12. Schall und Rauch
»Weidenpfote.«
Sie zuckte zusammen. Ihr Plan war gewesen, sich unbemerkt vom Ältestenbau in den Schülerbau zu schleichen, ganz still und leise, ohne dass es jemand bemerkte. Sie hätte es fast geschafft.
Fast.
»Weidenpfote.«
»Tupfenherz.« Vorsichtig drehte sie sich um. »Es tut mir leid, ich wollte nicht...«, stopp. Wenn es etwas gab, das sie jetzt auf gar keinen Fall tun durfte, dann, zu viel zu verraten. »... so lange wegbleiben.«
Er stand ein wenig weiter weg von ihr, vor der Kinderstube. Offenbar zögerte er, ganz hinauszutreten, drehte sich noch einmal um, warf einen kurzen Blick auf Tannenblüte - dann tappte er zu ihr herüber. Anders als erwartet, blieb er aber nicht vor ihr stehen, sondern schnippte mit dem Schwanz und deutete im Traben auf den Lagerausgang. »Lass uns einen Spaziergang machen.« Keine Frage. Das war eine Aufforderung.
Vorsichtig folgte sie ihm. Ihre Pfoten tippten leise auf den Waldboden, ansonsten war es still; der Wind wehte über die Welt, aber er wehte lautlos. Nur in der Ferne konnte sie Stimmen hören: eine heimkehrende Patrouille. Tupfenherz wählte die andere Richtung. Als sie weit genug weg waren, drosselte er sein Tempo allmählich. Sie waren am Quer angelangt; ein querliegender Hügel, nicht weit vom Lager entfernt, aber ein ungünstiges Jagdgebiet. Über ihnen raschelten leise die übrig gebliebenen Skelette der Buchen.
Vorsichtig sah sie sich um. Mondlicht fiel auf den schneekalten Boden; er wirkte dunkler, jetzt, wo sie ihn mit Schnee gesehen hatte, obgleich der Schnee längst wieder getaut war. Der Wind war hier fast versiegt, abgebremst von den vielen, kargen Stämmen des Waldes - des letzten Bisschen Sommers, das noch geblieben war.
»Wo warst du heute?« Er drehte sich um. Im schwachen Licht wirkte selbst das Weiß in seinem Fell ungewohnt Dunkel; nur seine Augen leuchteten. Grüne, leuchtende Augen in der Finsternis.
»Im Lärchenwald. Ich habe doch gesagt-«
Tupfenherz neigte den Kopf, sofort verstummte sie. Eine Weile standen sie so da, dann blinzelte er. »Weißt du«, sagte er, »ich höre nicht alles in diesem Wald. Und ich sehe auch nicht alles.« Seine Ohren zuckten. »Aber denkst du wirklich, ich würde es nicht mitbekommen, wenn meine Schülerin in den Fluss fällt und fast ertrinkt?« Er sah ihr in die Augen. »Meinst du nicht, es wäre besser, mir zu vertrauen, statt Geheimnisse vor mir zu haben?«
Stille. Er wartete ein paar Augenblicke auf eine Antwort, dann setzte er sich.
»Du warst also auf der anderen Seite«, sagte er.
»Woher weißt du das?«
»Warum warst du dort? Um den Schatten zu suchen?«
»Der Schatten ist tot.«
Er sah sie forschend an. »Sagt Lärchenfell.«
»Ja.«
»Und? Ist er das?«
»Ich habe ihn nicht gefunden.«
»Du warst also wirklich dort.« Er nickte sich selbst zu. »Und wen hast du gesucht? Der Schatten scheint es jaa nicht gewesen zu sein.«
Sie antwortete nicht. Tupfenherz seufzte.
»Ich kann verstehen, wenn du Leuten misstraust.« Er lächelte matt. »Aber doch bitte nicht denen, die dir helfen möchten!«
Wobei helfen? Dieses Gespräch wurde ihr unheimlich. »Habt ihr schon Namen für eure Jungen gefunden?«
»Weidenpfote. Du weichst aus.« Er sah ihr lange in die Augen. Als sie immer noch nichts sagte - was hätte sie auch sagen sollen? -, seufzte er. »Wir haben noch keine Namen gefunden. Es ist ein furchtbares Desaster.«
Sie nickte, obwohl sie das Wort ›Desaster‹ noch nie gehört hatte. Hauptsache, er sprach nicht mehr über Wind. Oder über den Schatten. Oder über sonst irgendetwas, das sie nicht sagen wollte oder sagen sollte oder konnte.
»Sie wollte sie Bergjunges, Tigerjunges und Laubjunges nennen, aber das klingt wirklich furchtbar. Abgesehen davon passen die Namen überhaupt nicht zusammen.« Er stand auf und bedeutete ihr, dass ihre Sitzung jetzt vorbei sei und sie zurückgehen würden. »›Berg‹ und ›Tiger‹, das geht nicht. Ich finde, sie sollten schon etwas haben, das sie verbindet.«
»So wie ... Lärchenfell und Löwenfell? Beide mit L an Anfang.«
Er zögerte. »Eigentlich meinte ich das eher ... inhaltlich. Buchenpelz und Haselstreif, zum Beispiel. Buche und Hasel sind beides Bäume. Bei Berg, Tiger und Laub gibt es für mich keinen Zusammenhang.«
Sie nickte.
