15. Ein Strich in der Landschaft
»Weidenpfote.« Schatten zuckte mit den Ohren. Er wirkte überrascht - so überrascht jedenfalls, wie jemand wie Schatten wirken konnte -, dann schnippte er mit dem Schwanz. »Die Kunst des Wartens scheint ausgestorben zu sein. Ihr wollt immer alles gleich haben.« Er seufzte. »Manchmal habt ihr Recht. Nicht immer, aber manchmal. Zeit ist wie Schnee. Sie schmilzt, egal, was wir tun.«
Sie blinzelte, sagte aber nichts.
»Lass mich raten. Du bist nicht gekommen, um dir meine Lebensweisheiten anzuhören.« Der Kater setzte sich und musterte sie. »Wind, kannst du unserem Gast vielleicht einen Fisch fangen? Das wäre sehr nett.« Er nickte ihr zu. »Du bist zu dünn. Dünne Katzen überstehen den Winter nicht. Die Blattleere«, korrigierte er.
»Ich esse nicht zu wenig. Ich nehme einfach nicht zu«, verteidigte sie sich.
»Jede Katze nimmt zu, wenn sie genug isst.« Er folgte Wind mit den Augen, der sich zur Flachen Stelle aufmachte. Sie saßen unter der Alten Weide. Der Boden war kalt, hier, als wäre er gefroren. »Es hat also angefangen?«
Weidenpfote wich zurück. »Was hat angefangen?«
»Na, irgendetwas muss ja angefangen haben, sonst wärest du nicht hierher gekommen.«
»Vielleicht wollte ich euch auch einfach nur wiedersehen.«
Schatten blinzelte. »Mit Verlaub: Ich glaube nicht, dass wir uns das letzte mal derartig gut verstanden haben. Abgesehen davon wird dich diese Denkweise noch in Schwierigkeiten bringen, weißt du das?«
Sie antwortete nicht.
»Schon besser. Wo waren wir stehen geblieben? Richtig. Es hat also angefangen.« Er musterte sie eindringlich, mit diesem hellen, blauen Augen, die alles und jeden zu durchleuchten schienen. »Belass' es dabei. Weich' den Dingen aus. Weißt du, wie ich es so lange überlebt habe, während fast zwanzig Katzen in der Umgebung meinen Tod wünschen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe es dabei belassen. Ich bin ihnen ausgewichen, und sie haben mich in Ruhe gelassen. Ich würde gern sagen, sie hätten mich vergessen, aber das ist wohl unmöglich. Darum geht es aber gar nicht - es geht nicht darum, zu vergessen. Man muss nur jemand werden, der vergessen werden kann. Weil die Vergangenheit keinen Einfluss mehr auf die Gegenwart hat.«
»Warum hat Lärchenfell gelogen? Warum hat er dem Clan gesagt, du wärest tot? Wo ist Löwenfell?«
»Löwenfell ist tot.«
»Hast du ihn getötet?«
Schatten sah sie lange an. Fast dachte sie, er würde gar nicht mehr antworten, dann meinte er: »Ja, das habe ich. Es war ein Unfall. Er wollte mich töten. Ich habe ihn besiegt, gab ihm eine zweite Chance. Er griff noch einmal an.« Der schwarze Kater peitschte mit dem Schwanz. »Also besiegte ich ihn noch einmal. Und noch einmal und noch einmal. Er hat es einfach nicht gelernt.« Er sah ihr in die Augen. »Bist du gekommen, um dir das anzuhören? Wie dein Clan-Gefährte gestorben ist? Um mit dem Mörder zu sprechen?« Er schüttelte den Kopf. »Du solltest damit aufhören, Kleine. Du hast noch ein Leben vor dir. Beschäftige dich nicht zu sehr mit dem Tod, das frisst dich nur auf.« Er zuckte mit den Schnurrhaaren. »Und an dir gibt es wenig aufzufressen, so dünn wie du bist. Weißt du, woran deine Mutter starb?«
Sie wich zurück.
»Gut. Pass auf dich auf. Das nimmt dir niemand ab.« Er überlegte einen Moment. »Habe ich das schon gesagt? Wie auch immer. Möchtest du noch mit uns essen?«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Ich weiß. Das hat man selten, wenn man sich fühlt, als würde man zerrissen werden.« Er zuckte mit den Ohren. »So fühlt es sich doch an, nicht wahr? Schau nicht so. Natürlich weiß ich das; ich bin nicht blind. Nicht so blind wie die meisten, zumindest. Nicht so blind wie du.« In einer schwungvollen Bewegung stand er auf, drehte sich und schnippte mit dem Schwanz. »Na, komm schon. Wir fangen dir einen Fisch und danach kannst du wieder zurückgehen. Es dürfte sogar noch für die Abendpatrouille reichen, wenn wir uns beeilen.«
»Es kommt wieder, nicht wahr?«
Schatten hielt inne. »Ändert das etwas?«
Sie sah auf den Boden.
»Du musst keine Angst haben. Es ist nur in deinem Kopf. Und vor Dingen, die nur in deinem Kopf sind, musst du niemals Angst haben - deshalb ist es ja dein Kopf, und nicht der eines anderen.« Er lächelte. »Komm, Kleine. Ich kenne ein sehr gutes Rezept gegen schlechte Erinnerungen, und ich glaube, du hast Glück: Wir wohnen direkt neben der Quelle.« Er hielt inne, drehte sich um und musterte sie kritisch. »Kannst du fischen?«
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