Kapitel 1
Andy sitzt an seinem Schreibtisch, in seinem Büro und wartet. Eigentlich wartet er schon sehr lange. Zu lange. Auf was? Er wartet darauf, dass etwas passiert. Irgendwas. Egal was. Etwas, bei dem seine Hilfe gebraucht wird. Am späten Abend wird ihm das Warten zu viel. Er steht auf und läuft ins Bad.
Musternd schaut er in den zu kleinen Spiegel oberhalb des Waschbeckens. Vielleicht sollte ich mich wieder einmal rasieren. Aber das kann bis morgen warten. Andy hat keine Lust, sich die pechschwarzen Haare zu waschen. Mit etwas Gel sieht das Ganze aus, als müssten die Haare so sein. Anstatt zu duschen, nimmt er Deo und Parfum. Hilft immer. Zähne putzen und Andy verlässt sein Büro, welches auch gleichzeitig seine Wohnung ist. Dies spare eine Menge Geld, sagt er. Man muss nur einen Raum mieten und spart auch noch das Benzin, um von einem Ort zum anderen zu kommen.
Sein Büro liegt im zweiten Stock eines Wolkenkratzers, der wahrlich schon bessere Zeiten erlebt hatte. Nur kann sich niemand daran erinnern, wann genau diese Zeiten gewesen sein sollen. Selbst die älteste Mieterin, Nana wie sie von allen genannt wird, weiss nichts von einem besseren Zustand des Hauses. Manchmal meint sie, der Bauleiter habe sich damals einen Scherz erlaubt und das Haus absichtlich so baufällig hingestellt. Apropos Nana, als Andy das Haus verlassen will, läuft sie ihm zufällig im kalten und ziemlich heruntergekommenen Treppenhaus über den Weg. «Hallo Nana» «Hallo Andreas», begrüsst ihn die alte Frau, «wie geht es dir?» «Gut, danke der Nachfrage», gibt Andy zur Antwort, «wie geht es Ihnen?» Nana seufzt schwer: «Ach du weisst ja wie das ist. Immer diese Knie. Andreas», sie schaut ihn genauer an, «hast du immer noch keinen Auftrag gekriegt?» «Nein», antwortet Andy niedergeschlagen. «Ach das kommt schon noch», meint Nana aufmunternd, «irgendwann braucht bestimmt jemand deine Hilfe.» Hoffentlich. Nana nickt langsam und macht sich auf den Weg in ihre Wohnung zurück. Andy macht sich indessen auf zu seinem Wagen. Der Wolkenkratzer hat keine eigene Garage, dafür der Nachbarsblock eine umso grössere. Andy stellt seinen alten Ford Capri immer dort ab. Falls er eines Tages kein Geld mehr haben sollte, würde er den Wagen verkaufen. Doch noch ist es nicht so weit.
Die kalte Nachtluft macht Andy nichts aus, als er durch seine Stadt rast. Hier ist er aufgewachsen, hier ist er gross geworden. Die Strassen sind schlecht beleuchtet und Autounfälle sind an der Tagesordnung.
Man könnte nun auf den falschen Eindruck kommen, Andy sei ein heruntergekommener Typ, der in einem heruntergekommenen Block in einer heruntergekommenen Stadt lebt. Nun gut, was den Block und die Stadt angehen, stimmt die Aussage, aber nicht bei Andy. Er ist alles andere als heruntergekommen. Im Gegenteil, normalerweise ist er sogar sehr gut angezogen und sein Äusseres lässt Frauenherzen höherschlagen. Ausserdem hat Andy die Angewohnheit, immer etwas im Mund zu haben. So auch jetzt. Eistee, sein Lieblings Kaugummigeschmack. Diese Kaugummis sind bei Andy ein immer willkommenes Geschenk. Und Geld, denn Geld kann Andy immer gebrauchen.
Er fährt weiter in die Stadt hinein. Sein Ziel ist eine Bar namens Waikiki. Hier trifft er seinen Informanten Charly. Andy mag ihn nicht besonders. Aber er sollte nett zu ihm sein, denn sonst muss er die ganze Drecksarbeit alleine machen. Es drängt sich verständlicherweise die Frage auf, wozu Andy einen Informanten braucht. Dazu muss gesagt werden, dass Andy einen Beruf ausübt, der nicht gerade als Nullachtfünfzehn Bürojob ist. Andy ist Detektiv- Andreas Borlinger, Privatdetektiv. Allerdings kein besonders erfolgreicher. Was nicht bedeuten soll, dass er kein Guter ist. Im Gegenteil. Andy hat sich nur die falsche Stadt ausgesucht.