»Außer vielleicht ... dass es drei Dinge sind, die beim Jagen stören.« Er lächelte mild, beließ es aber dabei, als er merkte, dass sie nicht zurücklächelte. »Und dann sind es auch noch drei! Weißt du, wie schwer es ist, drei zusammenpassende Namen zu finden, die gut klingen und noch nicht benutzt wurden? Und passen müssen sie ja auch noch...«
Sie nickte wieder. So genau hatte sie das eigentlich gar nicht wissen wollen, aber sie war dankbar dafür, das Thema gewechselt zu haben.
»Dann meinte Tannenblüte, wir könnten sie ja Mausjunges, Eichhornjunges und Kaninchenjunges nennen. Aber ›Eichhornjunges‹ und ›Kaninchenjunges‹, das sind viel zu lange Wörter. Und ›Mausjunges‹ klingt nicht schön. Abgesehen davon passt keiner davon zu einer getigerten Katze, und es sind ja alle drei getigert.«
Sie nickte noch einmal. Sollte sie etwas sagen?
»... Außerdem möchte ich meine Jungen ja nicht nach Beute benennen. Das wäre ... ich weiß nicht. Gemein, vielleicht.« Er seufzte. »Also habe ich überlegt, sie vielleicht nach Bäumen zu benennen. Aber die schönen Baumnamen sind ja alle schon weg: Hasel. Buche. Weide«, er lächelte ihr kurz zu, »und Nadelbäume klingen immer so garstig. Kiefernjunges. Fichtenjunges. Herzlichen Dank, so will doch wirklich niemand heißen.«
»Tannenjunges«, sagte sie, er schnippte mit dem Schwanz.
»... das zählt nicht.« Kurz hielt er inne. »Aber gut aufgepasst. Wie auch immer. Sollen wir sie dann nach Blumen benennen? So viele Blumen kenne ich gar nicht. Abgesehen davon sind die wenigsten Blumen braun oder grau gestreift.«
Sie schmunzelte leise.
»Also haben wir überlegt, sie vielleicht nach Farben zu benennen. Aber die drei haben ja alle grüne Augen ... vermutlich.« Bei Katzenjungen konnte man die Augenfarbe erst später erkennen - bei zwei Eltern mit grünen Augen standen die Chancen auf grüne Augen allerdings ziemlich hoch. Und Tupfenherz hatte grüne Augen; große, grüne Augen, die in der Nacht leuchteten. Genau wie Tannenblüte, etwas dunkler, doch auch sie waren grün. »Aber ›Grünjunges‹ klingt natürlich nicht so gut wie Graujunges, zum Beispiel. Von ›Braunjunges‹ mal ganz zu schweigen. Selbst, wenn wir eins von ihnen ›Weißjunges‹ nennen, bleibt eins übrig.« Er blinzelte. »Zumal ›Weißjunges‹ auch irgendwie so klingt, als wäre es komplett weiß und nicht nur an den Pfoten.«
Nicken.
»Dann könnten wir sie natürlich nach Eigenschaften benennen. Flinkjunges, oder so. Aber bis sie irgendwelche Eigenschaften haben, dauert es ja noch ewig - und stell dir einmal vor, man hätte dich Kampfjunges genannt.« Er schnurrte, sie nicht. »... nein, am Ende passt das dann nicht, und das arme kleine Ding muss sein Leben lang einen falschen Namen tragen.«
»Und nach Mustern?«
»Fleckenjunges? Das klingt nach Fleckenfieber.« Was war Fleckenfieber?
»Streifenjunges, vielleicht.«
»Und Punktjunges. Und dann?« Er seufzte. »Wenn ich nicht Tupfenherz hieße, meinetwegen. Aber ich will meine Kinder nicht nach mir benennen. Es sind ja eigene Wesen.«
Sie nickte vorsichtig und bereute es, etwas gesagt zu haben.
»Ich habe auch schon überlegt, eins von ihnen Morgenjunges, eins Tagjunges und eins Abendjunges zu nennen, aber da war Tannenblüte dagegen. ›Es sind keine Tageszeiten, es sind Katzen‹, meinte sie. Winterjunges, Sommerjunges und Herbstjunges wollte sie auch nicht, weil das ›Streunerbegriffe‹ seien. Ich meine ... sind es ja auch. Aber es sind schöne Streunerbegriffe.« Er seufzte. »Also habe ich überlegt«, er blieb stehen. »Nicht so wichtig. So.« Er zwang sie, ebenfalls stehen zu bleiben und ihm in die Augen zu sehen. »Jetzt habe ich dir gesagt, was in meinem Kopf ist. Kannst du mir sagen, was in deinem vorgeht?«
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