Kapitel 18. Auf dem Rückweg

Er bemerkte es kaum. Spürte kaum, wie der Platzregen auf sein Fell fiel, wie sein Pelz binnen Sekunden an seinem Körper klebte, ihn herunterzog, tropfte und triefte, wie sich der Himmel verdüsterte und Nacht über die Welt hereinbrach, sternenlose, regenwolkige Nacht über ihn hereinbrach, er bemerkte es kaum.

Das heißt, er bemerkte es schon. Er bemerkte alles, was um ihn herum geschah, beobachtete es mit unruhig zuckenden Ohren und nervös umher huschendem Blick, er fing es auf, die harte Erde unter seinen Pfoten, an der die Tropfen aufschlugen und abprallten, hochspritzten und niederfielen, ehe sie sich darin sammelten, zu unzähligen in einer einzigen winzigen Pfütze auf dem Boden, die langsam versank, die Erde aufquellen ließ und sich tief darin versenkte. Nicht spurenlos, überhaupt nicht spurenlos, und wenige Augenblicke später fühlte er Schlamm an den Tatzen, Schlamm und Matsch und Erde und Regenwasser und alles an den Pfoten und am Pelz und im Gesicht und an den Augen und in den Augen und überall; was für ein grausames Wesen es doch nur war, der Regen, und wieso hatte man ihn ausgerechnet danach benannt.

Das kleine graue Junge schlüpfte unter dem Unterholz hindurch und schüttelte sich. Der Geruch von nasser Erde stach ihm in die Nase, ein ekelhaft rauer, kalter Geruch, modrig und unangenehm, der Wind zischte an den Stämmen vorbei, sauste und jaulte wie zehntausend Wölfe, fauchend, bellend, die Dunkelheit tat sich vor ihm auf, schattig schwarz, finster, wie ein Fuchs im tiefen Schatten versteckt.

Er war weit gekommen, an diesem Tag. Hatte sich den Sommersonnentag festhalten wollen und war nun in einer ewigen Nacht der Schatten gefangen, umringt von Düsternis und Gefahr. Und er wusste, das alles hätte niemals geschehen müssen, niemals hatte sein viel zu kurzes Leben ein solches Ende nehmen müssen, niemals hätte er hierher gelangen müssen, in diesen Wald aus Nacht und Sturm, niemals hätte er hier sein müssen, wenn er nicht den Sommersonnentag gesehen hätte, die warme Sonne auf dem Pelz, wenn er sich nicht gesehnt hätte nach dem Nebel im Morgengrauen, nach dem wolkenlosen Wolkenhimmel, wenn er sich nicht nach der Welt gesehnt hätte, nach der wirklichen Welt, nach der Welt jenseits der Seinen, nach der Welt, in die er nicht gehörte, nicht jetzt und auch nicht später, niemals wirklich.

Nein. Er würde jetzt nicht aufgeben. Er würde sein Nest finden. Er würde seine Schwester wiedersehen und seine Mutter und seinen Papa, er würde wieder Otternases Geschichten lauschen und den Dornenwall sehen. Er würde ein Kriegerherz beweisen und laufen, laufen ohne stehen zu bleiben, laufen bis ans Ende der Welt und wieder zurück, wenn es nötig wäre, würde er überallhin laufen, egal, wie sehr seine Pfoten bei jedem Schritt schmerzten, egal, wie sehr ihm der Regen im Fell klebte und egal, wie sehr seine Augen ihm zuzufallen drohten vor Müdigkeit. Er würde laufen. Laufen und laufen und immer weiter laufen, bis er endlich ankam, und er würde keine Pause machen, ehe er sein Ziel erreicht hatte.

Er hatte den Tunnel gesucht. Auf der anderen Seite würde er sich ausruhen können. Egal, wo auf der anderen Seite, auf der anderen Seite wäre er sicher. Sicher im FlussClan-Territorium. Und dort würde ihn eine Patrouille finden und er wäre in Sicherheit – doch er hatte gesucht und gesucht und keinen Tunnel mehr gefunden.

Und dann hatte er sich gedacht: Warum so lange warten, wenn er doch einfach direkt über den Donnerweg gehen konnte? Natürlich, es war gefährlich – doch das war alles im Leben, und außerdem wusste er ja, dass es gefährlich war, und die größten Gefahren waren die, von denen man das nicht wusste, und da er es jetzt wusste, war es schon einmal nicht mehr die größte Gefahr. Also quasi gar nicht mehr so schlimm.

Der kleine Kater sah den Abhang herauf, der zu der Straße führte, und mit erschöpften, dennoch aber sehr entschlossenen Schritten schob er sich den kleinen Hügel hinauf, verharrte keuchend an der Spitze und rümpfte die Nase bei dem klebrig-ekelhaften Geruch, den die schwarze Oberfläche trotz Regen und trotz Nässe absonderte. Wasser, dreckiges, stinkendes Wasser sammelte sich in schmalen Rillen und strömte an seinen Pfoten vorbei, herab in den Graben, in den Wald.

Der schwarze Stein brannte unter seinen Tatzen, schürfte ihm die Ballen auf, er zuckte zusammen, verzog das Gesicht, schloss kurz die Augen und - lauschte.

