2. Ruhe vor dem Sturm
»Na, Weidenpfote?« Es war Spatzenflügel, der sie zuerst sah. »Nicht so viel-«, dann sah er Lärchenfell und verstummte; nicht für lange Zeit. Spatzenflügel war jemand, der nicht lange nach Worten suchte. »Lärchenfell, mein Junge. Wo warst du denn nur?« Mühsam erhob er sich, schleppte sich mit aller Kraft zu dem jungen Kater. »Wir haben uns Sorgen gemacht! Wo ist dein Bruder?«
Der Clan war schneller als Lärchenfell. Aus ihren Bauen stürzten Katzen, schneller als Blitze.
»Er ist zurück!«, rief der erste.
»Lärchenfell ist zurück!«
»Lärchenfell?«
»Er ist da! Er ist wieder da!« Und so weiter.
Erstaunlich, fand sie, wie man über einen Viertelmond interessant werden konnte. Über einen Viertelmond, an dem man nicht einmal da gewesen war - würden sie auch so reagieren, wenn sie so lange weg gewesen wäre?
Unbemerkt sah sie sich um, konnte aber niemanden entdecken, zu dem sie sich hätte stellen wollen. Tupfenherz war da, im Schatten; wie immer. Er musterte sie. Sie musterte zurück. Er musterte weiter, sie wich aus. Kurz herrschte Stille zwischen beiden, dann trabte er zu ihr herüber.
»Hey.«
Sie war sich nie ganz sicher, was sie darauf antworten sollte. Was antwortete man schon auf »Hey«? »Hey«? »Tut mir leid, dass ich einfach so verschwunden bin«, sagte sie stattdessen. »Ihr habt euch sicher Sorgen gemacht.«
Immer mehr Katzen kamen aus ihren Bauten, und alle attackierten sie ihn mit ihren Fragen. Überall Miauen. So schön es war, endlich wieder Leben im Lager zu haben - langsam wurde es ihr unangenehm.
Und Tupfenherz sprach leise. Sie musste sich anstrengen, um ihn in dem Gewimmel um sie herum verstehen zu können. »Schon in Ordnung. Ich weiß ja, dass du auf dich aufpassen kannst.« Er lächelte; Tupfenherz hatte so eine Art zu lächeln, eine ganz eigene, besondere Art, ein wenig schelmisch; wie ein Junges, das den Anführer ausgetrickst hatte. »Aber erzähl das nicht Steinpelz. Er war ganz außer sich, als hörte, dass noch eine Katze verschwunden ist.« Er nickte in Lärchenfells Richtung und sprach wieder etwas lauter. »Wo hast du ihn denn aufgegabelt?«
»Im Lärchenwald.«
Tupfenherz hielt inne. Es war ihnen verboten worden, den Lärchenwald zu betreten; aber er sagte nichts dazu, sondern meinte nur: »Oh. Das ist ja ein lustiger Zufall.«
Sie lächelte matt. Er seufzte.
»Wollen wir uns vielleicht eine Maus teilen?«
Wenn sie ihm ganz tief in die Augen sah, konnte sie sich selbst in der Spiegelung erkennen. Unheimlich. »Oh. Ich hatte Spatzenflügel versprochen...«
»Schon okay. Aber iss etwas. Du musst ein bisschen zunehmen.« Der Kater knuffte ihr in die Seite. »Wir wollen schließlich nicht, dass du erfrierst, wenn es kalt wird.«
Sollte sie darauf etwas antworten? Besser nicht. Vorsichtig stand sie auf. Das Lager hatte sich mit Katzen gefüllt, alle waren sie aus ihren Bauen gekommen und umkreisten Lärchenfell mit den immer gleichen Fragen - der Arme. Alle sprachen sie durcheinander und hörten sich nicht zu.
