3. Kapitel

Der HeideClan war am Ende. Sie hatten alles riskiert. Hatten ihr Zuhause aufgegeben in der Hoffnung, Verbündete zu finden. Sich gemeinsam retten zu können. Doch der MoorClan war nicht mehr da. Wahrscheinlich waren sie schon alle tot. Zu Dämonen geworden und der Verdammnis verfallen.

Rabenherz starrte emotionslos auf die zwei völlig zerfetzten Katzenleiber vor seinen Pfoten. Es waren eine schwarze Kätzin mit weißer Pfote und ein Kater mit langem, wohl ehemals graublau getupftem Fell, den man kaum noch unter all dem Blut erkennen konnte. Sie waren buchstäblich in der Luft zerrissen worden. Rabenherz starrte auf die entsetzlich zugerichteten Körper, konnte den Anblick eigentlich nicht ertragen und doch waren seine Augen wie gefesselt an die riesigen Wunden, entblößten Knochen und Innereien. Als würde sein Gehirn immer noch nicht glauben können, dass das, was er sah, der Realität entsprach. Dass das alles wirklich geschah. Dass dieses Maß an Grausamkeit wirklich existieren konnte.

„Rabenherz?"

Rabenherz riss sich von den Leichen los und blickte mit leerem Gesicht seinem Bruder entgegen. Krähenfall litt offensichtlich stark an den körperlichen und seelischen Wunden, die ihr bester Freund ihm zugefügt hatte, doch selbst jetzt glomm noch ein Funken Emotionen in seinen Augen. Irgendwie machte das Rabenherz wütend.

Ich glaub, ich muss kotzen.

„Was?", knurrte er bissiger, als er beabsichtigt hatte. Sein Bruder senkte nur resigniert den Kopf und versuchte sich dann an einem tröstenden Schnurren, doch es blieb ihm im Hals stecken. „Ich weiß nicht.", flüsterte er kleinlaut. Der grauschwarze Kater schlich mit hängendem Schweif zu seinem Bruder und drückte den Kopf gegen Rabenherzs Brust. „Ich verliere die Hoffnung, Bruder. Ich höre schon die Schreie der Toten und bald werden das auch unsere Schreie sein." Ein zittriges Schluchzen unterbrach ihn. Rabenherz verspürte einen erschrockenen Stich, noch nie hatte er seinen Bruder weinen sehen. Selbst als ihre Eltern sie verlassen hatten. Selbst als sie als Kätzchen beinahe verhungert wären. Nie hatte er hoffnungslose Worte gesprochen. Und nun weinte er.

Leider hatte Rabenherz keine Kraft mehr. Keine Hoffnung. Er legt sein Kinn auf Krähenfalls Kopf ab und erlaubte seinen Tränen, frei zu fließen. „Ich auch, Bruder. Ich habe auch keine Hoffnung mehr.", krächzte er mit trockener Kehle, während seine Tränen das Fell seines Bruders benetzten.

Gemeinsam weinten sie, bis sie nichts mehr übrighatten. Keine Tränen, keine Hoffnung, keine Kraft.

Um sie herum hatte der HeideClan zu einem Trauergeheul angesetzt. All ihr Schmerz, all ihr Verlust, all ihre Wut lag in dem schauerlichen Klagen, das in die finstere, stinkende Luft aufstieg. Ein Schauer jagte über Rabenherzs Rücken, als er sah, dass selbst Birkenstern sich angeschlossen hatte. Dem sonst so taffen jungen Anführer standen glitzernde Tränen in den Augenwinkeln. Er leidet noch viel mehr. Er wirft sich vor, versagt zu haben, dachte Rabenherz traurig. Wenn er ihn auch hätte trösten wollen, er selbst schluckte, setzte an und entließ seine Gefühle in den gemeinsamen Chor der Verzweiflung.

