26. Enttäuschend
»Ich bitte alle Katzen, sich in der Mitte des Lagers zu versammeln.«
Wolfssterns Stimme hallte durch das Lager wie das traurige Heulen eines einsamen Wolfs; er brauchte nicht lange zu warten, denn es hatten sich bereits alle Katzen eingefunden - wie Geister saßen sie um ihn herum, versteckt, zögernd, unsicher. Es war still, und die Stille war unheimlich. Lärchenfell schloss die Augen, in der Hoffnung, dahinter keine Vögel zu sehen, die ihn wegtrugen; stattdessen sah er Wind. Wind, diesen kleinen Kater; nur ein weiteres Opfer der Bestie, die ihr Leben schon so oft zerrissen hatte.
»Wir haben heute einen unserer besten Krieger verloren.« Der Anführer senkte den Blick und starrte zu Boden - er blinzelte oft; brauchte einen Moment, seine Stimme wiederzufinden. »Er war nicht nur ein Zweiter Anführer - er war auch ein guter Freund, ein guter Gefährte und ein guter Vater.« Er hielt inne, schluckte und schloss kurz die Augen. »Wir konnten uns immer auf ihn verlassen, in guten wie in schlechten Zeiten, und er war es, der uns durch diese schwere Zeit führte. Wir konnten ihn stets bei uns wissen, egal, wie groß die Gefahr war. Er hatte im Angesicht des Todes gekämpft wie ein Held...«, er rang nach den richtigen Worten, »... was auch immer kam, er hat uns davor beschützt; er stand an unserer Seite und zugleich hinter uns. Und er gab sein Leben für ein Junges, das er nicht kannte.« Der schwarze Kater senkte den Kopf. »Möge er im SternenClan seine letzte Ruhe finden. Möge er in ihren Reihen aufgenommen werden und beschützt sein.«
Die Sterne funkelten über der Lichtung. Einige Katzen sahen in den Himmel, einige weinten leise, einige starrten stumm geradeaus.
Es war totenstill.
»Er war der beste Zweite Anführer, den ich mir jemals hätte vorstellen können.« Wolfsstern senkte den Kopf und machte eine auffallend lange Pause. Er atmete schwer - Weichfell war einer seiner engsten Vertrauten gewesen, er hatte ihn geschätzt und hätte ihn mit seinem Leben verteidigt.
Lärchenfell sah auf und ließ seinen Blick über die Katzen schweifen, über jede einzelne.
Er sah zu Krähenflügel, die stumm in den Himmel sah, als suche sie dort jemanden.
Er sah zu Sturmwolke, der mürrischen, stillen Kriegerin, die nur stumm dort stand, als würde sie sich an jemanden erinnern, den sie vor langer, langer Zeit verloren hatte.
Er sah zu Nachtvogel, die zu ihr herüberblickte und ihr ein trauriges, stummes Lächeln schenkte.
Er sah zu Spatzenflügel, der einen alten Gefährten betrauerte.
Er sah Farnblatt, wie sie weinte; er hatte sie noch nie weinen gesehen, und sie wischte sich die Tränen weg, als sie sie bemerkte.
Er sah zu Sturmpfote und Hellpfote, die Seite an Seite in den Himmel sahen, wo vielleicht ihre Eltern waren.
Er sah zu Weidenpfote, die sich in der Dunkelheit zusammengekauert hatte.
Er sah zu Buchenpelz, die Wolfsstern ansah, als würde sie sich an etwas erinnern wollen, an jemanden, der längst gegangen war.
Er sah zu Steinpelz, dem grauen Kater, der seine letzte verbliebene Tochter, Krähenflügel, musterte, und er sah zu Rauchflug, die ihre Schwester Regenherz vermisste.
Er sah zu Tupfenherz, dem ehemaligen Hauskätzchen, das in Weichfell einen wahren Freund gefunden hatte, und zu Tannenblüte, seiner Gefährtin, die sich stumm an ihn schmiegte.
Und er sah zu Löwenfell, der mit leerem Blick in die Sterne sah, bittend und betend, sie würden ihm eine Antwort geben
Das war ihr Clan. Sein Clan.
