4. Kapitel

Funkenpfotes Kopf schmerzte und sie fühlte sich ungewohnt schwach. Ihre Beine zitterten und jeder Atemzug erforderte auf einmal immense Anstrengung. Es war ungewohnt und frustrierte sie, da sie wie berauscht von Vulpis' Macht gewesen war. Sie hatte sich unbesiegbar gefühlt. Nun kam es ihr vor, als könnte das Niesen einer Blattlaus sie von den Beinen fegen. Angst ergriff Funkenpfote, diese göttliche Kraft verloren zu haben.

„G...grünes Tal? Wie... Wo..."

Ein herrlich sanfter Wind umspielte ihre Schnauze und kitzelte ihre Ohrenspitzen. Die Luft war unfassbar rein und frisch, kein Gestank, kein Hauch der Verwesung verpestete sie. Mit noch brummendem Schädel legte sie ihren Kopf in den Nacken. Ein dichtes, saftgrünes Blätterdach breitete sich über ihrem Kopf aus. Stellenweise blitzte ein ungewöhnlich strahlender Himmel zwischen den Blättern hervor. Funkenpfote war verwirrt. Was war passiert? Sie konnte sich nur noch an das Geschrei der verdammten Dämonen erinnern, an Schmerzen, Verzweiflung und an blutüberströmte Füchse. Funkenpfote zuckte zusammen und war sofort hellwach. 

Noch unsicher auf den Beinen humpelte sie auf Nuna zu, während sie außer sich den Kopf nach allen Seiten drehte. „Heppel! Rascal! Wie geht es ihnen? Wo sind sie?" Ihre Stimme überschlug sich vor Angst, als sie die beiden Füchse nicht sehen konnte. Nuna beeilte sich, Funkenpfote zu stützen und drückte die Flanke an ihren Körper. Funkenpfote fühlte sich unglaublich zerbrechlich neben der großen Füchsin, wie ein verwelktes Blatt, das jederzeit vom Wind weggerissen werden könnte. Wo war all die Kraft hin, die vor kurzem noch durch jede Faser geströmt hatte?

„Mach dir keine Sorgen, es geht ihnen gut. Sie sind gleich um die Ecke." Die schöne Füchsin schnupperte sorgenvoll an Funkenpfotes zitternden Beinen. „Du solltest es lieber ruhig angehen, der Sprung hat dir viel Kraft gekostet." Funkenpfote schloss die Augen. Kopfschmerzen sirrten wie scharfe Krallen durch ihre Stirn. „Sprung?", keuchte sie und blinzelte angestrengt. All die neuen Eindrücke überforderten sie.

Während sie zu zweit langsam durch das brusthohe Gras tappten, sprach Nuna mit einer Leichtigkeit und Sorglosigkeit in ihrer Stimme, die Funkenpfote so lange nicht mehr gehört hatte, dass ihr Tränen der Freude in den Augenwinkeln brannten. Die Füchsin hatte den Kopf grinsend in den Nacken gelegt und bewunderte den klaren Himmel, der durch das Blätterdach zwinkerte. „Der Sprung ist eine von vielen Fähigkeiten, die wir eigentlich nur aus Sagen und Erzählungen längst vergangener Zeit kennen und nur Samenträger ausführen können." Nunas Augen glitzerten, als sie den Blick vom Himmel abwandte und auf Funkenpfotes Stirn richtete. „Ich habe es wie alles andere aus der alten Zeit schwer glauben können, aber anders kann ich es mir nicht erklären, wie wir von den Bergen des Niemandslandes plötzlich ins Grüne Tal gekommen sind. Du hast Vulpis' Macht genutzt und uns teleportiert." 

Funkenpfote zuckte etwas abschätzig und ungläubig die Ohren, immer noch darauf konzentriert, eine Pfote vor die andere zu setzen. Sie murrte: „Das klingt nach SternenClan-Geschichten. Sicher gibt es eine andere Erklärung..." Das Gras strich samtweich über ihr seidenes, makelloses Fell. Es schien länger und dicker geworden zu sein. Sie konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, ihre Narben nicht mehr zu sehen. Das war alles einfach so schwer zu begreifen.