So werde ich also sterben. Geschlachtet von Dämonen. Und es wird keinen SternenClan geben, zu dem ich gehen werde. Der Tod wird uns holen und in seine Schergen verwandeln, die den Rest des Lebens auslöschen. Meine letzte Tat auf dieser Welt wird das Herausreißen des letzten schlagenden Herzens sein. Gibt es ein grausameres Schicksal?

Die Geräusche der Todesboten waren nun unüberhörbar. Aus dem Augenwinkel sah Rabenherz ihre verrottenden Körper aus den Bäumen herausbrechen und ihre blutroten Augen bohrten sich in seine Seele. Der Verwesungsgestank wurde überwältigend. In atemberaubender Geschwindigkeit jagten sie den Hügel hinauf.

Der Tod war da.

Rabenherzs Atem wurde flacher, sein Herzschlag echote laut in seinen Ohren. Gerade, als Rabenherz darüber nachdachte, wie er sein eigenes Leben vorzeitig beenden konnte, schien ihm sein Geist noch einmal einen Streich spielen zu wollen.

Denn er hörte eine Stimme.

„Schnell! Hier rauf! Beeilt euch!"

Die Heidekatzen wirbelten überrascht herum. Da stand eine kleine, graue Kätzin auf der gigantischen Wurzel des Baumes und winkte ihnen hektisch zu. Rabenherz erkannte sie wieder. Es war Moospfotes Freundin! Hatte der MoorClan doch überlebt?

Ohne weiter nachzudenken stürmte der HeideClan auf die Wurzel und folgten der MoorClan-Katze, als sie den gewaltigen Baumstamm hinaufsprang und kurz darauf in einem breiten Riss in der Rinde verschwand. Rabenherz ließ Beerenglanz und Schwarzpelz den Vortritt, auch wenn es ihn viel Mühe kostete, bei den herannahenden Monstern nicht in Panik zu geraten und sich als Erster in Sicherheit zu bringen. Sobald Schwarzpelzs dichter Schweif im Spalt verschwunden war, sprang Rabenherz hinterher – und entging damit keine Sekunde zu früh den Klauen der besessenen Tiere. Holzsplitter flogen ihm um die Ohren, als ein gewaltiges Tier seine riesige Pranke durch den Spalt zu stecken versuchte. Rabenherz wollte nicht einmal wissen, was es war, Flucht war das einzige, woran er nun denken konnte. Solange das große Biest den Eingang verschloss würden kleinere Tiere nicht eindringen können, doch das war nur eine Frage der Zeit.

In der Enge des Stammes schoben sich die Katzen senkrecht nach oben, ihr keuchender Atem verriet ihm den Weg und der Angstgeruch stach im penetrant in die Nase. Linke Schulter, rechte Schulter. Mit den Hinterpfoten abstützen. Nicht nach unten sehen. Konzentriert bleiben.

Es fühlte sich unwirklich an.

War er nun gerettet? Oder war das nur wieder ein kleiner Aufschub des Unvermeidlichen? Rabenherz wusste es nicht. Doch wenn seine Hoffnung wieder enttäuscht werden sollten, wäre er lieber auf der Stelle nach unten in den schnellen Tod gesprungen.

Unter ihm drang dumpfes Grollen und abnormales Kreischen in den Stamm und erinnerte ihn, so schnell wie möglich zu den anderen Katzen aufzuschließen. Das Kratzen und Schaben verriet ihm, dass die Dämonen wohl Schwierigkeiten hatten, sich durch den engen Spalt zu pressen. Sind sie alle so groß? Was sind das bloß für Tiere?

