5. Die zweite Maus
Bis zum Kiefernhügel verlief alles nach Plan. Sie hatte den Weg weiter südlich eingeschlagen, war um die üblichen Pfade der Krieger herumgegangen, um den Anschein zu erwecken, sie wäre tatsächlich in den Lärchenwald aufgebrochen; jetzt, wo Schatten tot war und jeder wieder in diesen Wald durfte, ganz ohne Wolfssterns Erlaubnis, machten das viele Katzen. Nichts Ungewöhnliches also. Sie verließ das kleine Tal, in dem ihr Lager lag, schlängelte sich ungesehen durch den Nadelwald und wäre fast bis zur Flachen Stelle gekommen, ohne von ihrem Plan abzuweichen.
Dann kam er.
Sie hörte ihn erst, als es zu spät war. Er war ein wenig hinter ihr, ein paar Meter weiter weg im Dickicht, vermutlich hatte er Kräuter suchen sollen, sie dann gehört und war ihr gefolgt; er hatte sie längst bemerkt, als sie ihn fand. Es war schon zu spät, ehe sie ihn überhaupt sah.
»Weidenpfote?« Er kam an sie heran, vorsichtig und etwas misstrauisch, und blieb ein wenig vor ihr stehen. »Was machst du hier?«
»Ich suche eine Maus.«
»Eine Maus?«
»Zwei Mäuse.«
Er kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. »Du suchst zwei Mäuse.«
»Genau.«
Er blinzelte. »So eine schlechte Ausrede habe ich noch nie gehört. Wohin gehst du?«
»In den Lärchenwald.«
»Um zwei Mäuse zu suchen.«
»Genau.«
Der Kater stand auf. Er wirkte plötzlich sehr entschlossen, etwas zu tun, so, als hätte er auf einmal einen ganz genauen Plan davon, was er machen wollte und was nicht, und mit einem mal fühlte sie sich wie diejenige, die ohne Grundhier war.
»Was machst du?«, fragte sie zögernd.
»Ich stehe auf.«
»Und dann?«
»Dann gehe ich zwei Mäuse suchen.«
Nein, das ging nicht. Sie musste in das Nirgendwo, Wind finden und ihm das ausrichten, was Lärchenfell ihr gesagt hatte. »Das geht nicht«, meinte sie vorsichtig.
»Doch. Ich suche jetzt zwei Mäuse.« Er kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen, ziemlich nah vor ihr, so nah, dass sie sich in der Spiegelung seiner Augen sehen konnte. »Und du sagst mir, wo ich sie finde.«
Warum war sie nur Sturmpfote begegnet. Warum ausgerechnet Sturmpfote.
»Jetzt«, fügte er hinzu.
Warum ausgerechnet Sturmpfote.
»Es gibt keine Mäuse. Ich möchte über den Fluss. Ich soll einem Einzelläufer dort etwas ausrichten. Von Lärchenfell.«
Sturmpfote musterte sie. »Warum das?«
»Weil der Schatten tot ist und er das noch nicht weiß. Und dann hat er unnötig Angst.«
»Das meinte ich nicht. Warum sollte Lärchenfell einem Einzelläufer etwas sagen wollen?«
Weidenpfote wich zurück. Sie sah ihn jetzt an, schaute in diese blaugrauen Augen und versuchte, darin nichts zu erkennen. »Weil er nett zu ihm war. Das macht man so, mit Leuten, die nett zu einem sind.«
Einen Augenblick herrschte Stille.
»Ich muss jetzt weiter«, meinte sie, ohne sich zu bewegen.
»Ich müsste jetzt weiter Kräuter suchen.«
Es war eine seltsame Stille, die über dem Wald lag.
»Ich glaube, es gibt zwei Mäuse zu finden«, sagte sie leise.
»Gut, dass wir zu zweit sind«, sagte er und lief los. Ein paar Augenblicke blieb sie stehen, versuchte, die Situation zu realisieren, irgendwie dahinter zu kommen, was um sie herum geschah, aber es war, als blickte sie durch Nebel, alles war verschwommen und kaum etwas zu erkennen.
»Eigentlich funktioniert das nicht so.« Mit ein paar Sprüngen hatte sie ihn eingeholt. »Ich soll niemandem etwas darüber sagen. Du darfst das auch nicht machen. In Ordnung?«
»Weil dein Lärchenfell dich sonst nicht mehr mag?« Er schnaubte.
»Nein. Er hat Gründe, warum er so handelt, und ich vertraue ihm, dass es gute Gründe sind.« Ihr Pelz prickelte bei dem Wort ›vertrauen‹. Sie vertraute jemandem; das war neu. Und irgendwie war es auch ein schönes Gefühl, einmal nicht alles im Blick haben zu müssen. Einfach zu wissen, dass jemand anders ganz genau wusste, was zu tun war und was nicht. »Du darfst niemandem davon erzählen. Hast du das verstanden?«
Er antwortete nicht, also überholte sie ihn und stellte sich ihm in den Weg.
»Hast du das verstanden? Du darfst niemandem davon erzählen. Lärchenfell vertraut mir. Uns.«
Da war er wieder, der Ausdruck in seinen Augen. Der gleiche Ausdruck wie damals.
»Ich möchte Heiler werden.« Sie versuchte, nicht daran zu denken.
»Ich sage niemandem etwas«, sagte er und wandte sich ab.
Dass er es nicht wegen Lärchenfell tat, sagte er nicht.
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