Nach einer viel zu seltenen Fahrt betritt Andy die Bar. Vorne am Tresen sitzt auch schon Charly. Dieser nippt an seinem Whiskeyglas. «Das Übliche?», fragt Hank, der Besitzer der Bar, als Andy sich setzt. Dieser nickt bloss. Hank stellt ihm ein Bier vor die Nase. «Und, was Neues?», wendet Andy sich an Charly, nur aus reiner Höflichkeit. In dieser Stadt passiert so gut wie nie was Neues. «Nein, nicht viel» Das habe ich erwartet. «Ausser, dass am anderen Ende der Stadt ein neues Lokal aufgeht», Charly lispelt sehr stark, was es für Andy doppelt mühsam macht, ihm Woche für Woche zuzuhören. Trotzdem wird er hellhörig. Neues bedeutet immer wieder auch Misstrauen und Skepsis. Ich glaube, das sehe ich mir mal genauer an. «Kommst du mit?», fragt er Charly. Er weiss selbst nicht genau wieso. Vielleicht, weil er heute den ganzen Tag alleine in seinem Büro sass. Ein bisschen Gesellschaft wird mir wohl ganz gut tun. «Wohin?» «Na, das neue Lokal anschauen. Was denn sonst?» «Willst du wirklich, dass ich mitkomme?», fragt Charly ihn unsicher. Wenn du mich noch lange fragst, kannst du gleich dableiben. «Klar, komm schon.» «Cool», meint Charly und watschelt hinter Andy aus der Bar.
Gott reichte es wohl nicht, Charly einen auffälligen Sprachfehler zu verpassen. Nein, er hatte ihn auch noch mit dem Gang einer Ente gesegnet.
«Wow, dein Wagen ist ja ein Traum!» Die Nacht scheint noch ein wenig dunkler geworden zu sein. Andy hält sein Bier noch immer in der Hand. Hank hat deswegen mit der Zeit angefangen, Depot für seine Flaschen zu berechnen. Nicht, dass er das seinen Kunden, falls die Flaschen tatsächlich wieder zurückbringen würden, wiedergeben würde. Doch niemand nimmt es ihm übel. Was sind schon ein paar lausige Cent mehr für eine Flasche? «Ich weiss. Und damit es so bleibt, stehst du mir auf keinen Fall auf die Sitze oder kratzt den Lack an!» Diese Worte mögen ein wenig hart erscheinen, doch Andy hat gute Gründe für sie. Charly ist einfach, um es nett auszudrücken, der wohl ungeschickteste Mensch der auf diesem Planeten sein trauriges Dasein fristet.
Nach einer Autofahrt die Andy unendlich lang vorkam, da Charly am laufenden Band vor sich hin quasselte, erreichen sie die andere Seite der Stadt. Hier sehen die Häuser und Strassen schon viel besser aus. Nicht gut, aber besser als das Viertel in dem Andys Büro steht. Hier steht auch die ehemalige Spelunke, welche seit fast 20 Jahren geschlossen war. Jetzt erstrahlt sie in neuem Glanz. Die Wände sind neu gestrichen und die Fenster ausnahmsweise sauber.
Alles in Allem sieht sie richtig super aus. Sie war nichtmehr die obdachlose Säuferin auf der Strasse, sondern viel mehr ihre charmante Schwester die beruhigt als ältere Dame bezeichnet werden darf. Andy bläst vor Verblüffung eine Kaugummiblase und lässt diese lautstark platzen. Er hätte es sich niemals träumen lassen, dass das zerfallene Gebäude jemals wieder in solch neuem Glanz erstrahlen könnte.
Die Beiden Männer steigen aus. Zügig nähern sie sich der Tür. An dieser hängt ein Schild: «Grosse Eröffnungsparty! Samstag 15. September, alle sind herzlich eingeladen!» Hmm, vielleicht sollte ich dorthin gehen und ein wenig Mundpropaganda machen. Andy schaut Charly an. An seinem offenen Mund erkennt er, dass er immer noch mit Lesen beschäftigt ist. Noch bevor Andy Charly eine Chance gelassen hat, das Schild zu Ende zu lesen, verabschiedet er sich auch schon. Bevor Charly realisiert was los ist, kann er auch nur noch die Rücklichter des roten Wagens im Dunst der Strasse erkennen.
Am Samstag steht Andy wieder vor seinem Spiegel. Er ist frisch geduscht und fühlt sich einfach nur grossartig. Mit der rechten Hand fährt er sich durch die pechschwarzen Haare. Andy trägt einen Drei-Tage-Bart, der sein kantiges Gesicht betont. Er schaut sich nochmals genauer an «Andreas Borlinger, du siehst wieder einmal unwiderstehlich aus!» Mit ein paar geübten Bewegungen trägt er das Rasierwasser auf. Andy schwört bereits seit dreizehn Jahren darauf und bisher hatte es ihn noch nie im Stich gelassen.
Das Bad ist voller Dampf, der Andy in eine angenehm warme Wolke aus Wärme hüllt. Plötzlich fällt ihm auf, dass er noch immer nur mit einem Handtuch um der Hüfte dasteht. Schnell geht er in sein Zimmer und sucht sich eine dunkle Jeans, ein weisses Shirt und seine Lieblingslederjacke. Sie ist von einem aussergewöhnlich tiefen Schwarz, welches ihn in der Dunkelheit manchmal beinahe verschwinden lässt.
Er kehrt nochmals ins Bad zurück, um sich ein wenig Gel in die Haare zu schmieren. Jetzt kanns losgehen.
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