Bald neigte sich der Riss im Holz zur Seite und führte außerhalb des Stammes auf unzählige breite Äste. Nach Luft schnappend quetschte sich Rabenherz durch die Öffnung hinaus und sprang seinen Kameraden über die Äste hinterher. Die Äste waren umschlossen von einem dichten Blattwerk, doch immer wieder stießen rotäugige Fledermäuse durch den grünen Schutzschild und attackierten wahllos. Fast hätte Rabenherz in seinem Adrenalinrausch einen Falken aus der Luft gerissen, bis er realisierte, dass die Vögel, die ebenfalls zum Stamm durchdrangen, keine roten Augen hatte und ihnen halfen, die Fledermäuse zu töten. Akkar ist doch tot? Warum sind die Vögel nicht besessen? Während Rabenherz gerade zwei Fledermäuse von seiner Schulter zerrte und kräftig schüttelte, sah er seinen Bruder auf dem nächsten, moosüberwucherten Ast unter fünf Fledermäusen stürzen und gefährlich zu kippen. „Krähenfall!", schrie er panisch und warf sich in einem halsbrecherischen Sprung nach vorne, um seinen Bruder am Nackenfell zu packen. Doch seine Zähne bissen ins Leere.

„BRUDER!", kreischte Rabenherz völlig fassungslos. Das durfte nicht passieren! Nicht auch noch er! Kopfüber stürzte er sich über den Rand – und konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen. Birkenstern hatte Krähenfall einen Ast unter ihm sicher zwischen den Zähnen und zog ihn gerade wieder auf den breiten Ast zurück. „Keine Sorge!", rief ihm sein Bruder mit zittriger Stimme und vor Schock geweiteten Augen zu. „Mir geht's gut! Lauf weiter!" Nicht einmal im Traum dachte Rabenherz daran. Stattdessen sprang er hinab zu seinem Anführer und blieb nahe an Krähenfalls Seite, bis dessen Bewegungen wieder etwas an Sicherheit gewonnen hatten.

Rabenherz wusste nicht mehr, wie lange sie geklettert waren und wie viele Beinahe-Stürze ihm sein Herz stehenbleiben haben lassen, als Taupelz, die MoorClan-Kriegerin, sie wieder in die Dunkelheit des riesigen Stammes führte. Bald realisierte er, dass der Baumstamm mittlerweile kein Baumstamm mehr war, sondern ein eng umschlossenes Chaos an verschlungenen Riesenästen, die sich umso weiter voneinander entfernen, je höher die Katzen kletterten. Das Holz war über und über mit Moos und Flechten bewachsen, die die Katzen mit saftigem Duft umhüllten und den säuerlichen Gestank der besessenen Tiere vertrieben. Rabenherz seufzte in die feuchte Luft hinein, zum ersten Mal hatte er das Gefühl, wieder aufatmen zu können. Über ihm wurde es immer lichter, noch musste er sich unter ein paar besonders engen Verzweigungen hindurchdrücken, dann – plötzlich – falteten sich die riesigen Baumausläufer aus und gaben den Blick frei.

Rabenherz klappte vor Erstaunen die Kinnlade hinunter. Vor ihm breiteten sich die mehrere Katzenlängen dicke Baumstämme in alle Himmelsrichtungen auf, und üppige Pflanzen überwucherten das starke Holz. Durch das Blätterdach des Baumgiganten schienen die Pflanzen vor der starken Trockenheit der Blattgrüne geschützt worden zu sein, im Gegenteil die schwüle Wärme hatte ihr Wachstum wohl explodieren lassen. Es sah aus wie ein riesiger Bau auf einem Baum. In der Mitte führte der dickste der Stämme weiter nach oben, die anderen verliefen eine Weile waagrecht nach außen, bevor ihre Zweige sich wieder in die Höhe schraubten. Die knorrige, überwucherte Rinde bildete viele Mulden, wo sich dicke Moosnester gebildet hatten. Sie waren nun fast alle durch MoorClan-Katzen zu Schlafplätzen geworden.

Rabenherz konnte den Anblick, der sich dem zerschlagenen HeideClan bot, kaum ertragen. Sie hatten gehofft, Verbündete zu finden, doch der befreundeten Clan hatte unter den düsteren Klauen des Todesgottes noch mehr gelitten, als sie selbst. Er hatte gedacht, sie wären schlimmer dran gewesen, da der Altar näher an ihrem Territorium lag, doch scheinbar spielte das keine Rolle. Es gab keine unverwundete Katze. Der Blutgeruch hing schwer in der Luft und trübte den angenehmen Pflanzenduft, was dem schwarzen Krieger aber kaum auffiel. Mittlerweile war es so normal geworden, wie Luft, Wasser und Erde. Blut war das vierte Element geworden. Es war überall. Und wohin man ging, verfolgte es die Lebenden. Und lockte damit den Tod an.