»RUHE!«, rief Wolfsstern - vergebens. »JETZT HALTET DOCH EINFACH ALLE MAL DIE SCHNAUZE!«
Niemand reagierte. Langsam bekam sie Angst, das Chaos könnte ausbrechen und alles verschlingen, was noch übrig geblieben war, vom Lager.
»Seid leise«, sagte Lärchenfell, und es war still.
So still sogar, fast hätte sie sich fast das Chaos zurückgewünscht. Man konnte seinen eigenen Atem hören, so still war es, und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass auch alle auf ihren Atem lauschten.
»Danke, Lärchenfell.« Mit einem eleganten Schwanzschnippen versuchte der Anführer, seine Autorität zurück zu gewinnen. Jetzt hörten sie schon mehr auf diesen Wegläufer als auf ihn! Auf ihn, den glorreichen Anführer, ihn, der sie aus den Schatten geführt hatte, ihn, der sie gerettet hatte vor dem Schatten! Der diese Bestie vertrieben hatte! »Du bist wieder zurück«, sagte er. »Wo warst du.«
»Jenseits des Flusses. Ich wollte den Schatten töten.«
Gemurmel stieg auf, doch es verstummte, als Lärchenfell den Kopf senkte. Den Schatten konnte man nicht töten. Weidenpfote wusste nicht viel über ihn, aber sie wusste, dass er eine Katze war, im Nirgendwo lebte und dass man ihn nicht töten konnte. Und dass er der Grund war, wieso sie nicht im Lärchenwald jagen durften.
»Löwenfell und ich wollten den Schatten töten.« Sein Blick wurde trüb. »Gemeinsam«, fügte er hinzu. Dann sagte er eine Weile nichts mehr, und niemand anderes sagte etwas.
Stille hing wie eine Wolke über dem Lager, eine Wolke, die sich jeden Moment zu regnen beginnen könnte.
Stille.
»Er ist tot«, sagte er.
Wolfsstern biss die Zähne zusammen. Die Wolke über dem Lager zog sich zusammen. Gleich würde es geschehen. »Wer ist tot? Lärchenfell, wer ist gestorben?«
Lärchenfell sagte nichts. Er blickte um sich und warf einen Blick in den Himmel. Auch er sah die Wolke, auch er sah, wie dunkel sie war, und er sah auch, dass ihm keine Zeit mehr blieb, dass er keine Wahl hatte. Aber er zögerte; er hatte nicht mehr vor, sich drängen zu lassen, er hatte nun alle Zeit der Welt. Zeit war auf seiner Seite, nicht auf ihrer; er wollte sich nicht mehr hetzen lassen. Egal, wie sehr er sich hetzte, es würde die Toten nicht mehr lebendig machen.
Und es hatte genug Tote gegeben.
Er warf einen weiteren Blick in den Himmel. Wenn er jetzt sprach, würde der Regen einsetzen, und der Regen würde lange dauern. Es würde ein Sturm sein; ein Sturm, der nach und nach alles mit sich riss, alles zerstörte, was er liebte; aber wenn er stark genug war, würde er auch das zerstören, was er hasste. All das, was er hasste.
Noch hatte der Sturm nicht begonnen. Die Sonne schien auf das Lager, brannte die Schönheit in seinen Pelz und ließ ihn innehalten - er war frei und er war sicher. Ein paar Augenblicke noch. Nur noch ein paar Augenblicke.
»Lärchenfell?«
Ein erster Donner, ganz in der Ferne.
Er sah auf. Aus dem Himmel schwebte etwas auf ihn zu; erst weit in der Ferne, dann immer näher. Ganz klein war es, und es tänzelte durch die Luft wie ein Blatt im Herbst. Sanft landete die Schneeflocke auf dem Boden.
Der Winter hat begonnen, sagte eine Stimme in seinem Kopf.
»Wer ist gestorben?«, fragte Wolfspelz. »Wer?«
Lärchenfell sah ihm in die Augen. »Löwenfell«, sagte er. »Und der Schatten.«
Und dann begann der Sturm.
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