17. Jagd nach der Wahrheit

»Lektion eins?«

»Mäuse fangen sich nicht von allein.«

»Genau. Du musst etwas dafür tun. Vor Allem musst du damit aufhören, Sachen zu tun. Denken, zum Beispiel.« Buchenpelz schnippte ihr mit dem Schwanz über das Ohr. »Denker sind keine guten Jäger. Tupfenherz ist ein Denker. Sturmpfote ist ein Denker. Du bist ein Denker. Keiner von euch ist ein guter Jäger.«

Weidenpfote nickte. Sie hatte das unangenehme Gefühl, wieder eine ganz, ganz kleine Schülerin zu sein, die alles von Anfang an neu lernen musste - was nicht unbedingt der Fall war. Natürlich, sie war eine miserable Jägerin. Jagen gehörte eben nicht zu ihren Stärken. Kämpfen auch nicht; wenn sie so darüber nachdachte, hatte sie eigentlich gar keine richtigen Stärken.

Hatte Tupfenherz die Hoffnung aufgegeben, oder wollte er ihr eine zweite Chance lassen? Am Ende dachte er noch, es sei seine Schuld, dass sie nichts konnte.

... sie biss die Zähne zusammen. Vielleicht war es doch gar nicht so schlecht, es von der besten Jägerin des Clans zu lernen. Vielleicht würde das etwas ändern. Sie zweifelte daran, aber versuchen konnte man es.

»Du musst auf deinen Instinkt hören. Ganz aufhören zu denken. Du musst die Augen schließen, und wenn du sie öffnest, musst du jemand anderes sein.« Buchenpelz sah ihr ins Gesicht. »Wenn du eine Maus fangen willst, musst du schneller sein als sie. Wenn du denkst, verschwendest du diese Zeit, und die Maus entkommt. Was, glaubst du, denkt ein Falke, wenn er eine Maus fängt? Weißt du, wie ein Falke jagt?«

»Im Sturzflug.«

»Glaubst du, ein Falke hat Zeit, darüber zu grübeln, wann er die Maus packen soll?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Also, Lektion zwei: Um eine Maus zu fangen, darfst du nicht grübeln.« Buchenpelz straffte sich. »Was hat dir Tupfenherz zum Anschleichen beigebracht?«

Ein Test. »Das Übliche. Ducken, Schwanz unten haben, Pfoten vorsichtig aufsetzen, ... auf die Windrichtung achten...«

»Der Weg eines Denkers.« Sie nickte. »Das ist gut. Ich zeige dir den Weg eines Jägers. Lektion drei: Der Biss tötet die Maus, nicht das Anschleichen. Man kann der beste Anschleicher des Waldes sein und trotzdem ein miserabler Jäger werden.« Sie neigte den Kopf, ließ das ›Wie Tupfenherz‹ aber aus. »Alles, was du machst, muss sich darauf ausrichten, dass du die Maus beißt

Weidenpfote nickte langsam. »Wie soll ich aufhören zu denken?«

»Indem du alles, wirklich alles darauf ausrichtest, die Maus zu fangen. Es muss das Wichtigste auf der Welt sein, in diesem Moment. Es ist alles, woran du denkst, und alles, woran du denken musst.« Die Kriegerin senkte die Stimme. Ihre Ohren richteten sich in eine Richtung, ihre Augen ebenfalls. »Willst du es versuchen?«

Etwas unsicher prüfte sie die Luft. Versuchte, alle Gedanken zu verdrängen - erstaunlich viele Gedanken waren plötzlich da, in ihrem Kopf: Gedanken an Schatten, an Sturmpfote, an Tupfenherz und selbst an Tupfenherz' Junge; an das Gespräch mit Schatten, an Lärchenfell; an den Vorfall im Heilerbau ... Sie schloss die Augen. Vielleicht sollte sie diesen Bau einfach in Zukunft meiden. Ja, das würde sie tun. Bestimmt war es aber auch nur Zufall, dass sie diese seltsamen ... ja, was war es überhaupt?

So. Jetzt war alles gedacht, jetzt konnte sie ja damit aufhören. Vorsichtig duckte sie sich, versuchte, das Tier vor ihnen zu erkennen: eine Maus.

Sie prüfte die Luft. Die Kälte des Schnees stieg ihr in die Nase, eine seltsam durchdringende Kälte, als würden sie jeden, der sie spürte, zu Kälte verwandeln wollen. Sie zitterte auf einmal, sträubte das Fell bei dieser Vorstellung und versuchte, sich wieder auf die Welt vor sich zu konzentrieren. Beute jagen. Genau das sollte sie jetzt tun. Jagen. Möglichst viel, möglichst schnell und möglichst, ohne zu denken.

Tupfenherz.

Sie hielt inne. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Irgendetwas wusste er. Irgendetwas war mit ihm und seinen so grünen Augen. Sie waren nicht grüner gewesen als sonst, sie waren überhaupt nicht anders gewesen als sonst, und trotzdem waren sie ihr jünger vorgekommen als zuvor. Irgendetwas war mit ihm geschehen.

Irgendetwas.

Hatte er vielleicht herausgefunden, dass Schatten noch lebte, und deshalb...? Hatte es etwas mit ihr zu tun, dass er Buchenpelz schickte? Wollte er nicht mehr mit ihr reden?

Nein. Tupfenherz war nicht so. Er dachte nicht so.

Stopp, sie sollte ja nicht mehr nachdenken. Die Maus.

So etwas ähnliches hatte Schatten auch gesagt. Er hatte gesagt, das würde sie noch einmal in Gefahr bringen; aber sie hatte nicht das Gefühl, er hätte damit von Buchenpelz gesprochen.

Lärchenfell hatte sie auch daran hindern wollen. Er hatte ihr eine Lüge erzählt, ihnen allen, und sie sollte sie weitererzählen.

Und dann noch das mit den seltsamen-

Ein Schauder lief ihr über den Rücken, ihr Fell sträubte sich, als wäre ihr das Blut in den Adern gefroren, als hätte sich ihr Körper in Eis verwandelt.

Nein. Nein, nein, nein, das musste Zufall sein. Bloßer Zufall. Die Maus. Die Maus, das war real. Sie musste jetzt diese Maus fangen. Wo war sie? Ah, dort hinten. Sie war immer noch da.

Die Schülerin prüfte die Luft. Hatte sie das nicht eben schon getan? Egal, nicht so wichtig. Die Maus war immer noch da. Ducken, Schwanz runter, vorsichtig auftreten, auf die Windrichtung achten. Leise setzte sie eine Pfote vor die andere, ganz leise. Der Biss tötet die Maus. Ihre Augen fixierten sie. Der Biss. Der Biss. Biss. Biss. Biss. Beißen. Gebissen. Beißen werden. Es wurde schwer, nur daran zu denken. Biss. Beißen. ... bissig. Sie kniff die Augen zusammen, spannte die Muskeln an und versuchte, an nichts anderes mehr zu denken.

Der Biss. Zubeißen. Totbeißen.

Wer hatte all diese Katzen getötet.

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