„Oh nein..." Neben ihm waren standen die HeideClankatzen. Sie hatten fast alle nebeneinander Platz, so riesig war der Astausläufer, auf dem sie angekommen waren. Efeudorn hatte gesprochen. Sie sah mit ihren kleinen, unzähligen Schnittwunden und der klaffenden Wunde an der Flanke noch geradezu unversehrt aus. „Sie kamen aus dem nichts.", flüsterte Taupelz leise neben ihm. Rabenherz richtete seine Augen auf das zarte Gesicht der jungen Kriegerin und erkannte erst jetzt schockiert, dass die Mitte ihres Gesichts vom Kinn bis zur Stirn voller verkrustetem Blut war. Tiefe Schnitten zogen sich querbeet durch ihr Gesicht. Ihre Schultern und Rücken waren blutig abgeschürft, sodass das Fell nur noch in kleinen Fetzen an der Haut hing und das hintere Drittel ihres Schwanzes war so stark zerbissen, dass Rabenherz sich sicher war, dass er jeden Moment zerfallen würde. Ihre Verwundung spiegelte sich in ihrem vor Erschöpfung trüben Augen wieder. Sie schien starke Kopfschmerzen zu haben und ihre sehnigen Beine zitterten unmerklich. Es war ein Wunder, dass sie noch den langen Aufstieg geschafft hatte. Plötzlich wusste er, was ihm so seltsam vorkam. Ihr Gesicht hatte genau den gleichen Ausdruck wie Funkenpfote. Hoffnungslos. Erschöpft. Bitter.

Unglaublich... Sie ist immer noch wunderschön...

Rabenherz schreckte vor seinen eigenen Gedanken zurück. Was war mit ihm los? Erst Moospfote, dann Funkenpfote, jetzt Taupelz? Warum hatten die Weibchen so eine Wirkung auf ihn? Und das auch noch in so einer unpassenden Zeit... Er zuckte unglücklich mit der Schwanzspitze. Das war doch nicht normal.

„Wir haben nur gemerkt, dass ein Gewitter aufzog und es ungewöhnlich dunkel wurde. Dann war da dieses Beben...", Taupelzs Beine brachen unter ihr weg und sie sackte erschöpft in eine moosige Kuhle, die direkt vor ihnen lag. Ihre Stimme war kaum noch ein Krächzen, als sie sie weiter zum zweiten Anführer des MoorClans schickte. „Bitte... zu Krummpelz... ich..." Dann fiel ihr Kopf so plötzlich ins Moos, dass Rabenherz erschrocken keuchte und sich eilig ihrem Gesicht näherte, um festzustellen, ob die Kätzin nach atmete. Ein sanfter, abgebrochener Luftstrom erreichte seine Schnurrhaare. Beruhigte ihn. „Rabenherz, komm." Birkenstern winkte ihn zu ihm und gemeinsam bewegte sich der HeideClan vorsichtig über den weichen, mit abgestandenem Blut benetzten Moosboden zum Knotenpunkt der Baumausläufe hinunter, hinter dessen Hauptstamm der graugetigerte Pelz von Krummpelz hervorblitzte. Rabenherz fragte sich besorgt, warum Taupelz sie nicht zu Rauchwind geschickt hatte. War er gestorben?