 Nuna verstärkte den Gegendruck, als Funkenpfote plötzlich schwummrig wurde und zur Seite kippte. „Vorsicht.", lächelte die Füchsin, ein leises Lachen entkam ihrem Maul. Nun schnaubte auch Funkenpfote belustigt. „Das ist einfach alles unglaublich.", sprach sie ihre Gedanken laut aus. Dann verfielen beide in ein Schweigen. Emotionen tanzten zwischen ihnen wie hunderte Glühwürmchen. Unglauben. Unsicherheit. Hoffnung. Nachdem sie die Lichtung fast vollständig überquert hatten, blieb Funkenpfote stehen. Strahlender Sonnenschein ließ alles um sie herum in leuchtenden Farben erstrahlen. Insekten tanzten munter vor ihren Schnauzen und eine seltsame Musik war zu hören, so fern wie der Mond und doch so nah wie ein Flüstern in die Ohrenspitzen. Bildete sie sich das nur ein? 

Nuna blieb ebenso stehen, zog genussvoll die regenfrische Luft ein und entließ einen entspannten Seufzer. Dann trafen sich ihre Blicke und Funkenpfote lächelte. Als sie sprach, war ihre Stimme nur ein leises Flüstern. „Du wirkst fast so, als wärst du von Katzenminze betrunken, Nuna. Ich habe es vermisst, weißt du." Funkenpfotes Augen sanken auf den Boden und betrachteten den Schattentanz der Blätter auf ihren Pfoten. Ihre Stimme brach, Tränen bahnten sich ihren Weg. „Etwas anderes in Gesichtern zu sehen, als Verzweiflung..." Sie schniefte. „... und Angst..." Sie spürte den Blick ihrer Freundin auf ihrem Pelz. Dann plötzlich legte sie ihren Kopf auf Funkenpfotes Nacken. Keiner von ihnen sprach ein weiteres Wort. Die Umarmung benötigte keine Worte. Funkenpfotes Schnauze zitterte, die Schönheit des Augenblicks überwältigte sie.

Wenn Mama das nur sehen könnte... Papa... Nebelpfote... Rabenherz... Moospfote... Sie alle ...

Lange blieben sie so stehen, aneinandergeschmiegt, in wortloser Verbindung. Dann schüttelte sich Funkenpfote energisch. Ihre Kraft kehrte langsam in ihre Glieder zurück. „Lass uns zu Heppel und Rascal gehen.", grinste Funkenpfote und stapfte nun, ohne von Nuna gestützt werden zu müssen, voran. Kaum hatten sie sich durch das sattgrüne Dickicht am Rand der Lichtung gezwängt, kamen die beiden Füchse bereits auf sie zu. Rascal wirkte in Gedanken versunken, doch er lächelte zufrieden als er sie sah. „Endlich bist du wach. Wir haben uns schon Sorgen gemacht." Funkenpfote schnurrte. „Tut mir leid, kommt nicht wieder vor." Eine schlabbrige Zunge fuhr ihr ohne Vorwarnung übers Gesicht, Funkenpfote schüttelte sich lachend den Speichel vom Fell. „Heppel! Dir scheint es auch gut zu gehen!" Heppel legte noch mehrmals nach, bis er zufrieden mit seinem Sabber-verschmierten Kunstwerk war. „Jap, jap! Alles super!" Sein großer Körper hätte Funkenpfote beinahe von den Beinen gerissen, als er sich stürmisch an sie drückte. In ihrer Brust rumpelte unablässiges Schnurren. Diese Füchse fühlten sich mehr und mehr wie ihre Familie an.

Bei diesem Gedanken schossen ihr die grausamen Bilder wieder in den Kopf, wie sie ihre eigentliche Familie zum letzten Mal gesehen hatte und Kälte kroch zurück in ihre Knochen.

Ich darf mich nicht ablenken lassen. Der Frieden ist trügerisch, wir haben keine Zeit. Ich muss sie retten.

Funkenpfote straffte die Schultern und sah ihre Begleiter einen nach dem anderen an. „Mir fällt ein großer Stein vom Herzen, dass wir heil hier angekommen sind, aber so sehr ich diese Pause genieße, dürfen wir nicht vergessen, weshalb wir gekommen sind. Wie sieht es aus?" Sie wandte sich damit vor allem an Rascal, der immer genau zu wissen schien, was zu tun war. „Was tun wir jetzt?"

