20. Noch nicht
Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her, erst durch das kleine Tal, in dem ihr Lager lag, dann durch einen kleinen Wald aus Buchen und schließlich, durch etwas Dickicht und Unterholz, an den Fuß des Quer-Berges. Es war still, hier - die meisten Krieger jagten auf den Wiesen, nicht hier, wo so viel Laub auf dem Boden lag. Es war schwerer zu jagen, wenn man bei jedem Schritt raschelte - und es war schwer, hier herumzuschleichen. Sie hatte Tupfenherz noch nie an diesem Ort gesehen, von ihrem seltsamen Gespräch neulich einmal abgesehen. Nicht einmal Tannenblüte.
Eigentlich war Spatzenflügel der Einzige, der jemals auf diesen Berg geklettert war. Das war kurz vor seiner Krankheit gewesen, und er war zurückgekommen und hatte gesagt: »Nie wieder. Ein furchtbares Durcheinander, nicht einmal Mäuse trauen sich dort hoch«, obwohl Mäuse ja bekanntlich nicht die mutigsten Tiere waren. Und er war auch nie wieder dorthin gegangen. Das war sein letzter Tag als Krieger gewesen.
»Ich habe nachgedacht«, sagte sie.
»Wenn du das so sagst, scheint das ja nicht oft zu passieren.« Sturmpfote legte den Kopf in den Nacken und sah den Berg hinauf. »Ich hoffe, es war etwas Wichtiges. Ich will den Quer-Felsen nämlich nicht umsonst hochgeklettert sein.«
»Es ist wegen Schatten.«
Er hatte offenbar einen Weg gefunden und sprang nun auf den ersten Vorsprung. »Mhm«, sagte er von oben. »Hat Schatten uns nicht gesagt, wir sollten die Pfoten davon lassen?«
»Hat er.« Sie sprang auf einen anderen Felsvorsprung, nicht weit neben seinem. »Aber er kann die Katzen überhaupt nicht umgebracht haben.«
»Warst du dabei?« Sturmpfote atmete tief ein, spannte die Muskeln an und landete wieder etwas weiter oben.
»Natürlich nicht.« Sie folgte ihm, beide balancierten ein paar Schwanzlängen auf einem schmalen Streifen, »Aber er kann es nicht gewesen sein. Er ist viel zu ... nett. Außerdem hatte er keinen Grund, all die Katzen zu töten.«
»Braucht er den?« Er schätzte ab, ob er den nächsten Sprung schaffen würde. Von dort aus würde er in zwei Sprüngen auf den Fels kommen, von wo aus man bequem zur Spitze laufen konnte.
»... nein. Aber wenn er sie grundlos getötet haben sollte, warum hat er uns dann am Leben gelassen?«
»Weil er uns mag? Was weiß ich.« Er setzte an und landete geschickt auf allen vier Pfoten. Sie waren jetzt schon einige Meter über dem Boden, neben ihnen erstreckten sich die ersten Äste der Buchen.
»Aber er hat seinen Bruder doch auch gemocht.« Sie folgte ihm, landete aber nur mit drei Pfoten und rutschte mit einer ab. Ein paar Steinchen rollten von der Kante, rieselten herab und landeten mit einem dumpfen Rascheln auf dem Waldboden. »Und sein Bruder ist auch gestorben.«
»Vielleicht dachte jemand, sein Bruder sei der Mörder.« Sturmpfote drückte sich ab, landete etwas schief, rutschte ein wenig ab, konnte sich aber noch hochziehen. Oben angekommen, schüttelte er den Kopf. »Oder er konnte seinen Bruder nicht leiden. Oder was auch immer.«
»Aber er kann doch nicht den halben Clan umbringen, nur weil er wütend auf sie ist.« Ihr gelang der Sprung, sie war selbst überrascht darüber. Langsam wurden ihre Beine schwer.