Auf ihrem langsamen Zug hinab beobachtete Rabenherz aus dem Augenwinkel die anderen Katzen. Auf den ersten Blick konnte er Moospfote nicht entdecken. Hier und da erkannte er einen Pelz unter dem Blut, den er mit einem Namen verbinden konnte. Die meisten hatten völlig kraftlos, aber interessiert und mit einem Funken Freude die Köpfe erhoben und begrüßten die Neuankömmlinge mit einem kaum hörbaren Schnurren. Ein Gänsehaut- erregendes Geräusch, wie es nur Gefährten zustande brachten, die dem Tod ins Auge gesehen haben und sich wie Ertrinkende an jede letzte Faser Hoffnung klammerten. Der gebrochene, zerriebene Ton echote in Rabenherzs Brust. Ein Rufen, das all die Gefühle hervorzerrte, die sein Unterbewusstsein für den Überlebenskampf zu unterdrücken versuchte. Eine Stimme, die sanft flüsterte: Es ist in Ordnung, verletzlich zu sein. Alles wird gut. Du bist nicht allein. Auf einmal spürte er die Wärme seiner Clankameraden an seiner Seite. Ein Sturm schmerzhafter Gefühle schlich sich von seinem Bauch in die Brust, kroch die Kehle hinauf und sammelte sich als saurer Geschmack auf seiner Zunge. Rabenherz kniff die feuchten Augen fest zusammen und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. Gesichter erschienen vor seinem inneren Auge. Kühl. Abgestumpft. Anklagend. Schmerzverzerrt. Hilfesuchend.

Funkenpfote.

Nesselstreif.

Robin.

Alle, deren Andenken nur noch der kalte Wind in sich trug.

Alle, an deren Taten das Gras leise rauschend erinnerte.

Das Ächzen der Bäume weinte um die enttäuschten Hilferufe und wiegte sich traurig in der blutgeschwängerten Luft.

Das Knacken im Dickicht wollte die verlorenen Erinnerungen einfangen. Gefühlte Emotionen und gelebte Momente retten.

Das Säuseln der sterbenden Blumen war ein Echo vergangener Stimmen, die sich einst Mut zugeflüstert hatten. Ein Wiederhall sorgenloser Gespräche, bevor der Tod sie vertrieben hatte.

Und das Donnern der Wolken schrie verzweifelt nach der verlorenen Liebe. Ließ die sterbende Welt ein letztes Mal hören, wie brechende Herzen klangen.

Und wenn das letzte Gras zu Staub zerfallen würde, der letzte Baum zerbrechen, die letzten Wolkentürme einstürzen und das letzte Flehen der Natur verstummen würde, dann war das Vermächtnis der Welt, wie sie einst war – voller Leben, voller Liebe, voller Leidenschaft und pulsierender Kraft – vergessen.

Und der Tod ewig.

„...herz? Rabenherz! RABENHERZ!" Rabenherz schlug die Augen auf und spürte Tränen auf seinen Wangen. Ein liebevoller Blick seines Bruders ruhte auf ihm. „Lass uns noch einmal wagen, zu hoffen...", miaute Krähenfall vorsichtig und berührte mit seiner Schnauze sanft das Ohr seines Bruders. „In Ordnung?" Lange sah Rabenherz seinem Bruder in die Augen. Sie brauchten keine Worte. Nach ein paar Herzschlägen blinzelte Rabenherz unsicher nickend seine Tränen weg und blickte auf seine Pfoten. „... okay.", flüsterte er. Es hörte sich falsch an.

Der HeideClan bog schließlich um die Ecke und versammelte sich bestürzt um das große, blutgetränkte Nest, wo Krummpelz mit scharfen, wachsamen Augen über Rauchwind wachte. Birkenstern blickte erstarrt auf seinen Freund hinab und neben ihm drehte Beerenglanz wimmernd ihren Kopf weg, um den Anblick nicht ertragen zu müssen. Der Anführer des MoorClans war zur Unkenntlichkeit entstellt. Er lag auf der Seite und die Bewegung seiner Flanken war so schwach, dass Rabenherz zweifelte, ob er überhaupt noch lebte. Etwas hatte den Kater vom Hals bis zum Hinterlauf aufgeschlitzt, sodass die unterschiedlichen Hautschichten und ein Teil der Rippenknochen sichtbar waren. Unablässig schwappte das Blut zähflüssig aus der riesigen Wunde. Auch sein Gesicht war blutüberströmt, da ihm das linke Ohr abgerissen worden war. Die Augen hatte der Kater halb geschlossen, als wäre er bereits tot. Aus dem geöffneten Maul rann ebenfalls Blut.