Rascal leckte sich seine Lefzen, eine Geste, die er öfter machte, wenn er intensiv nachdachte. Als er seine Stimme erhob, war sie tief, ruhig und gefasst wie immer. Keine Spur mehr von den Toden, die er in den letzten Tagen beinahe gestorben wäre. „Ich habe in den Schriftrollen gelesen und die nähere Gegend auskundschaftet, aber wirklich schlauer bin ich nicht geworden." Er griff mit seinem Maul über die Schulter, zog eine Rolle aus Pflanzenfasern aus dem Beutel auf seinem Rücken und legte sie vor sich auf den Boden, dass alle einen guten Blick darauf hatten. Er strich sie mit seinen Pfoten glatt und deutete auf eine etwas verschmierte, sehr alt aussehende Reihe an Symbolen. Funkenpfote konnte natürlich nicht im Geringsten verstehen, was dort geschrieben war.

 „Hier steht", erklärte der schwarze Fuchs, „dass das einzige Wesen, das noch über Wissen über die Mutter allen Lebens verfügt, hier im grünen Tal gesichtet wurde. Aber das ist auch alles." Er drehte die Schrift mit seiner Schnauze auf die Rückseite. „Hier habe ich die Notiz eingefügt, nachdem wir das Wiesel getroffen haben. Er hat sie „die Wächterin, die alles weiß" genannt und ebenfalls behauptet, sie würde hier leben und die Beschwörungsformeln von Ruvyn kennen." Er stieß ein Seufzen aus. „Das Problem ist" und damit wies er in einer kreisenden Bewegung auf den dichten Wald um sich herum. „Dass das Grüne Tal gigantisch ist. Es gibt Gebirge, Täler, Wälder, Flüsse und Seen und das alles wird ‚das Grüne Tal' genannt." Nuna seufzte ebenfalls und kratzte sich mit einem Gähnen hinter dem Ohr. „Lange Rede, kurzer Sinn: das ist, als würden wir das Schnurrhaar im Strohhaufen suchen. Es kann ewig dauern, bis wir auch nur einen konkreten Hinweis finden." Heppel grunzte unglücklich und fügte noch hinzu: „Und wir wissen nicht einmal, welches Tier diese Wächterin ist." Funkenpfotes Herz, das gerade noch mit so viel Zuversicht gefüllt war, wurde schwer. „Wir wissen nicht einmal, ob es ein Vogel, ein Bär, ein Hase oder sonst etwas ist?"

Die Füchse schüttelten nur gemeinsam ihre Köpfe, Ratlosigkeit in ihren Augen. Funkenpfote war nach all den Strapazen, die sie durchlebt hatte, zu schwach, um ihre Emotionen im Griff zu behalten. Die Verzweiflung musste ihr ins Gesicht geschrieben sein, denn Rascal trat bedacht vor und stieß sie bestimmt in die Schulter. „Nicht den Kopf hängen lassen. Das ist nicht der Zeitpunkt, um aufzugeben." Nuna legte ihr den Schweif um die Flanke und blinzelte zuversichtlich. „Rascal hat recht, lass uns losgehen und nach Antworten suchen. Die Tiere hier wissen sehr viel über die alten Götter, da finden wir sicher jemanden, der uns helfen kann." Funkenpfote schnurrte, doch es blieb ihr in der Kehle stecken. „Danke..." Als Heppel ebenfalls in dem Versuch, sie aufzumuntern, seinem eigenen Schweif hinterherjagte, lockerte Funkenpfote mit einem Seufzer ihre Schultern und straffte ihren Körper. Zwang sich ein möglichst aufrichtiges Lächeln aufs Gesicht, in der Hoffnung sich selbst zu täuschen.

„Wer von euch hat Hunger? Gehen wir jagen?", fragte sie, obwohl Fressen gerade das Letzte war, worauf sie Lust hatte. Entschuldigend schüttelten die Füchse ihre Köpfe, Heppel plumpste in das üppige Grün und tappte sich auf den runden, aufgeblähten Bauch. „Haben schon gefressen, Funki. Bin müde!" Wie hätte Funkenpfote diesen riesigen Kulleraugen böse sein sollen? Als Nuna sich anschickte, trotzdem mit ihr jagen gehen zu wollen, winkte Funkenpfote ab. „Bleibt ruhig hier und genießt die Ruhe. Ich brauche sowieso ein wenig Zeit für mich." Alle drei runzelten ihre Schnauzen vor Besorgnis, wie Zieheltern, aber sie ließen sie mit einem verständnisvollen Nicken gehen.



