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(6. Juli 2023)
(Überarbeitet: 16.10.2023)

Tigerpfote

Die Vögel zwitscherten und im Lager herrschte inzwischen reges Treiben, da die meisten Patrouillen schon zurück waren. Tigerpfote bekam nichts davon mit. In Gedanken war sie noch immer bei Milo, während sie das Lager durchquerte um zu Springpfote zu gelangen. Seine gelb-grünen Augen gingen ihr einfach nicht aus dem Kopf und es fühlte sich so an, als würde er direkt neben ihrem Ohr mit ihr sprechen und versuchen sie davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagte.

Tigerpfote schnaubte. Selbst sie zweifelte jetzt schon daran, ob er wirklich die Wahrheit gesagt hatte, obwohl sie erst vor kurzem versucht hatte ihre Eltern davon zu überzeugen.
Ironisch, nicht wahr?
Dachsstreifs Worte echoten ebenfalls in ihrem Kopf nach. Erfolglos versuchte sie sie zu verdrängen, musste sich dann aber eingestehen, dass etwas Wahres daran sein könnte. In ihrem Hinterkopf hatte sie die ganze Zeit über schon Zweifel an Milos Glaubwürdigkeit gehabt. Aber Tigerpfote hatte nie zugelassen, dass diese Möglichkeit Gestalt annahm. Immer hatte sie das Gute in Milo gesehen und sich von seinen Verlusten und ihren Gefühlen ablenken und verweichlichen lassen. Aber sie wusste auch, dass sie Milo inzwischen zu gut kannte und mochte, um alles was er je gesagt und getan hatte zu vergessen und normal weiter zu machen.

„Hey, Tigerpfote! Aufwachen!", rief eine Stimme. Nur mühsam konnte Tigerpfote ihre Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt lenken und ihren Blick zu Springpfote heben.
„Mmh?", machte sie. Durch den Stock im Maul konnte sie nicht sprechen. Springpfote schnurrte mitfühlend und nahm ihr die Mäusegalle ab. Reflexartig holte Tigerpfote tief Luft, damit sie wieder frischen Sauerstoff in ihre Lungen bekam, der nicht von dem Gestank der Mäusegalle verpestet war.

„Hast du alle Zecken entfernen können?", wollte Springpfote wissen und schlüpfte wieder in ihre Heilerkatzen-Rolle. Tigerpfote nickte und starrte die Blätter neben der anderen Kätzin am Boden an. Sie schwiegen eine Weile, während Springpfote die Blätter sortierte und darauf achtete, dass sie sich nicht berührten.
„Glaubst du mir oder Milo?", fragte Tigerpfote plötzlich. Dabei sah sie die Heilerschülerin nicht an, sodass diese kurz brauchte, um zu erkennen, dass sie gemeint war.

„Ich glaube dir, aber ich weiß noch nicht wirklich, was ich von Milo halten soll. Ich habe ihn nur einmal gesehen", antwortete Springpfote und schaute Tigerpfote dabei fest in die Augen.
„Aber wenn du ihm glaubst, dann glaube ich ihm auch", fuhr sie fort und schob zwei Blätter auseinander. Tigerpfote seufzte.
„Ja und nein. Ich habe ihm geglaubt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher", maunzte Tigerpfote leise und ließ sie auf ihr Hinterteil fallen.
„Wieso?", gab Springpfote einfach zurück und setzte sich neben sie. Mit besorgtem und neugierigem Blick beobachtete sie Tigerpfotes Miene.

„Dachsstreif meinte, dass er ihm nicht glaubt und auf Distelsterns Seite ist", begann Tigerpfote und fuhr aufgebracht fort, bevor Springpfote sich eine Antwort überlegen konnte.
„Er ist sonst nie auf Distelsterns Seite, warum also jetzt? Was ist aber, wenn er recht hat und Milo einfach nur will, dass wir das Territorium verlassen, damit eine Streunergruppe es für sich beanspruchen kann?"
Springpfote wiegte mitfühlend den Kopf hin und her und legte ihren Schweif säuberlich über ihre Pfoten. Nachdenklich schaute sie durchs Lager.

„Ich glaube nicht, dass Milo so eine große Streunergruppe hat, die diese Territorien einnehmen könnte...", setzte sie an und unterbrach sich dann selbst. Springpfote legte sich hin und Tigerpfote tat es ihr gleich.

„Wenn, dann müsste Milo ein Spion oder so sein, aber auch das glaube ich nicht. Er wirkt dafür zu ehrlich", vollendete Springpfote ihren Gedanken endlich. Tigerpfote brummte etwas Zustimmendes, schwieg ansonsten aber. Lange Zeit sagte niemand der beiden etwas.

Die Sonne wanderte unterdessen zu ihrem höchsten Punkt und schien heiß auf das Lager herab. Die meisten Katzen verkrochen sich in die Schatten und genossen dort ihre Beute oder gaben sich die Zungen.
Jetzt bemerkte auch Tigerpfote wie müde und hungrig sie war. Bei dem Gedanken an Essen, lief ihr das Wasser im Maul zusammen und ihr Magen gab ein unüberhörbares Knurren von sich.

„Hunger?", fragte Springpfote und stand auf. Tigerpfote tat es ihr gleich und folgte ihr zur Frischbeutehöhle. Als die beiden die Höhle betraten, stieß Tigerpfote, die vorausgegangen war, beinahe mit Rabenpfote zusammen. Die jüngere schwarze Kätzin zuckte erschrocken zurück und machte ihr den Weg frei. Tigerpfote lief an ihr vorbei und die Geschwister verließen die Höhle.

„Was war das gerade?", wollte Springpfote wissen und blickte über die Schulter zurück zu der jungen Schülerin, die zusammen mit ihrem Bruder Staubpfote beim Fluss ihre Beute aß. Tigerpfote zuckte mit den Ohren und beschäftigte sich mit der Auswahl ihrer Beute. Auf dem Haufen lagen nur noch wenige Beutestücke. Die meisten Katzen hatten sich schon etwas ausgesucht. Auch Distelstern hatte schon ihre Beute erhalten. Tigerpfote wunderte es, dass Springpfote noch nichts gegessen hatte. Normalerweise brachten immer die Katzen, die Jagddienst hatten, den Heilern und dem Anführer Beute.
Schließlich fand sich Tigerpfote eine Amsel. Auch Springpfote suchte sich eine Amsel aus, jedoch eine, die etwas kleiner war. Hintereinander verließen sie wieder den Bau.

Die beiden gingen hinüber zu Staubpfote und Rabenpfote. Fragend schaute Tigerpfote die Geschwister an und deutete mit dem Schweif auf den Platz neben den jüngeren Schülern.
Rabenpfote nickte und Tigerpfote und Springpfote setzten sich zu ihnen.

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