Wie hat er es hier hoch geschafft? Und warum ist er nicht schon tot? Rabenherz konnte nicht fassen, was er sah. Es war, als würde irgendjemand ihm beweisen wollen, dass – gerade wenn er dachte, es ginge nicht mehr schlimmer – es immer noch schlimmer ging.

Erst jetzt begriff er, welch Glück sie gehabt hatten, keinen größeren Biestern auf ihrem Weg begegnet zu sein. Der Wald musste von ihnen wimmeln. Welche Tiere waren so gewaltig, dass sie solche Wunden verursachen konnten?

„Krummpelz...", Birkenstern war sichtlich bemüht, seine Fassung zu bewahren. Seine Stimme zitterte. „Ich... Der HeideClan grüßt di-" „Was soll diese Formalität", knurrte der zweite Anführer bitter und warf dem jungen Kater einen finsteren, resignierten Blick zu. Dann richtete er sich an die anderen Katzen. „Ihr habt es tatsächlich hierher geschafft... Sieh an." Krummpelz musterte sie alle mehr mit Mitleid als mit Anerkennung. „Ich frage mich nur, warum."

Verwirrt und beinahe empört schnaubte Birkenstern. „Wir-" „Wir sitzen in der Falle. Sind praktisch schon erledigt. Nicht eine Katze ist so unverwundet, dass sie sich gegen einen weiteren Angriff wehren könnte." Seine Stimme klang anklagend, doch darunter lag eindeutig eine Verletzlichkeit, die der ruppige Alte nicht offenlegen wollten. Aber wie er seinen Clan mit leeren Augen musterte, glitzerte die Verzweiflung und Trauer deutlich unter der aufgesetzten Härte hervor. Rabenherz konnte die Last fast schon spüren, die dem ehemaligen Streuner auf den Schultern lastete. Er war nun das Oberhaupt eines Clans, dessen Schicksal besiegelt war.

„Angriff?", fragte Rabenherz vorsichtig nach. „Es sah so aus, als würden die Dämonen es nicht bis hier rauf schaffen..." Bitter knurrte Krummpelz „Sie nicht. Er schon." und kratzte sich an seiner breiten Narbe, die sich um seinen Hals schlang. Sie fiel nun unter all den neuen Verletzungen kaum noch auf. Der Kater war wie ein Schachbrett an Krallenspuren und Bisswunden. Efeudorn setzte sich aufrecht hin und schlug sorgfältig ihren Schweif um die Pfoten. „Wer ist er?" Bevor der zweite Anführer antwortete beschnupperte Krummpelz seinen Freund. Kurz sog er erschrocken die Luft ein und presste seine Pfote vorsichtig auf die Halsschlagader, die unter der aufgeschnittenen Haut offen lag, um zu spüren, ob noch ein Puls vorhanden war. Ohne die Pfote und Augen von seinem Anführer zu neben brummte Krummpelz: „Sieht aus wie eine riesige Schattenmaus. Das Viech ist so groß wie drei Katzen, die Flügel gar nicht mitgerechnet." Er fletschte die Zähne und spuckte giftig aus. „Ist hier aus dem Nichts aufgetaucht. Hat Rauchwind aufgeschlitzt, auf seinem Kopf herumgebissen und ist wieder weg. Und dreckig gelacht hat dieses Biest." Der Graugetigerte nahm die blutgetränkte Pfote wieder weg und zeigte mit einer ungenauen Bewegung auf eine silbergrau getigerte Katze, die gerade von der Heilerin Honigmaul mit nassem Moos gewaschen wurde. Ihre Hinterbeine waren stark verdreht und völlig zerfetzt und blutig. „Mondschwinge hat er an den Hinterbeinen gepackt und hin und her geschleudert, als würde er mit einem Moosball spielen..." Den Rest konnten sie sich selbst zusammenreimen. Irgendein Monster machte sich anscheinend einen Spaß daraus, den MoorClan Schritt für Schritt auseinanderzunehmen und das möglichst qualvoll und langsam zu tun. Und es war unnatürlich groß. Irgendetwas kam Rabenherz daran bekannt vor, doch ihm wollte nicht einfallen, was.