Als Funkenpfote mit dem Untergang der Sonne zurückkehrte, hatte sie sich siebenmal fast verlaufen und kam sich vor wie ein riechbehinderter Maulwurf. Völlig übersättigt von all den neuen Gerüchen und dem undurchdringlichen Dschungel an Grün und mit leerem Magen kroch sie unter dem dichten Farn hindurch auf die Lichtung, wo sich die Körper ihrer Freunde, fast vollständig verdeckt vom hohen Gras, im steten Takt hoben und senkten wie die sanften Wellen des Bergsees. 

Kurz hielt sie inne, um dieses friedliche Bild zu betrachten und für immer in ihr Herz zu schließen. Mondschein, der sich wie flüssiges Silber durch das Blätterdach auf die Lichtung ergoss und winzige Pollenflocken wie zur Erde gesandte Sterne über den Füchsen tanzen ließ. Funkenpfote bekam vor Schmerz kaum Luft. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Wie unfair das alles war. Wie trügerisch dieser Frieden.

 Sie riss sich von dem Anblick los, dann schob sie sich mit dem Gewicht ganzer Gebirge auf den Schultern unter das große Blatt eines seltsamen Strauchs am Rand der Lichtung. Warum sie den Abstand zu den Füchsen suchte, wusste sie nicht genau. Ihre Gedanken hatten sie heute mehr erschöpft als jegliche körperliche Anstrengung der letzten Monde.

Funkenpfote konnte in dieser Nacht kein Auge zu tun und dieses Mal konnte sie nicht ergründen, warum. Morgens aufzuwachen, mit steifen Gliedern, rasendem Herzen, trockenem Mund und schweißnassem Pelz war zu einer zweiten Natur geworden, der Geruch von Blut und der Schrei ihrer Mutter die Hintergrundmusik bei jedem Pfotentritt. Als sie zum ersten Mal die Augen in diesem magischen Tal geöffnet hatte, der erste Hauch von Frieden und Leben um ihre Schnauze geweht hatte, war all der Schmerz zum ersten Mal erträglich geworden. Die Schreie weniger schneidend, die Angst weniger lähmend, ihre Hoffnung aus der Asche auferstanden, zu der sie verbrannt war. Und nun lag sie wach und ihre Brust enger als je zuvor.

Funkenpfote drehte sich zum fünften Mal seit Sonnenuntergang in ihrem üppigen Nest aus Moos und Farn und konnte die sengende Unruhe, die unter ihrem Pelz rumorte, nicht begreifen. Ihre Stirn brannte fiebrig, dort wo Vulpis ihr Mal hinterlassen hatte und ihre Zähne knirschten vor Frust, dass sie die zuckenden Beine nicht zähmen konnten. Funkenpfote gähnte, doch müde war sie nicht. Vielleicht wurden Götter nicht müde. Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte den schillernden Sternen über ihr gedankenverloren zu.

 Schliefen Götter? Hatten sie Hunger? Oder Durst? Hatten sie Angst? Kannten sie Liebe? 

Plötzlich war Funkenpfote unglaublich traurig bei dem Gedanken, dass diese Wesen, die doch das in den Pfoten hielten, was man Leben nannte, vielleicht nie das belebendste aller Gefühle empfinden konnten. Dieses reißende Zerren im Herzen. Diese geborgene Wärme nur durch das Beisammensein, einen Augenschlag. Diese Ganzheit nur durch das Wissen um die zweite Hälfte. Und der süßeste und grausamste Schmerz, der alles Körperliche überstieg.

Ein Bild eines schwarzen Katers formte sich langsam, doch Funkenpfote verjagte es rasch mit einem traurigen Knurren. Das Chaos in ihrem Inneren trieb Funkenpfote auf die Pfoten. Mit peitschendem Schweif und verkrampften Schultern stemmte sie sich aus dem Nest und lief rastlos auf und ab, zweimal, dreimal um ihr Nest herum, bevor sie ihre Pfoten wie selbstverständlich zu dem pechschwarzen Fellknäuel trugen, das man kaum von seiner nächtlichen Umgebung unterscheiden konnte.

„Rascal.", flüsterte sie zaghaft. Der schwarze Fuchs öffnete seine Augen, als hätte er sie schon lange erwartet. Das Violett seiner Augen strahlte im Licht des Mondes. Mit einer Grazie eines abhebenden Adlers hob er seinen Kopf und zuckte mit der rechten Ohrspitze. „Was gibt es?" Sein Tonfall war der eines Eingeweihten, der schon längst wusste, was sie als nächstes sagen würde. Trotzdem sprach es Funkenpfote laut aus. „Ich kann nicht schlafen. Ich fühle mich krank, als wäre etwas mit Vulpis Kraft nicht in Ordnung. Ich weiß, du kannst mir wahrscheinlich nicht helfen, aber ich bin ratlos, an wen ich mich sonst wenden kann." Rascal blickte kurz über seine Schultern und versicherte sich, dass Nuna und Heppel tief schliefen – wobei Heppel mit seinem sägenden Schnarchen eine Überprüfung überflüssig machte – und erhob sich dann in einer fließenden Bewegung, glitt über die Lichtung und bedeutete Funkenpfote, ihm zu folgen.