»Hat er aber.« Sturmpfote zog sich den letzten Fels hinauf, kam keuchend zum Stehen und seufzte. »Was interessiert dich das überhaupt. Er will doch selbst nicht, dass wir darüber nachdenken.«
Vorsichtig duckte sie sich. Noch der eine Sprung, dann war es geschafft. Ihre Muskeln begannen zu schmerzen, jetzt, wo sie einmal darauf geachtet hatte.
Aber sie würde das schaffen. Noch der eine Sprung.
»Es geht mir um die Wahrheit«, sagte sie, setzte an und landete, halbwegs sauber, neben Sturmpfote. »Ich möchte, dass aufgeklärt wird, wer es war und wer nicht. Und ich will nicht, dass Schatten als Einzelläufer im Nirgendwo leben muss, wenn er unschuldig ist.« Sie straffte sich. »Es kann nicht Schatten gewesen sein. Er ist clever. Wenn er etwas macht, dann, um etwas anderes zu bekommen, und warum sollte er so viele Katzen getötet zu haben?«
»Um sie loszuwerden, vielleicht? Er hat auch Löwenfell getötet, um ihn loszuwerden.«
»Aber Lärchenfell nicht.«
»Damit jemand dem Clan sagen kann, dass Schatten nicht mehr lebt. Damit er seine Ruhe hat.«
»Warum sollte Lärchenfell dann gewollt haben, dass ich ihm das ausrichten lasse?«
Sturmpfote blinzelte. »Er hat dir das gesagt, damit du weißt, dass Schatten noch lebt.«
»Nein. Er hat mir gesagt, der Schatten sei tot.« Sie straffte sich. »Und ich sollte dem Schatten sagen, dass der Clan glaubt, er sei tot. Das wäre ja überhaupt nicht nötig gewesen, wenn Schatten Lärchenfell gezwungen hätte, das im Clan zu verbreiten. Oder?«
Sturmpfote kniff die Augen zusammen. »Vielleicht wollte er irgendetwas anderes. Einen Freund haben. Sich beliebt machen. Was weiß ich. Warum interessiert dich das so sehr?«
»Weil ich die Wahrheit wissen möchte.«
»Er meinte, es gebe keine Wahrheit.« Er trat einen Schritt näher. Sie stand noch immer an der Kante, der einzige Weg davon weg war auf Sturmpfote zu.
»Dann eben die Wirklichkeit«, sagte sie. »Ich will, dass kein Unschuldiger darunter leidet, was jemand anderes getan hat.«
»Er hat uns davor gewarnt«, sagte Sturmpfote. Er kam noch einen Schritt näher. Sie waren sich jetzt so nah, dass nur ein Birkenblatt zwischen ihre Nasen gepasst hätte. »Er meinte, es wäre gefährlich, anderen Katzen ihre Wahrheit zu nehmen.«
»Was machst du da?« Sie blinzelte, rückte ein ganz kleines Stückchen weiter von ihm weg, so weit eben, wie sie noch wegrücken konnte. Er kam ihr sofort nach. »Sturmpfote?«
»Ich müsste dich nur anstoßen, und du würdest dort herunterfallen.« Er sah ihr in die Augen. »Weißt du, was dann passieren würde? Du willst es gar nicht wissen. Es geht ziemlich tief herunter.«
»Katzen landen immer auf vier Pfoten.«
»Auch das bringt dir nicht viel, wenn du dir alle vier Pfoten brichst.« Er kniff die Augen zusammen. »Wenn dich jetzt ein Krieger stoßen würdest, wärest du schneller tot, als du bis drei zählen kannst. Und es würde aussehen wie ein Unfall. Weißt du, was ich dir damit sagen will?« Er kam noch einen Schritt näher.
Sie schüttelte den Kopf. Hinter sich konnte sie die Leere des Abgrunds spüren.
Stille.
»Ich will dir sagen, dass du nicht sicher bist. Du bringst dich schneller in Gefahr als du denken kannst. Wir bringen uns schneller in Gefahr als du denken kannst.« Sturmpfote trat zurück und wandte sich ab. »Und ich will noch nicht sterben.«
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