Also wieder nichts. Von wegen Rettung. Das ist eine Falle. Wow. Neben ihm sackte Krähenfall sichtlich zusammen und es tat Rabenherz im Herzen weh, das zu sehen.

Birkenstern war sichtlich ratlos, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sie konnten nicht nach unten, denn dort schlichen immer noch die von Verdammnis befallenen Tiere herum und stürzten sich auf alles, was lebte. Und hier oben waren sie dieser riesigen Schattenmaus ausgeliefert, womit er sicher die Lederflügel meinte, die Robin erwähnt hatte. Robin... Wo er wohl jetzt war? Sein Glaube an Akkar beschützte ihn zwar vor der Verdammnis, aber da Akkar tot war, war er genauso schutzlos auf der Flucht, wie alle Wesen, die nicht besessen waren und ein schlagendes Herz besaßen. Schnell verbot sich Rabenherz jeden weiteren Gedanken an seinen geflügelten Freund, sonst würde er gleich wieder weinen müssen.

„Was nun, Krummpelz?", fragte Birkenstern ratlos den Älteren, der nur knurrte, bereits wieder besorgt auf Rauchwind konzentriert. Bildete sich Rabenherz das nur ein, oder war das schwache Atmen noch langsamer geworden? „Tut was ihr wollt. Hier ist genug Platz und gemeinsam zerfleischt zu werden ist vielleicht besser als allein." Es war nicht einmal Sarkasmus in seinen Worten. Nur ehrliche Resignation. Birkenstern drehte sich zu seinem Clan um, wahrscheinlich in dem Bedürfnis eine Ansprache zu halten oder Anweisungen zu halten. Bis ihm auffiel, dass er weder das eine noch das andere überzeugend tun konnte. Seine Augen waren starr auf den Boden gerichtet. Rabenherz wollte laut aufschreien. Nicht auch noch Birkenstern! Er hatte immer an sie geglaubt. An seinen Clan. War voller Elan und Tatendrang, Weisheit und unerschöpfliche Zuversicht gewesen. Wenn nun auch noch Birkenstern aufgab... Da richtete sich Birkenstern nochmal zu seiner vollen Größe auf und brachte tatsächlich ein von Herzen gütiges Lächeln zustande. „Noch sind wir am Leben. Lasst uns das so lange wie möglich bleiben und denen helfen, die es noch schlimmer erwischt hat als uns." Er schüttelte den Kopf wie um die negativen Emotionen abzuschütteln. Das alte schelmische Blitzen kehrte in seine Augen zurück. „Lasst uns mit Würde leben. Und mit Würde sterben." Damit sprang er in weiten Sprüngen zu Honigmaul, um ihr neues Moos zum Waschen zu holen.

