19. Nicht mehr und nicht weniger

»Oh. Weidenpfote.« Farnblatt trat aus dem Heilerbau und stellte sich ihr in den Weg. »Was suchst du denn.«

»Nur...« Sie versuchte, hineinzusehen, aber Farnblatt versperrte ihr die Sicht. »Ich wollte mit Sturmpfote sprechen«, sagte sie. Wozu lügen? Er war ihr Freund, sie durfte mit ihm sprechen, wann sie es wollte.

»Sturmpfote hat gerade keine Zeit.«

»Wofür habe ich keine Zeit?«

»Wir wollten gerade in den Wald aufbrechen und Kräuter sammeln.«

Weidenpfote seufzte. Sie hatte lange nachgedacht, über Schatten und über das, was er alles war und nicht war - und über Lärchenfell, und was er gesagt und was er nicht gesagt hatte; sie hatte lange nachgedacht, so lange, bis ihr Kopf schmerzte, und sie war zu dem Schluss gekommen, mit Sturmpfote reden zu müssen, bevor sie es vergaß. Und das Vergessen rückte jeden Atemzug etwas näher, es war ihr auf den Fersen, sie fühlte bereits seinen eisigen Hauch im Nacken ... nein, auf gar keinen Fall würde sie sich jetzt von Farnblatt ablenken lassen.

Was würde Tupfenherz tun?

»Das ist doch fantastisch! Ich muss erst heute Abend wieder auf Patrouille.« Wieder mit Buchenpelz. Die Vorstellung gefiel ihr nicht. »Ich kann mit Sturmpfote die Kräuter sammeln gehen, und du kannst dich ein wenig ausruhen.«

Stille.

Die Heilerin kniff die Augen zusammen, ganz offenbar überlegte sie, ob das wirklich die Weidenpfote gesagt hatte, die sonst niemals widersprach - ja, es war dieselbe Weidenpfote. Nicht die gleiche, vielleicht, aber immer noch dieselbe.

Hilfe. Das Junge wird erwachsen, dachte sie, seufzte und zuckte mit dem Schwanz. »Sturmpfote?«

»Ja?«

»Schau nach, ob du ein paar Gänseblümchen findest. Oder Spitzwegerich. Die letzten paar Tage waren nicht so kalt, vielleicht findest du etwas auf dem Quer.«

Er blinzelte. »Es ist Blattleere. Es liegt Schnee.«

»Wenn du mal richtig hinschauen würdest, würdest du merken, dass auf dem Quer keiner liegt.« Sie schnippte verärgert mit dem Schwanz. »Aber seid bei Sonnenuntergang wieder zurück. Spätestens.« Sie verzog die Schnauze. »Wenn nicht mit Blättern, dann wenigstens mit Mäusen.«

Ein wenig irritiert, mit halb gesträubtem Fell schlich Sturmpfote heraus, während Farnblatt schnaubte, den Kopf schüttelte und leise und etwas wütend vor sich hinmurmelnd wieder im Heilerbau verschwand.

»Wie hältst du das eigentlich aus.« Weidenpfote sah ihr hinterher.

Er zuckte mit den Ohren. »Wolltest du mit mir über Farnblatt sprechen?« Elegant schob er sich an Weidenpfote vorbei, wartete kurz, bis sie ebenfalls losgehen konnte, und trabte durch den-

Schrei. Angst; Panik. Pelze, Pfoten, Herzrasen, ein Schrei, ein stummer Schrei, Schmerz, Stille. Jemand packte sie, riss sie mit sich und-

Weidenpfote schrak auf, taumelte zurück. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust, sie schnappte nach Luft, sah sich um - doch der Schnee lag wieder auf der Lichtung, keine Katzen waren hier, nur weißer Schnee, Schnee, der eben nicht hier gelegen hatte, und-

Nein. Nicht sie. Bitte, nicht, nicht sie, nicht ihr Junges, nicht heute, nicht jetzt, noch nicht,

Tränen stiegen in ihr auf. Tränen, so viele Tränen, sie wusste gar nicht, woher sie plötzlich alle kamen, sie fühlte sich traurig, so unendlich traurig, sie wusste nicht, woher all ihre Trauer plötzlich kam, sie wusste nicht einmal, wer damals...

Sie schloss die Augen und weinte. Um wen, konnte sie nicht sagen. Sie weinte einfach. Jemand war gestorben, und jetzt stand sie mitten im Lager und weinte, weil jemand gestorben war und weil es furchtbar war zu sterben und weil sie es nicht verdient hatte, sie hatte es nicht verdient zu-

Sie weinte gar nicht. Sie sah auf - alles war wie zuvor: die Stille, ein, zwei Katzen, die sich eine Maus teilten, ...

Hier war nichts; alles war wie immer. Hier war nichts.

Nicht mehr.

»Weidenpfote?« Er war stehen geblieben, drehte sich um und sah sie an. »Wir sollten uns beeilen.«

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