Sobald sie außer Hörweite waren, traten sie etwas Gras am Rand der Lichtung platt und ließen sich darauf nieder. Nach ein paar Momenten des Schweigens legte sich Rascals leise Stimme über die Stille der Nacht. „Kannst du mir näher beschreiben, wie du dich fühlst?" „Hm... Da, wo das Siegel ist, schmerzt es sehr, heiß, als hätte ich Fieber. Ich bin gleichzeitig todmüde und aufgekratzt und mein Herz schlägt so schnell, dass es unangenehm ist. Mir ist so übel, ich könnte nicht einmal etwas essen, wenn ich Hunger hätte, aber den habe ich auch nicht mehr seit ich das Siegel bekommen habe..." 

Rascal lauschte während Funkenpfote ihm alles genau schilderte. Als er ein ausreichendes Bild von ihrer Verfassung hatte, nickte er ernst. „Zuallererst: Dein fehlender Hunger ist normal für Samenträger. Der Körper verändert sich sehr stark und die göttliche Kraft überlagert viele sterbliche Triebe, deswegen musst du darauf achten, genug zu essen, auch wenn dir nicht danach ist. Was deine körperliche Verfassung angeht... Ich bin mir nicht sicher, was genau die Ursache dafür ist." Er kratzte sich mit der Hinterpfote am Bauch. „Aber ich habe eine Vermutung." Neugierig lehnte sich Funkenpfote vor, sie durstete nach Antworteten.

„Du hast gerade sehr viel göttliche Kraft verbraucht durch all die Kämpfe und anschließend hast du uns auch noch hierhergebracht. Meine Vermutung ist: dein Körper kommt an seine irdischen Grenzen. Zum einen, weil so viel Kraft, die nicht in einen sterblichen Körper gehört und in so kurzer Zeit freigesetzt wird, zu immens für deinen Körper ist, zum anderen weil du jetzt spürst, dass der Samen kurz vor dem Erlöschen ist."

Funkenpfote riss entsetzt die Augen auf. „Was? Erlöschen? Du meinst, ich könnte den Samen verlieren?" Rascal brummte bestätigend. „Ich bin mir nicht ganz sicher, meine Aufzeichnungen sind sehr unvollständig, aber der Samen speichert nur die göttliche Energie, aus der ein Gott im Moment der Katharsis bestanden hat. Das heißt, sie regeneriert sich nicht, sondern wenn du sie verbrauchst, ist sie für immer weg. Sie wandelt sich in die Handlung um, zu der du sie formst. Endet diese Handlung, existiert die göttliche Macht, die du dafür benutzt hast, nicht mehr."

Mit stockendem Atem kauerte sich Funkenpfote tiefer auf das Gras. Angst ergriff sie. Rascal fuhr fort. „Götter regenerieren ihre Kraft nicht bewusst. Ihre Macht, ihre Existenz entsteht aus dem Glauben der Sterblichen, aus ihren Gebeten, ihren Opfern. Vulpis existiert hier in der sterblichen Welt nur noch als Energie in deinem Siegel, aber auf der göttlichen Ebene beginnt sie sich bereits neu zu formen aus den Gläubigen, die es noch gibt. Doch auf diese Energie hast du keinen Zugriff."

Funkenpfote legte den Kopf schief, ihre Schwanzspitze zuckte unruhig hin und her. „Aber warum überhaupt dann diese ganze Katharsis-Sache? Wenn sie sowieso unsterblich ist und wieder aufersteht? Warum mir den Samen übertragen?"

Rascal wollte gerade antworten, als ein leises, elektrisches Knistern durch die Luft flatterte. 

Ihre Augen trafen sich. Beide wussten sofort, dass sie es beide bemerkt hatten. Sie sprangen auf, Funkenpfote krümmte ihren Rücken, ihr Fell sträubte sich. Ihre Schnurrhaare vibrierten, sie spürte den Strom in ihren Knochen. Rascal knurrte misstrauisch. „Was ist passiert?", fauchte Funkenpfote, mehr aus Unsicherheit als aus Wut. 

