6. Styx

Weidenpfote war noch nie ein guter Schwimmerin gewesen, aber Tupfenherz hatte alles daran gesetzt, es ihr beizubringen. »Eine Weide, die kein Wasser mag«, hatte er gesagt, »das ginge nun wirklich zu weit.« Er hätte ihr auch beigebracht, Fische zu fangen, hätte sie sich nicht so furchtbar ungeschickt dabei angestellt.

Sturmpfotes Mentorin war weniger aufmerksam gewesen. Bis auf den einen Tag, an dem Tupfenherz ihn mitgenommen hatte, hatte er ohne Schwimmunterricht auskommen müssen.

Und beide hatten sie nie eine Pfote in den Fluss gesetzt, wenn es kalt war; kurz: Es war ungünstig gewählt, ausgerechnet auf die andere Uferseite gehen zu wollen.

Hineinzukommen war das Schlimmste. Ihr Pelz brannte wie in einem eisigen Feuer; wie sich Sturmpfote mit seinem dünnen Fell fühlen musste, wollte sie sich gar nicht ausmalen. Das Wasser umspülte ihre Tatzen, sie fühlte die Stärke der Strömung, fühlte, wie stark sie war und wie gefährlich sie sein würde, wenn sie erst die Mitte des Flusses erreicht hatten.

Lärchenfell musste ihr viel bedeuten, wenn sie das für ihn tat, dachte er und fragte sich, warum er ihr dorthin folgte. »Sei vorsichtig. Hier sind überall glatte Steine.«

Sie nickte, watete tiefer hinein. Weit waren sie noch nicht gekommen - ein paar Schwanzlängen vielleicht -, aber sie stand schon bis zum Kinn im Wasser. Sie drehte sich um, um Sturmpfote sehen zu können, und bekam einen Schwall davon ins Gesicht. »Ab hier müssen wir schwimmen.« Der Fluss riss bereits an ihren Pfoten.

»Nebeneinander?«

Sie nickte, wartete, bis er bei ihr war. Vor ihnen lagen zwanzig Meter Fluss, zehn davon in flachem Wasser, fünf in tiefem und fünf wieder in etwas flacherem. Als sie das letzte mal mit Tupfenherz geschwommen war, waren sie weiter flussaufwärts gestartet, wo der Fluss noch breiter war. Aber damals hatte sie den Weg kaum geschafft, und zurück hatte Tupfenherz sie halb tragen müssen. Jetzt begannen sie an einer schmaleren Stelle. Der Fluss war hier tiefer, aber sie mussten nicht so weit schwimmen. Weidenpfote fand, das war ein guter Ausgleich.

»Sicher, dass wir nicht weiter oben-«

Weiter kam er nicht, ihm wurden die Pfoten unter dem Körper weggerissen. Energisch strampelnd hielt er sich über Wasser und kämpfte sich vorwärts. Weidenpfote biss die Zähne zusammen, stürzte sich hinterher. Es dauerte einen Moment, bis sie die Bewegung wieder in die Pfoten bringen konnte - sie waren schon ganz taub vor Kälte -, aber sie fing sich recht schnell. Mit Sturmpfote neben sich schwamm sie weiter. Ab und zu stießen ihre Pfoten gegeneinander, dann erschraken sie und hörten kurz auf zu strampeln; ab und zu trat einer von ihnen gegen einen der Steine im Fluss. Ihre Pfoten waren taub genug geworden, sodass es nicht wehtat, aber es erschwerte das Schwimmen ein wenig.

Noch fünfzehn Meter.

Langsam war das Wasser durch ihr Fell gekommen. Und es war kalt. Kälter als alles, was sie jemals gespürt hatte. Das Wasser schwappte über ihr Gesicht, hin und wieder spritzte es ihr in die Augen oder sie geriet kurz unter Wasser. Ihr Pelz war mittlerweile so durchweicht, dass sie ihn gar nicht mehr spürte, nur die nackte Kälte, die ihre Knochen zu erreichen schien. Aber so kalt es auch war: sie kamen voran.

Noch zehn Meter.

Sturmpfotes Flanke berührte ihre, kurz darauf ergriff die Strömung auch sie; eine eisige Kraft, ein namenloses Monster, das sie packen und mit sich reißen wollte. Ihre Pfoten wurden taub, der Fluss hatte sie umklammert, ließ sie kaum los. Sturmpfote wurde immer mehr gegen sie gedrückt, sie musste alle Kraft aufwenden, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Immer wieder geriet ihr Kopf unter Wasser. Ihre Augen brannten, ihr Herz trommelte wie wild in ihrer Brust.

Sie sah auf.

Noch zehn Meter.

Noch zehn Meter?

Sturmpfote begann zu husten. Einen kurzen Moment war er unter Wasser, dann tauchte er wieder auf, schnappte nach Luft. Sie versuchte, ihn zu stützen, aber er kam wieder unter Wasser. Die Strömung war jetzt so stark, dass sie ihre Beine kaum noch bewegen konnte. Mit aller Kraft drückte sie sich hoch und versuchte, das Ufer zu erkennen.

Aber da war kein Ufer mehr.

Beziehungsweise doch, da war noch Ufer; aber ein ganz anderes als das, was sie eben noch gesehen hatte. Sie riss den Kopf herum, blickte entlang des Flusses. Sie trieben ab; schneller, als sie es gedacht hätte. Viel schneller, als es ihr angenehm war; der Fluss wurde hier etwas schmaler, die Strömung noch schneller; und es gab keine flache Stelle mehr, an der man einfach an Land hätte gehen können.

Fünf Meter bis zum Ufer.

Sturmpfote neben ihr begann zu strampeln. Er kämpfte sich vorwärts, offenbar mit all seiner Kraft, doch er kam nicht voran.

Fünf Meter bis zum-

Ihr Kopf prallte gegen einen der Steine im Fluss, sie schlug zurück, knallte gegen Sturmpfote, wurde von ihm zurückgeworfen, streifte noch einmal den Stein und ging dann unter. Als sie sich nach oben gekämpft hatte, war der Fluss noch schmaler geworden. Sie trieben in der Mitte.

Drei Meter bis zum Ufer.

Lange hielt sie das nicht mehr aus, ihr Kopf dröhnte, alles rauschte, immer wieder tauchte sie unter, und alles-

Nein, sie durfte jetzt nicht aufgeben. Sie war nicht einmal zwölf Monde alt, sie konnte jetzt nicht sterben, und erst recht nicht in diesem Fluss. Sie würde jetzt nicht sterben. Sie würde schwimmen, an Land schwimmen und dann würde sie leben und alt werden.

Das war das letzte, das sie dachte.

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