in mir drinnen sagt, dass er recht hat. Aber ich liebe Bradley doch. Stumm schaue ich auf den Boden. Warum wird mir plötzlich wieder so kalt? Ich schlinge Nates Mantel enger um mich. Es war ein langer Tag. Vielleicht sollten wir hier aufhören.
"Mir ist kalt. Wie wäre es, wenn wir wieder reingehen?", frage ich mit einem Lächeln, welches aber, glaube ich, etwas gezwungen wirkt.
"Ja, lass uns reingehen", meint Nate, auch mich anlächelnd.
Was für ein seltsamer Tag. Wer hätte in der Früh gedacht, dass er damit endet, dass ich mit Nate über Sachen rede, die ich nicht mal Nini erzähle?
Definitiv nicht ich.
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