Seine Worte zeigten Wirkung. Die HeideClan-Katzen strafften die Schultern und suchten sich ihre Aufgaben. Schwarzpelz brachte Honigmaul seine Kräuter bevor er zu einer großen blaugrauen Kätzin sprang, die sich nahe des Hauptstammes zitternd mit völlig zerkratzten, blutenden Augenhöhlen in die Pflanzen gedrückt hatte. Beerenglanz wurde von ihrem Gefährten Glutsturm zu einem weichen Moospolster unter dichten Farnen geführt und kümmerte sich darum, dass die völlig erschöpfte Kätzin genug zu trinken bekam. Das Wasser kam langsam tropfend aus einem Loch im Hauptstamm. Essbares konnte Rabenherz nicht finden. Doch sein Magen schmerzte schon so lange, dass Rabenherz gar nicht mehr spürte, wie ihn der Hunger langsam aufzehrte. Efeudorn stützte Hagelschweif, der durch die Kämpfe auf dem Herweg am schwersten verwundet worden war und versuchte ihn bei Bewusstsein zu halten bis er in einer sicheren Astkuhle ruhen konnte. Der eigentlich am schwersten Verwundete war Rabenherz selbst. Er traute sich nicht einmal, sein Fell zu inspizieren. Noch pulsierte das Adrenalin ihrer Flucht auf den Baum in seinem Körper und unterdrückte einen Teil der Schmerzen seiner Wunden, und selbst jetzt konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Wie schlecht es um ihn stand, erklärte ihm dann auch sein Bruder und überredete ihn schließlich, sich ebenfalls einen Schlafplatz zu suchen und zum ersten Mal seit gefühlt ewiger Zeit wieder zu schlafen. Erst als Rabenherz eine kuschelige, saubere Vertiefung nahe des Hauptstammes gefunden hatte und sich zum Schlafen eingerollt hatte, war Krähenfall zufrieden und machte sich dann auf den Weg, den alten Graufuß, der sich noch immer von den Schlangenbissen und anderen Angriffen erholen musste, zu den Heilern zu bringen.

Bevor Rabenherz sich niederlegte, sah er sich noch einmal nach Moospfote um. Sie war nicht da. Wo war sie nur? Er wollte eine MoorClan-Katze fragen, doch die Erschöpfung lähmte seine Glieder. Es gab sicher eine gute Erklärung. Vielleicht war sie als einzige jagen, um den Clan zu versorgen... Das würde zu ihr passen.

Rabenherz sog langsam die halbwegs frische Luft ein, die im Moos eingeschlossen war. Er schloss die Augen und für einen Moment war es, als wäre er zurück in seinem Bau in der Heide. Mit Nesselpfote an seiner Seite und alles, was ihn sorgte, war ob Graufuß ihm wohl morgen eine Geschichte erzählen würde.

Nesselstreif... Warum musste ich dich verlieren? Schon wieder sammelte sich das Wasser in seinen geröteten Augen und er schniefte eilig. Du Idiot. Du kannst mich doch nicht einfach so verlassen... Mäusehirn... Da waren einfach zu viele Erinnerungen. All die Tage, an denen Nesselstreif sie beschützt hatte, als sie noch Junge waren und sein Bruder und er zu unterernährt waren. Er hatte gejagt, sie gepflegt und sie mit seinen Witzen zum Lachen gebracht. Später sind sie gemeinsam durch die Straßen getigert und hatten Hauskätzchen geärgert und ihr Futter gestohlen. Nun musste Rabenherz doch weinen. Er vergrub seine Schnauze tiefer in seinen eingeschlagenen Pfoten während ihm die Tränen die Schnauze hinabrannen und seine zugekniffenen Augen sie nicht aufhalten konnten.

„Du hast mich geweckt. Grüß den SternenClan von mir!"

Rabenherz war, als könnte er das warme Schlecken der Zunge seines besten Freundes spüren und die puffigen Pfoten auf seiner Brust.

„Stärker? Niemand ist stärker als ich!"

Nesselstreif hatte so lustig ausgesehen, als er von Moospfote erfahren hatte...

„Wow, Rabenpfote, hat dich Efeudorn wieder so hart rangenommen?"

Selbst wenn er ihn ärgern wollte, war er am Ende doch immer ehrlich daran interessiert gewesen, Rabenpfote glücklich zu sehen.

„Und? Wie oft habt ihr schon miteinander geredet?"

Nesselstreif wollte immer genauso stark und groß sein wie Moospfote...

Rabenherz!

Rabenherz stutzte. Hatte er gerade seinen eigenen Namen gedacht? Wie...

Rabenherz! Ich bin zurück!

Mit rasendem Herzen schlug er die Augen auf. Ein schwarzer Vogel landete vor seinen Pfoten. Die Federn zerrupft. Zwei weiße Flecken unter dem linken Auge.

Und eine blau pulsierende, in geheimnisvollen Runen verkleidete Musterung. 

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