26. Über das Hören
»Wie kommst du denn hierher?« Schatten trabte auf sie zu, umkreiste sie einmal und sah über die Schulter. »Bist du jetzt auch noch verrückt geworden? Es ist mitten im Winter! Du kannst doch nicht einfach durch den Fluss schwimmen, wenn...«
»Schatten.« Sie sah auf, wich vor ihm zurück - aber da war niemand mehr, vor dem sie hätte Angst haben müssen. Nur noch ein kleiner, junger, grauer Kater mit kleinen, niedlichen, grauen Sprenkeln und traurigen, grün-grauen Augen - kein riesiger, kräftiger Kämpfer, kein unberechenbarer Mörder.
Nur ein Schüler. Ein Schüler ohne Narben, ohne diesen verbitterten Ausdruck, ohne...
Sie schüttelte den Kopf.
Nein, da stand er immer noch vor ihr - Schatten, wie er wohl schon immer ausgesehen hatte. Woher kamen all die seltsamen Bilder in ihrem Kopf?
»Die Zeit kommt immer«, sagte er zu sich selbst und zuckte mit den Ohren. »Du hast also Fragen«, stellte er fest. »Und offenbar scheinen diese Fragen so wichtig zu sein, dass du nicht warten kannst, bis der Fluss zugefroren ist, oder der Winter vorbei geht.«
»Ich habe nachgedacht.«
»Oh. Na dann!« Schatten zuckte mit den Schnurrhaaren. »Das muss ja wirklich ein denkwürdiges Ereignis gewesen sein. Passiert nicht so häufig, oder was?«
Bloß nicht darauf eingehen. »Ich wollte die Wahrheit herausfinden, und...«
»Ich habe es dir doch gesagt: Es gibt keine Wahrheit. Nur eine Wirklichkeit, die niemand hören will.«
»Ja. Aber...«
»Bist du Kriegerin geworden?«
Sie sah auf. »Wie kommst du darauf?«, fragte sie, und noch als sie es fragte, fiel ihr auf, dass er es geschafft hatte, sie von ihrem Thema abzubringen.
»Du bist ein bisschen gewachsen. Siehst du? Du gehst mir jetzt fast bis zur Schulter.«
»Man wächst nicht, nur weil man Krieger wird.«
»Da solltest du dich aber mal sehen.« Schatten schnippte mit dem Schwanz. »Sag' schon. Wie heißt du jetzt?«
»Weidenteich.«
»Oh«, er nickte langsam. »Interessanter Name.«
»Er klingt wie ein Ort.«
»Sind Orte denn schlechte Namen?« Er neigte den Kopf. »Man kann sie nicht zerstören. Zumindest nicht so einfach wie, sagen wir ... ein Herz.«
»Schatten lassen sich auch nicht leicht zerstören.«
»Ich heiße aber nicht ›Schatten‹.« Der Kater erhob sich. »Weißt du, ich glaube, wir ähneln uns schon mehr als genug. Fordere das nicht heraus. Ich kann dir nicht garantieren, dass du da genauso unbeschadet herauskommst wie ich.«
Weidenteich musterte ihn - die unzähligen Narben auf seinem Körper, den traurigen Blick in den Augen. Er war nicht unbeschadet aus den Dingen herauskommen. Was auch immer das für Dinge waren - unbeschadet hatte er sie keinesfalls überstanden. »Du wurdest vertrieben.«
»Das stimmt.« Schatten lächelte bitter. »Aber ich lebe noch. Das ist mehr, als die meisten geschafft haben. Es sind genug Leute gestorben - Dinge sind geschehen, die sich nicht rückgängig machen lassen können. Nicht nur die Tode«, er musterte sie eindringlich. »Auch das, was sie mit den Leuten gemacht haben.«
»Man könnte sie umstimmen. Du könntest wieder bei uns leben, wenn wir den...«
»... hör damit auf!« Er fauchte. »Das hat nichts mit dir zutun. Nur etwas mit mir, und ich will nicht, dass sich irgendjemand in Gefahr bringt, nur um mich zu retten. Du kannst mich nicht retten. Hast du das verstanden?« Der Kater wandte sich ab. »Du hättest nie hierher kommen sollen. Wenn ich Lärchenfell das nächste mal sehe, reiße ich ihn in...«
»Ich will nur Gerechtigkeit«, sagte sie.
»Das ist schade. Es gibt keine Gerechtigkeit. Dafür müssten die Leute das Unglück sehen, für das sie selbst verantwortlich sind, und niemand will Unglück sehen. Geschweige denn Verantwortung. Lässt du mich jetzt in Ruhe? Ich habe zutun. Im Gegensatz zu euch Clan-Katzen muss ich mich nämlich um alles selbst kümmern.« Er wandte sich zum Gehen, aber so leicht würde sie sich nicht abschütteln lassen.
»Wenn jeder so denkt, ändert sich nie etwas.«
»Sehr ehrenhafter Ansatz, Kleine. Ehrenhafte Ansätze überleben du nicht lange.«
Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Dann sterbe ich eben ehrenvoll.«
»Es gibt keine Ehre.« Weidenteich blieb stehen, Schatten seufzte und hielt ebenfalls inne. »Es gibt nur Sterben und Überleben. Entweder, du lebst, oder du lebst nicht. Das ist das Einzige, was zählt.« Er sah ihr in die Augen. »Ich finde es ja wirklich sehr schön, wie du versuchst, das Richtige zu tun. Aber so funktioniert die Welt nicht. Ich habe auch versucht, das Richtige zu tun, und am Anfang fanden sie das auch gut. Dann haben sie mich beschimpft, später verbannt, dann bekämpft und jetzt wollen sie mich umbringen.« Er zuckte mit den Schultern. »Mach nicht den gleichen Fehler wie ich - die Leute lassen sich nicht ändern. Sie folgen lieber einem Mörder, der ihnen sagt, dass alles so bleibt wie davor, als dass sie ihre Fehler einsehen.«
»Darf ich bei dir bleiben?«
Schnauben. Er überlegte nicht lang. »Nein.«
»Aber ich habe Angst. Ich weiß, wer es war.«
»Na dann! Du weißt es also!« Schatten lachte missmutig. »Hat dir das der SternenClan persönlich ins Ohr geflüstert? Oder hast du ihn auf frischer Tat ertappt?« Er schüttelte den Kopf. »Du hast keine Ahnung von der Welt, also hör auf, unschuldige Katzen zu beschuldigen.« Einen Moment schien er zu überlegen. Dann lächelte er matt. »Obwohl. So ganz unschuldig ist er gar nicht.«
Weidenteich hielt inne. »Woher weißt du, wen...«
»Schließlich belauscht man andere Katzen nicht.« Schatten richtete seinen Blick in die Ferne. »Nicht wahr, Tupfenherz?«
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