Es war still. Bis auf das Prasseln und Plätschern und Strömen und Rinnen und Rauschen und Schlagen des Regens war es still, bis auf den heulenden, kratzenden, jaulenden, brüllenden, brausenden Wind war es still auf dem Donnerweg. Still und dunkel und stinkend, aber nicht gefährlich; eine schöne Art von Stille, voll und doch dezent, trotz der ekelhaft nassen und kalten Welt um ihn herum war die Stille schön, erfüllt vom Rauschen und Heulen, auf eine unbeschreibliche, nicht definierbare und äußerst irritierende Art und Weise angenehm.

Das Junge schlug die Augen wieder auf, fixierte die Grasfläche zwischen den breiten Straßen und tappte entschlossen darauf zu. Er fühlte die Schläge des Regens auf dem Pelz, den stechenden Schmerz an seinen Tatzen, sein Herz, das in seiner Brust trommelte, aber er versuchte, nicht daran zu denken, nein, in Gedanken war er in seinem Nest, ja, versunken in Moos, weichem, warmen Moos, eingehüllt vom Duft der Kräuter und der Milch, dicht gekuschelt an seine Mama, daran und nur daran musste er denken und dann würde alles gut. Er öffnete die Augen und fand sich in völliger Finsternis. In dieser düsteren, dunklen, unheimlichen, gruseligen, schauderhaften Sturmnacht ohne Sterne, ohne Licht, ohne irgendetwas, das die Schattenwelt um ihn hätte erhellen können.

Aber es war gar keine vollkommene Finsternis. Und es war auch gar keine sternenlose Nacht. Nein, da war ein Licht, ein kleiner Stern, als er näher hinsah, waren es sogar zwei, zwei kleine Sterne, und es kam ihm vor, als würden sie nur für ihn leuchten, die zwei kleinen Sterne - es kam ihm fast vor, als würden sie immer größer, ganz langsam, und für einen Moment blieb er stehen, betrachtete die zwei Sterne in der Ferne, die immer größer wurden, ihn erhellten und ihm für einen Augenblick, für einen ganz kleinen Augenblick nur, Wärme schenkten.

Die Welt hatte ihn verlassen, aber inmitten dieses düsteren Ortes, inmitten des Donnerweges, gab es ein Licht, das nur für ihn schien.

Und es kam immer näher.

Die Hoffnung kam immer näher.

Ach, seufzte er und blickte dem Schein verträumt entgegen, Träume können doch wahr werden.

Quietschen. Lärm. Krachen. Poltern. Blenden. Wirbeln. Ein Schlag. Fiepen. Blitze.

Er schrie auf.

Im nächsten Moment schlug er auf den harten Fels, schlitterte Schwanzlängen weiter, kippte über die Kante, überschlug sich, rollte den Abhang herunter, kam taumelnd zum Stillstehen und - starrte in den Himmel.

In diesem Moment fühlte er nichts; dann erstarrte er. Versuchte Luft zu holen, bekam keine - alles drehte sich, alles wurde dunkel - dann wieder hell - Lichtpunkte vor seinen Augen - er japste, hielt inne, hustete, jaulte auf vor Schmerz, gehustet zu haben, und dann darüber, gejault zu haben, sank zusammen, blickte ins Leere, alles, alles, alles tat ihm weh, er wusste nicht, ob er jemals größeren Schmerz gefühlt hatte als in diesem Augenblick, alles, alles...

»Du hast noch einmal Glück gehabt.« Eine raue Zunge leckte ihm kurz über den Hals, jemand stupste ihn mit der Nasenspitze an. »Was machst du denn auch hier? Wir haben dich überall gesucht.«

Er fing an zu weinen. Plötzlich waren die Schmerzen von den Schürfwunden doch nicht mehr so schlimm, der kalte Regen hatte sie ein wenig betäubt. Schluchzend rollte er sich zusammen, wollte sich an den warmen Pelz des Katers drücken, seinen Duft einatmen und nie, nie wieder die Augen öffnen müssen, nie, nie wieder diese Welt sehen, diese furchtbare Welt.

»Hier ist jemand.« Der Kater prüfte die Luft, scheiterte am Regen, an diesem furchtbaren Regen, der trotzdem so wunderschön war, mit einem mal. Genau wie die Dunkelheit so wunderschön war, plötzlich.

Eine Gestalt trat aus dem Schatten. Dicht gefolgt von einer zweiten. »Was machst du hier?«

Eine Kätzin. Regenjunges sah auf. Eine graue Kätzin, die sie mit skeptischem Blick musterte.

Der Kater neben ihm entspannte sich ein wenig. »Das gleiche könnte ich dich auch fragen.«

Für einen kurzen Moment musterten sich beide, dann trat die Katze von der anderen Seite heran und warf einen Blick auf Regenjunges. »Ich war auf Durchreise. Wegen des Treffens heute Nacht. Und dann hat Taubenpfote... ich ... ich wollte ja eingreifen, aber ... der Weg war so-« Sie schüttelte sich. »Egal. Warum bist du hier, Otternase? Bei Nacht, im DonnerClan-Territorium?«

»So etwas Ähnliches wie du.« Der Kater lächelte mild. »Ich war auf Nachtpatrouille und habe ihn gesehen. Mitten auf dem Donnerweg.« Dann wandte er sich an Regenjunges. »Das sind Luchsfell und Taubenpfote. Die Auserwählten des Donner- und WolkenClans, und sie haben dich gesehen und nichts getan. Jetzt steh' auf und wir gehen zurück.«

»Darf ich mich noch-«

»Nein. Und jetzt sei still. Wir sprechen nicht mit DonnerClan-Katzen.«

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