Und in diesem Moment wurde ihm etwas bewusst - etwas, an das er nie gedacht hatte; etwas, das ihn entsetzte und überraschte zugleich, etwas, das in ihm gefehlt hatte und das er sich dennoch nicht traute wahr zu haben.
Das war sein Clan. Er würde nicht zulassen, dass Schatten ihn zerstörte; er konnte es nicht zulassen und er durfte es nicht. Was immer es kosten möge: Er würde den Preis dafür zahlen.
»Aber wir können jetzt nicht aufgeben.« Wolfssterns Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart; zurück zu sich selbst. Erschreckt sah er auf. »Wir dürfen jetzt nicht aufgeben. Wir müssen weiterkämpfen, so, wie Weichfell es getan hätte. Ich muss einen neuen Zweiten Anführer erwählen.« Er erhob sich und ließ den Blick über den Clan schweifen.
Lärchenfells Herz blieb stehen. Jetzt, wo der Moment gekommen war, jetzt, wo seine Chance gekommen war, wusste er nicht, wie er sich fühlen sollte. Im Clan gab es niemanden, der diese Rolle haben könnte - niemanden bis auf Löwenfell und ihn selbst. Sturmwolke und Steinpelz waren zu alt; Rauchflug wollte es nicht; Spatzenflügel war zu krank, Krähenflügel zu traurig und Tannenblüte würde bald in die Kinderstube ziehen. Es blieb niemand übrig, bis auf Löwenfell und ihn.
Löwenfell war auserwählt worden - aber er hatte den Fuchs angegriffen, und Regenherz war deshalb gestorben. Er hatte versagt. Und er wäre kein guter Anführer; dafür war er zu eigensinnig, zu arrogant.
Und er selbst? War er das nicht auch? Er hatte hart trainiert, er war der stärkste, schnellste und entschlossenste Krieger des Clans. Er hatte Loyalität bewiesen, als er Löwenfell gefolgt war, und er hatte seinen Mut gezeigt, als er Hellpfote aus dem Kaninchenloch gerettet hatte, und im Kampf mit dem Fuchs.
Er war nicht nur der einzige, der für diese Stelle in Frage kam, sondern auch jemand, der sich perfekt dafür eignete. Er hatte noch keinen Schüler gehabt, ja - aber diese Zeiten bestanden aus Veränderung, und...
»Tupfenherz.«
Sein Herz blieb stehen.
»Tritt vor. Ich weiß, dass du es schwer hattest, dich in diesen Clan einzugliedern. Du bist nicht nur die erste Katze, die wir aufgenommen haben, sondern auch die Einzige, die sich bei uns halten konnte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du zu uns kamst: als verunsicherter, junger Kater, der sich nicht sicher war, wohin er wirklich gehörte.« Wolfsstern blinzelte die Tränen weg und erhob sich. »Und dennoch hast du es geschafft, dich einzugliedern. Du hast es geschafft, die Wälle zu überwinden, die zwischen dir und uns standen, und du bist ein loyaler, junger Clan-Krieger geworden. Du magst nicht der stärkste Kämpfer sein und nicht der geschickteste Jäger, aber du hast den Verstand, dich trotzdem durchzukämpfen. Du bist nicht der Mutigste oder der Tapferste, aber dennoch einer der treusten Gefährten, die ich kenne. Du bist bescheiden, klug und vernünftig.«
Tupfenherz? Lärchenfells Kopf begann nur langsam zu realisieren.
»Tupfenherz. Ich wähle dich zum Zweiten Anführer, damit du eines Tages den Clan leiten und beschützen wirst, so wie Weichfell vor dir? Tupfenherz. Nimmst du diese Wahl an?«
Alle Augen richteten sich auf den kleinen Krieger zwischen ihnen. Er hatte sich erhoben; er hatte seine Unsicherheit abgestreift, blickte Wolfsstern mit entschlossenen, grünen Augen entgegen und sprach mit ruhiger, starker Stimme. Das Sternenlicht fiel auf seinen Pelz, fing sich in seinem Fell. Der Schatten, der sonst auf seinem Gesicht ruhte, war vollkommen verschwunden - seine Augen leuchteten, hell wie der Mond.
»Es wäre mir eine Ehre.«
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