Nachdem sie beide wie Stein erstarrt eine gefühlte Ewigkeit verharrt hatten, löste sich Rascals Anspannung und er legte sich wieder. „War wahrscheinlich nur ein Blitz, der irgendwo eingeschlagen hat. Vielleicht auf einem der umliegenden Berge" Er zeigte mit der Schnauze auf die dunklen Riesen, die hinter der Blätterdecke hervorlugten. „Zu weit weg, dass wir es bemerkt haben, aber über die Flüssigkeit in der Erde verteilt sich der Blitz bis ins Tal." Funkenpfote blinzelte ungläubig. Wasser konnte Blitze weiterleiten? Warum war ihr das nie aufgefallen? Sie reckte ihre Schnauze gen Himmel und Es viel ihr schwer, sich zu entspannen, aber nach ein paar angestrengten Atemzügen beruhigte sie sich wieder und gesellte sich erneut zum schwarzen Fuchs.

Natürlich hatte er den Faden nicht verloren und erzählte sogleich konzentriert weiter. „Der Grund, warum Vulpis ihre Macht als Samen überträgt, wenn sie in der sterblichen Ebene getötet wird, ist zum einen die Dauer, die es braucht, bis ein Gott wiedergeboren wird. Ganze Welten vergehen, unzählbare Ewigkeiten, bis genug göttliche Energie ich zu einem göttlichen Wesen manifestiert. In dieser Zeit herrscht ein großes Ungleichgewicht zwischen Leben und Tod, denn zu Beginn aller Zeit harmonierten diese beiden in völliger Balance. Das ist der zweite Grund, der Wunsch, dem Bösen keinen Vorteil zu verschaffen. Und letztendlich sind Gebete nicht einfach Gebete. Die Energie, aus der Götter geboren werden, bleibt immer auch Teil derjenigen, die sie gespendet haben. Wird sie also ausgelöscht, stirbt auch ein Teil der Lebenskraft der vielen individuellen Seelen."

Funkenpfote war still vor Ehrfurcht vor dem Wissen, das Rascal mit ihr teilte. Es war alles von so riesiger Dimension, dass es ihre Vorstellungskraft schon bei den ersten Worten gesprengt hatte. Sie suchte nach Worten, um etwas von dem auszudrücken, was in ihr vorging, doch glücklicherweise kam ihr Rascal zuvor. „Funkenpfote, schließ bitte einmal die Augen."

Ohne zu fragen, folgte Funkenpfote seiner Bitte. Sie vertraute ihm.

„Kannst du Vulpis' Kraft bewusst spüren? Kannst du sie trennen von allen Gefühlen, Gedanken, allem Körperlichem?"

Funkenpfote atmete tief ein und aus. Setzte all ihre Kraft, ihre aufgewühlten Gedanken zur Ruhe zu bringen und ihren Atem und Herzschlag bewusst wahrzunehmen. Wie ein Heiler, der seine Kräuter sortierte, konzentrierte sie sich auf die jeweiligen Eindrücke, sammelte sie, trennte sie, identifizierte sie. Ihr Mund wurde trocken und ihr Siegel pulsierte noch schmerzhafter. Ihre Muskeln begannen bald vor Anstrengung zu zittern. Um sie herum intensivierte sich die Dunkelheit der geschlossenen Augen, als träte ihr eigener Körper einen Schritt zurück. Funkenpfote hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als plötzlich eine tranceartige, summende Energie alles überlagerte. Sie spürte nichts mehr. Als wäre sie an einen anderen Ort getreten, stand in völliger Finsternis, war nur noch Teil der vibrierenden Atmosphäre.

Und da war ein leises Funkeln. Ein kleines, schwaches Licht, das sich langsam mehr und mehr von der Dunkelheit abhob, wirbelte und tanzte, wuchs und anschwoll, bis ein funkelnder, goldener Wirbelsturm durch die Finsternis fegte.

Ein gewaltiges Rumpeln riss Funkenpfote brutal zurück in ihren Körpern.

Ein krallenscharfes Pfeifen teilte die Luft, bevor ein ohrenbetäubendes Krachen die Erde unter ihren Pfoten spaltete.

Gras ging in Flammen auf.

Letzte Funken eines eisfarbenen Blitzes fetzten durch die Nacht.

Dann Stille.

Und dutzende Augenpaare, die aus der Finsternis loderten. 

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